Bücher der Saison

Romane

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.11.2021. Neal Stephenson führt uns ins Paradies 3.0, Roberto Bolano führt uns auf Eis, Jonathan Franzen an die Kreuzungen einer Familie in den Siebzigern, Marie Ndiaye in einen Psychoirrgarten, Emine Sevgi Özdamar ins Theater von Benno Besson.
Die Frankfurter Buchmesse fand dieses Jahr wieder physisch statt, wenn auch in reduzierter Form. Viele der ausländischen Verlage reisten gar nicht an, vom Gastland Kanada, das einen zweiten Anlauf wagte, haben wir nicht viel mitbekommen. Und doch blicken wir auf eine prall gefüllte Büchersaison zurück und reisen mit Romanen von Özdamar bis Franck, Krasznahorkai bis Ernaux, Franzen bis Bolaño und Kawakami bis Dangarembga einmal rund um den Globus. Erfreut stellen wir fest, dass offenbar wieder mehr übersetzt wird, auch wenn die deutschsprachige Literatur nach wie vor den Schwerpunkt der in den Zeitungen besprochenen Bücher bildet. Thematisch kreisen die AutorInnen einmal mehr um Identitäten und Vergangenheitsbewältigung, aber nicht nur: Wir tauchen ab ins russische Dissidentenmilieu, lesen vom Mobbing an einer japanischen Schule und erfahren, wie man eigenhändig ein abgelaufenes Grab aushebt.

Und falls Sie oft besprochene Titel vermissen: Einige der großen Romane der Saison, darunter Romane von Eva Menasse, Maxim Biller, Sally Rooney, Herve Le Tellier oder Ferdinand Schmalz haben wir bereits in unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate empfohlen. Noch ein Hinweis in eigener Sache: Unsere Bestelllinks führen auf eichendorff21, den Buchladen des Perlentauchers. Bestellen Sie dort und unterstützen Sie damit den Perlentaucher. Auch bei einer Bestellung über buecher.de bekommt der Perlentaucher eine Umsatzprovision!

Und jetzt: Bewusstseinserweiternde und beglückende Lektüre!



In acht Büchern um die Welt

Neal Stephenson zu lesen ist immer ein wilder Ritt durch unbekanntes Terrain. Am Ende ist man völlig zerschlagen und die Synapsen im Hirn feuern aus allen Rohren, als bestünde die Welt nur noch aus blinkenden Signalen. Doch Stephensons Erzählkunst hält einen immer aufrecht, während man in ein Universum unbekannter Größe blinzelt. In seinem Roman "Corvus" (bestellen) führt er uns in eine Art Paradies 3.0 namens Bitworld. Erbaut von einem Toten, dessen Hirn rechtzeitig digitalisiert wurde, um später ein Metaversum zu kreieren und darin weiterleben zu können (kommt Ihnen bekannt vor? Nun, von irgendwem muss Mark Zuckerberg ja seine Ideen haben). Im "Meatspace", das ist die reale Welt, teilt sich derweil Amerika: In dem einen Teil kann man als wohlhabender Mensch die Realität filtern und umschreiben, im anderen ist man ihr ungefiltert ausgesetzt, inklusive Strömen von Pornos, Propaganda und Todesdrohungen, die algorithmisch erzeugt wurden. Diese beiden Welten, schreibt ein erschlagener, aber glücklicher Charles Yu in der New York Times, "sind in einer Rückkopplungsschleife von Ursache und Wirkung, Ressourcen und Ergebnissen (Dollar, Rechenleistung) miteinander verbunden". Imaginieren Sie dazu noch so viele Details wie in "Krieg und Frieden", Sex und David Deutsch, dann bekommen Sie ungefähr eine Vorstellung. In der deutschen Presse hat das Buch bisher nur Dietmar Dath für die FAZ rezensiert: Er versteht es als "ein Bekenntnis zur Unfertigkeit von Menschen- und Weltbeziehungen überhaupt, die sich ihre Sinne und ihren Sinn suchen müssen - sehr klug, sehr wahr und überaus politisch". Wer Stephenson vor seiner 1000-Seiten-Minimum-Periode kennenlernen will, dem sei "Snow Crash" (bestellen), im Original 1992 erschienen, ans Herz gelegt, den der Fischer Verlag neu übersetzt wiederaufgelegt hat. Ein exzellenter Einstieg ins Stephenson-Universum.

