Außer Atem: Das Berlinale Blog

Auf dem Narrenschiff: "Sur L'Adamant" von Nicolas Philibert (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
25.02.2023.

Die Adamant ist ein echtes Narrenschiff, ein wunderschönes Hausboot mit hölzernen Verschlägen, das an einem Quai der Seine mitten in Paris vor Anker liegt, im Schatten der Hochbahn und riesiger Platanen. Das Schiff dient mehreren psychiatrischen Krankenhäuser als Tagesklinik, sie ist das selten gewordene Beispiel einer zugewandten, offenen und freien Psychiatrie. Man kann nicht sagen, ob und wie die Patientinnen und Patienten hier therapeutisch behandelt werden, davon sehen wir nichts. Wir erleben, wie sie sich kreativ entfalten. Nicht in der Basteltherapie oder beim Gruppentanz, sondern richtig. Sie veranstalten Filmfestivals, für die sie Fellinis "Achteinhalb" und Truffauts "Amerikanische Nacht" auswählen. Sie schreiben Chansons über junge Männer in der Revolte, die von der Uni abhauen, um lieber mit Agnes Varda Filme zu drehen. Oder treten mit dem herrlichen Rocksong "La Bombe humaine" auf.

Sie diktieren ihre ersten poetischen Versuche: "Sein Blick scheint zu sagen, Doppelpunkt, Anführung, Umarme mich, Komma, Freund des Nichts, Ausrufezeichen, Abführung." Im Zeichenkurs präsentieren sie ihre Bilder: "Das ist ein Gesicht im Profil, naja, die Nase ist vielleicht etwas große geraten. Wie es heißen soll, das Bild? Ich nenne es: Der Zinken, der nicht hätte sein müssen."

Nicolas Philibert zeigt das Leben auf der Adamant, wie man es seit seiner Dokumentation "Sein und Haben" über eine Zwergschule in einem Dorf in der Auvergne von ihm gewohnt ist: Feinfühlig, intim, mit großer Zärtlichkeit. Dabei wird sein Blick nie von Wohlwollen getrübt. Er registriert genau die seelischen Schwankungen, die Einsamkeit, die Labilität und das Leiden, das sich in die kaputten Gesichter eingezeichnet hat. Geisteskranke haben keine Familie, seufzen sie, als wäre es ihre Schuld. Einer Frau wurde das Kind weggenommen, als es fünf Jahre alt war, ein Mann erzählt von seinen erfolgreichen Eltern: "Papa, habe ich gesagt, Dir ist alles gelungen, außer mir. Ohne Medikamente bin ich unerträglich, da halte ich mich für Jesus." Von einem Mann erfahren wir, dass er seit seit vierzig Jahren in der Psychiatrie steckt, ein anderer bereits in der dritten Generation. Eine Frau hat angeblich als Innenarchitektin für den saudischen König Fahd gearbeitet.

Es ist eine gehobene Klientel, die sich Tag für Tag auf der Adamant einfindet. Nicht immer wird klar, ob sie das Künstlerische erst hier aufgenommen haben, manche scheinen bereits zuvor das Klavierspielen, Malen oder Tanzen gelernt zu haben. Einige sprechen ausgesprochen sensibel und klug über die Arbeiten der anderen. Vielleicht sind manche auch an ihrer Kunst zerbrochen oder an ihrem Scheitern? Darüber erfahren wir nichts.

Wie ein Echo weht auch ein Zitat aus Margarethe von Trottas Ingeborg-Bachmann-Film herüber: "Wir sind da, um kreativ zu sein, das ist die heilige Wahrheit, alles andere ist unwichtig", beschwor Hans Werner Henze die Dichterin, um ihren verloschenen Lebensmut wieder zu entzünden.

Festivalleiter Carlo Chatrian hatte für den heute Abend zu Ende gehenden Wettbewerb ein Kino der Poesie angekündigt, aber dieses Versprechen nur teilweise eingelöst, ganz sicher mit den starken Filmen von Christian Petzold und Lila Avilés. Erkennbar war eine Intimität der Stoffe, ein Rückzug von der Welt, ein Besinnen auf das Eigene. Wahrscheinlich fordern hier die Jahre der Pandemie ihren Tribut. Ein Gefühl des Aufbruchs, des Umstürzenden ging von den Wettbewerbsfilmen nicht aus. Auch Philiberts Film bleibt ganz bei sich. "Sur L'Adamant" ist ein anrührender Film, voller Zärtlichkeit für den fragilen Menschen, vielleicht etwas zu klein für den Wettbewerb. Aber er ist eine schöne Erinnerung daran, dass sich Poesie nicht allein in den Gesichtern melancholischer Millennials finden lässt, sondern im innersten Kern des Menschen.

"Sur L'Adamant". Regie: Nicolas Philibert. Dokumentarfilm. Frankreich / Japan 2022. 109 Minuten. (Alle Termine)