Außer Atem: Das Berlinale Blog

Für einen Moment des Glücks: "Totém" von Lila Avilés (Wettbewerb)

Von Patrick Holzapfel
20.02.2023.

Ein Totem steht in vielen Naturvölkern für ein pflanzliches oder tierisches Wesen, das als Verwandter eine Familie repräsentiert, schützt und zusammenhält. Im Endeffekt beschreibt die mexikanische Filmemacherin Lila Avilés mit dem Titel ihres Films also dessen mystischen Auftrag. Es geht ihr um die Beschwörung einer familiären Kraft, die sich mit emotionaler Geborgenheit gegen die Vergänglichkeit stemmt.

Alles dreht sich um ein im großen Stil organisiertes Geburtstagsfest für den sterbenskranken Tona, einen Mann mittleren Alters, eigentlich in der Blüte seines Lebens, der kaum noch die Kraft findet, sein Zimmer zu verlassen. Der Film interessiert sich mit unverstellter Unmittelbarkeit für die alltägliche Hektik, das Chaos, den Aberglauben, die Spleens, die flüchtigen Momente der nähe zwischen den Mitgliedern der Familie, den Schwestern, Neffen und vor allem seiner Tochter und Ehefrau. Kuchen werden gebacken, Geister aus dem Haus vertrieben, heimlich Wein getrunken, Einkäufe erledigt, gestritten und geliebt. Das immerzu Ansprüche stellende Leben verhindert, dass die Figuren Zeit zum Nachdenken finden. Die Kinder wollen spielen, die Gäste feiern. Man kennt dieses Gefühl, nicht genug Zeit zu haben für die eigentlich wichtigen Dinge, und Avilés fängt die damit verbundene Atemlosigkeit mit einer rastlosen Handkamera vortrefflich ein.    

In den besten Augenblicken des Films spürt man die enorme Kraft, die alle aufwenden müssen, um einfach immer weiter zu werkeln, zu schaffen, während tief in ihnen eine unüberwindbare Trauer wächst. Dass es dabei auch mal absurd oder albern zugeht, lässt das eigentliche Gewicht des nahen Todes noch deutlicher hervortreten. So diskutieren die Familienmitglieder über die Möglichkeit einer Chemotherapie, während die Kinder einen Fisch in einen Wasserkrug kippen.  Lange Zeit hält "Totém" so eine atemlose Ambivalenz, in der alles und alle stets zerbrechen oder aufleuchten können.


Einzig die Tochter Sol (Naíma Sentíes, in einer sehr überzeugenden Darstellung kindlicher Verletzlichkeit) lässt sich nicht von der Betriebsamkeit und den Schmerz verdrängenden Geschäftigkeit ablenken. Sie möchte zu ihrem Vater, sie möchte, dass ihr Vater überlebt. Wiederholt erstarrt ihr Gesicht und ihr Blick schweift ab in eine Ahnung von dem, was ihr niemand sagen will. Sie beginnt zu verstehen, dass dies der letzte Geburtstag ihres Vaters sein wird. Leider nimmt sich der Film zu viele dieser nachdenklichen Momente, sodass sich die so gelungen eingefangene Alltäglichkeit, die durchaus an vergleichbare Filme von Maurice Pialat ("La gueule ouverte") oder Cristi Puiu ("Sieranevada") erinnert, nicht gegen den größer werdenden Sentimentalismus durchsetzen kann. Damit gliedert sich "Totém" auch ziemlich nahtlos ein in einen auf die Tränendrüsen des Publikums zielenden Wettbewerb.

Faszinierender erscheinen die zahlreichen Tiere, die in und um das Haus der Familie geistern. Durch sie erzeugt der Film eine Art kosmischen Zusammenhang zwischen allem Leben. Ein Netz wird sichtbar, in dem der Tod als Teil zyklischer Abläufe besiegt wird. Selbst wenn man nicht an Geister glaubt, beginnt man in den Katzen, Vögeln und Insekten jene Totems zu entdecken, die die Seele dieser Gemeinschaft ausmachen. Dabei fällt auf, dass nichts und niemand in diesem Film gleichgültig bleibt. Alle beziehen sich aufeinander und ineinander, selbst der mürrische Vater schenkt seinem Sohn am Ende noch einen selbstgepflanzten Baum. Auch die, die nicht mehr können, reißen sich zusammen für einen Moment des Glücks.

Man bekommt nicht nur bei diesem Film das Gefühl, dass die Empathie selbst derzeit zur Debatte steht. Sie wird mit großer, teilweise zu großer Leidenschaft verteidigt. Am Ende mutet das Familienkonstrukt und dessen Art, mit dem nahen Tod umzugehen, fast unglaubwürdig oder zumindest utopisch an. "Totém" legt sich wie ein Pflaster auf die Wunden, die der Film selbst öffnet. Was im Film wirkt, sind aber die Wunden, die trotz der Pflaster bleiben.

Patrick Holzapfel

Tótem. Regie: Lila Avilés. Mit Naíma Sentíes, Monserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Teresita Sánchez u.a., Mexiko / Dänemark / Frankreich 2023, 95 Minuten. Alle Vorführtermine.