Roberto Bolaño muss ein Wiedergänger sein. Anders ist kaum zu erklären, dass lange nach seinem Tod immer wieder neue, wunderbare Texte von ihm erscheinen, wie ein verdutzter Richard Kämmerlings in der Welt feststellt. "Die Eisbahn" (bestellen), einer der frühen Bolaño-Romane, ist eine düstere Studie über die Macht der Schönheit, des Verlangens und der Poesie, wie sie sich manifestiert in der Liebe dreier wenig sympathischer Männer zu einer Eiskunstläuferin, so Kämmerlings, ausgerechnet in der katalanischen Provinz. Die bedrohliche Atmosphäre der Geschichte, der Noir-Touch - für den Kritiker die untrüglichen Markenzeichen eines echten Bolaños. Vielleicht nicht Bolaños wildester Roman, meint Maike Albath in der SZ, dennoch deute sich vieles in dieser eigenwilligen, herrlich schwungvoll erzählten Mixtur aus "Thriller, Gaunerkomödie und Milieustudie" bereits an: Drei junge Literatur-Enthusiasten erzählen abwechselnd aus ihrer Perspektive, in ihrem jeweils ganz eigenen Tonfall, alle drei gehen "aufs Ganze" - im Leben und vor allem: in der Liebe.

Der neue Jonathan Franzen ist natürlich eines der Großereignisse dieser Saison - auch wenn "Crossroads" (bestellen) die Kritiker in zwei Lager spaltet. Im ersten Teil seiner auf drei Bände angelegten Geschichte führt uns Franzen in einen Vorort Chicagos in den Siebzigern und an den Weihnachtstisch einer Pastorenfamilie: Vater Russ knabbert an seinem Bedeutungsverlust, seit in seiner Gemeinde ein charismatischer jüngerer Pfarrer enormen Erfolg mit der frisch gegründeten Jugendgruppe "Crossroads" hat. Russ ist plötzlich sehr altmodisch, ein Gefühl, über das auch ein Seitensprung ihm nicht hinweg hilft. Auch die anderen Familienmitglieder packen nach und nach ihre heimlichen Lüste und Konflikte aus. Für NZZ-Kritiker Manuel Müller ist schon der erste Band eine "Wucht": Wie Franzen im Mikrokosmos der Familie die Befreiung, die Zeitenwende im Amerika der Sechziger und Siebziger skizziert, samt Drogen, Atheismus, neuen Beziehungsmodellen, aber auch der Zerstörung von alten Gewissheiten, findet Müller einfach brillant. Der überwältigte Zeit-Kritiker Adam Soboczynski lernt, wie sich der protestantische Gottglaube in die säkularisierten Identitätsdiskurse von heute verwandelte, FR-Kritikerin Cornelia Geißler erfreut sich an Witz und böser Ironie des Romans. Doch nicht alle Kritiker sind so hingerissen: In der FAZ stört sich Paul Ingendaay an einer Weitschweifigkeit im Detail, und im Dlf Kultur ist Sigrid Löffler genervt, wenn Franzen den großen Scheinwerfer auf Sünden wirft, die ihr banal erscheinen.

Im vergangenen Jahr wurde Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier" über die Nöte der postmodernen japanischen Frau von der Kritik gefeiert, nun liegt ihr Roman "Heaven" (bestellen) auf Deutsch vor - und Dlf-Kritiker Samuel Hamen ist hingerissen: Erzählt wird von zwei japanischen Schülern, die eingesperrt, geschlagen und gedemütigt werden und gemeinsam und getrennt voneinander nach Überlebensstrategien suchen: Kojima entwickelt das "Konzept des grazilen Opfertums", der Erzähler konfrontiert indes einen seiner Peiniger. Aber Kawakami gewährt ihren beiden Helden keine "Schutzzonen", dafür ist die Autorin zu "unsentimental", verrät Samen, der den beiden Hauptfiguren ganz nahe kommt und dem Buch neue Perspektiven verdankt. Dieser Roman ist voller meisterhafter Schilderungen von Gewalt, Szenen sinnlosen Mobbings, die so scharf sind, dass man den Schmerz fast selbst spüren kann, schreibt Nadja Spiegelman, die in der New York Times vor allem das atemberaubende Ende lobt.

Noch zwei besondere Bücher erreichen uns diese Saison aus Japan: In neuer Übersetzung und schöner Aufmachung liegt Shichiro Fukazawas Roman "Die Narayama-Lieder" (bestellen) von 1955 vor, der FAZ-Kritikerin Kerstin Holm wie ein Geschenk aus einer anderen Welt erscheint. Fukazawa erzählt von einer Bergregion und dem dort gepflegten Ritus, der alte Menschen zum Sterben auf einen heiligen Berg beordert. Sie folgt der Hauptfigur, der 69-jährigen Orin, bei ihrem letzten Gang, lernt die Lieder und Sozialstrukturen ihres Dorfes kennen und die Stationen des Aufstiegs bis in den Bezirk der Toten. Hiromi Ito ist seit den Siebzigern für ihre Performances und feministischen Werke bekannt, seit den Neunzigern lebt sie mit ihrem Mann, einem englischen Künstler, in Kalifornien. Nun liegt ihr 2007 im Original erschienener, autobiografisch geprägter Roman "Der Dornauszieher" (bestellen) auf Deutsch vor. Wie die Autorin "westlich-männlich-rationale" Welt und "weiblich-spirituell-schamanisches Universum" gegeneinanderschneidet, während ihre Heldin wie ein "Wandermönch" herumjettet, findet Steffen Gnam in der FAZ beeindruckend: Brillant, wie Ito No-Theater, Ozu-Filme oder Euripides' "Bacchantinnen", Alltägliches und Surreales miteinander verknüpft, lobt er. "Es ist ein Text zum Niederknien, von einer einzigartigen Heftigkeit und Unmittelbarkeit. Es ist ein asiatisches Denken, dem wir hier begegnen und zeigt dabei gleichzeitig ein globales Daseinsgefühl von heute", schwärmt Annemarie Stoltenberg im NDR.

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ging an die simbabwische Autorin, Filmemacherin und Aktivistin Tsitsi Dangarembga: Ihre dreißig Jahre umspannende Trilogie - "Aufbrechen" (bestellen) ist der erste Band, der zweite ist auf Deutsch noch nicht erschienen, der dritte heißt "Überleben" (bestellen) - haben wir bereits in unserem Bücherbrief des Monats Oktober empfohlen. Es gilt, "nicht nur eine literarische Autorin zu entdecken, sondern auch eine politische Stimme", schrieb Perlentaucherin Thekla Dannenberg in ihrer Kolumne "Wo wir nicht sind". Sie liest die Bücher als schonungsloses Dokument einer weiblichen Emanzipation und als Geschichte eines Landes, das erst die Demütigung des Kolonialismus erlebte, dann die Unabhängigkeit und bald die zerstörten Hoffnungen unter Robert Mugabe. Gelobt wurde auch Chimamanda Ngozi Adichies schmaler Band "Trauer ist das Glück, geliebt zu haben" (bestellen), den die nigerianische Autorin ihrem im Corona-Jahr verstorbenen Vater widmete. Klug und berührend nennt Manuela Reichart im Dlf Kultur das Buch, in dem Adichie Erinnerungen an ihre Kindheit Revue passieren lässt, die Bestattungskultur der Igbo schildert, mit den kaum tröstlichen Zoom-Sitzungen einer global verstreuten Familie hadert und an der nigerianischen Bürokratie verzweifelt. Von Tod und Trauer erzähle die Autorin völlig ohne Rührseligkeit, dafür mit genau der richtigen Mischung aus persönlicher, intellektueller und praktischer Betrachtung, lobt Nora Reinhardt in der SZ.


Quer durch Europa

Mit ihrem neuen Roman "Die Rache ist mein" (bestellen) erzählt Marie NDiaye die Geschichte der Anwältin Susane, die eine Mutter vertritt, die ihre Kinder tötete und mit deren Mann Susane ein dunkles Geheimnis teilt. Zu den Hauptfiguren gehört auch Sharon, Susanes illegale Haushaltshilfe, mit der sie eine eigenartige Abhängigkeitsbeziehung verbindet. Jörg Plath liest den Roman in Dlf Kultur auch als Aufstiegsgeschichte à la Eribon, nur dass die Autorin daraus eine "Krankengeschichte moderner Subjektivität" mache. Und dass sie die Motive im Text zu einem wahren "Psychoirrgarten" verdichtet, findet er so virtuos wie beunruhigend. In der FAZ attestiert Lena Bopp dem Roman eine krimiartige Spannung, und in der NZZ bewundert Roman Bucheli die "empathische Kaltblütigkeit" von NDiaye, dieser "Spezialistin für den subtilen Schauerroman".

 In der Zeit lobt Iris Radisch, wie die Autorin die "archaischen Leidenschaften und Ekstasen" ihrer Figuren in sich "elegant auftürmende französische Satzperioden" packt.

Laszlos Krasznahorkais neuer Roman "Herscht 07769" (bestellen) birgt einige Überraschungen: Er spielt in Thüringen - und er besteht aus einem Satz, der sich über vierhundert Seiten erstreckt. Schon deshalb gebührt Übersetzerin Heike Flemming ein eigener Preis, findet SZ-Kritiker Cornelius Pollmer. Er bewundert die "fiebrige Transzendenz" des Textes und empfiehlt den Roman als treffende Zeitdiagnose: denn Krasznahorkai erzählt die Geschichte des einfältigen Florian Herscht, der in einem Heim in einem fiktiven Örtchen unweit von Jena aufwächst, vom "Boss", dem Dorfnazi mit Gebäudereinigungsfirma aus dem Heim geholt wird, sich als Schwarzarbeiter, Bäckerlehrling und in der Volkshochschule durchschlägt und sich nach Liebe sehnt. Dlf-Kritiker Jörg Plath bemerkt die fehlenden Punkte gar nicht, während er dem Mix aus Horror und mystischer Fantasy, Angst und Drastik erliegt. In der Zeit ist David Hugendick hingerissen von Virtuosität und dem Witz dieses "brueghelhaften" Wimmelbildes. Ergänzend zu Krasznarhokais ungarischem Blick auf das Deutschland der Gegenwart empfehlen sich die unter dem Titel "Deutscher Herbst" (bestellen) versammelten Reportagen des schwedischen Journalisten Stig Dagerman, der im Jahre 1946 im Auftrag der schwedischen Zeitung Expressen durch die Ruinenlandschaft der Nachkriegszeit reiste. Dystopisch scheint dem FAZ-Rezensenten Jochen Schimmang, was Dagerman über zerstörte Städte und die "tote Seelen" vor allem der jungen Menschen in den Ruinen schreibt. Dagermans Berichte von den Entnazifizierungsverfahren gegen Gewerkschafter und Blockwarte, über Ostflüchtlinge und das Leben im Keller jagen ihm kalte Schauer über den Rücken. In der SZ lobt Sophie Wennerscheid zudem den unvoreingenommenen, präzisen Blick des Autors.

Zwei autofiktionale Romane großer Französinnen bietet diese Saison: Im vergangenen Jahr auf Französisch, nun auch auf Deutsch erstmals publiziert ist Simone de Beauvoirs früher Roman "Die Unzertrennlichen" (bestellen) aus dem Jahre 1954. Welt-Kritikerin Mara Delius liest die Geschichte von  Beauvoirs inniger Beziehung zu Elisabeth Lacoin nicht unbedingt als lesbische Literatur, sondern vielmehr als Zeugnis einer literarischen Kraft, die sich in dieser spezifisch weiblichen Autofiktion vor allem dann zeigt, wenn die Autorin von der Unerreichbarkeit der Freundin berichtet. Vor allem fügt das Buch dem Bild der Beauvoir eine neue Nuance hinzu, meint sie. Dlf-Kultur-Kritiker Dirk Fuhrig erkennt in der Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Repressionen des bürgerlichen Konservatismus und des autoritären Katholizismus der 1920er den Ursprung für Beauvoirs Feminismus. Kennt man schon alles aus der Autobiografie der Autorin, winkt hingegen Claudia Mäder in der NZZ ab. Ins rigide Frankreich der Sechziger führt uns derweil Annie Ernauxs bereits im Jahr 2000 auf Französisch erschienener Roman "Das Ereignis" (bestellen), in dem sie uns von ihrer ungewollten Schwangerschaft erzählt, von Versuchen, den Fötus mit der Stricknadel abzutreiben, von demütigenden Arztbesuchen und schließlich vom Abort auf der Toilette des Studentenwohnheims. In der SZ muss Meike Fessmann zwar ganz schön schlucken, attestiert dem Buch aber auch eine besondere "Schönheit" und eine Mischung aus "Nouvelle Vague und Nouveau Roman". Ein Buch, das bei allem Verzicht auf Sentimentalität mit enormer Schlagkraft trifft - und heute wieder "hochaktuell" ist, meint Edelgard Abenstein im Dlf Kultur.

Hingewiesen sei außerdem auf drei weitere europäische Romane, die zwar wenig, aber hymnisch besprochen wurden und die uns aufgefallen sind, weil sie einen Blick in unbekanntes Terrain gewähren: In ihrem Roman "Dafuq" (bestellen) führt uns die russische Journalistin und Pressesprecherin von Alexej Nawalny, Kira Jarmysch anhand von sechs Frauen ins russische Dissidentenmilieu. taz-Kritikerin Katharina Granzin entdeckt in diesem "klarsichtigen", amüsanten Gesellschaftsstück viele farbenfrohe Charaktere, auch Dlf-Rezensentin Melanie Weidemüller lässt sich von dem Text mitreißen und lernt ganz neben allerhand über russische Verhältnisse. In ihrem autofiktionalen Roman "Verfluchte Misteln" (bestellen) erzählt uns Natasa Kramberger von einer slowenischen Schriftstellerin und Ökobauerin, die in Berlin gegen Investoren und in Slowenien gegen Misteln, Frost und  Bürokraten ankämpft. Nie konventionell, sondern fragmentarisch, rhythmisch, magisch und mythologisch, wie Jörg Plath im Dlf Kultur versichert, der das Buch für ein kleines Kunstwerk hält. Die französische Autorin Nina Bouraoui nennt Dlf-Kritikerin Dina Netz gleich in einem Atemzug mit Annie Ernaux und Marguerite Duras: Wenn ihr Bouraoui in "Geiseln" (bestellen) von der 53jährigen Sylvie erzählt, die von ihrem Chef zur Überwachung ihrer Mitarbeiter gezwungen wird und diesen in einem persönlichen "Befreiungsschlag" eine Nacht lang mit einem Küchenmesser bedroht, bewundert Netz die "karge" Sprache und die rhythmischen Sätze, mit denen Bouraoui Themen wie Kapitalismuskritik, Vergewaltigung, MeToo und Befreiung anpackt.


Aus nächster Nähe

Sie ist der heimliche Star der Saison: Als Emine Sevgi Özdamar anfing Romane zu schreiben, sprach noch niemand von "migrantischer Literatur", erst in der Folge ihres längst zum "Klassikerkanon" gehörenden Werks machten sich viele AutorInnen daran, über das Leben zwischen den Kulturen zu schreiben, erinnert uns Ursula März in der Zeit. Sie verfällt in diesem "kolossalen Prosagemälde" sofort wieder dem Özdamar-Sound, einer Mischung aus nüchterner Dokumentation und Magie. Überhaupt fallen die Kritiker reihenweise auf die Knie vor Özdamars viertem Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum" (bestellen), der für Marie Schmidt in der SZ nicht weniger ist als "ein Sturm, die Summe eines Lebens, wirklich ein Divan". Die in der Türkei geborene Autorin erzählt, wie sie als junge Schauspielerin die Türkei nach dem Militärputsch von 1971 verlässt und in Berlin, Paris, Bochum oder Frankfurt mit Regisseuren wie Benno Besson oder Claus Peymann arbeitete. Dennoch handelt es sich keineswegs um eine Autobiografie, viel zu unbegrenzt ist die dichterische Freiheit, versichert in der FAZ Fridtjof Küchemann. Im Dlf Kultur bewundert Helmut Böttiger vor allem, wie Özdamar immer wieder die repressiven Verhältnisse in der Türkei ihrem Leben im Westen gegenüberstellt. Den Dlf-Kritiker Christoph Schröder stören einige Längen, aber Atmosphäre und transkulturelles Lebensgefühl kann sie, gibt er zu.

Noch ein Comeback: Julia Franck ist zurück mit der Autofiktion "Welten auseinander" (bestellen). Sie erzählt vom Aufwachsen in prekären Verhältnissen im Ostberliner Künstlermilieu, von der Flucht nach Westberlin, von Scham und vom plötzlichen Tod ihres Jugendfreundes Stephan. Für taz-Kritikerin Anke Dörsam laufen hier alle Fäden ihrer vorherigen Veröffentlichungen zusammen, für den Zeit-Kritiker Burkhard Müller hat Franck mit diesem Buch gar ihre "Form" gefunden: Dieser Ton, so natürlich und lebhaft, ganz ohne Pathos und Ironie, sucht unter den gegenwärtigen deutschen Romanen seinesgleichen, jubelt er. Etwas pathetisch manchmal, findet im Dlf Eberhard Falcke, aber auch ganz schön tapfer. Dass es Jenny Erpenbecks neuer Roman "Kairos" (bestellen) nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, hat Judith von Sternburg in der FR geradezu "verstört" - so imposant findet sie diesen "großen Roman", der von der toxischen Beziehung zwischen dem fünfzigjährigen Sozialisten Hans mit der zwanzigjährigen Studentin Katharina erzählt und der sich langsam verändernden Situation in der kollabierenden DDR. Wie Erpenbeck das Ostberlin der Vorwendezeit atmosphärisch einfängt und wie sie eine bekannte Beziehungskonstellation mit frischen Bildern ausgestaltet, das ist von allgemeiner Gültigkeit, lobt auch Elena Witzeck in der FAZ.

Hauptfigur in Najem Walis Roman "Soad und das Militär" (bestellen) ist die - reale - ägyptische Schauspielerin und Sängerin Soad Hosny, die 2001 vom Balkon einer Freundin in London zu Tode stürzte. Laut FAZ-Kritikerin Lena Bopp schildert Wali, im Irak geboren, seit den Achtzigern im deutschen Exil lebend und in Ägypten auf dem Index stehend, in gekonnter Verbindung von Fakten und Fiktion, wie die Künstlerin vor allem zwischen 1960 bis 1990 vom ägyptischen Staat und Geheimdienst instrumentalisiert wurde. Das Erzählkonzept Walis überzeugt sie nicht ganz, aber ihr Interesse an Hosny ist unzweifelhaft geweckt. Vom Leben zwischen den Geschlechtern erzählt Irene Dische in ihrem neuen Roman "Die militante Madonna" (bestellen). Amüsiert folgen Elke Schlinsog im Dlf Kultur und Lerke von Saalfeld in der FAZ dem turbulenten Leben des Chevalier d'Èon, der im 18. Jahrhundert unter anderem als Diplomat, Agent und Fechter auf die Geschlechterrollen pfiff und sowohl als Mann wie auch als Frau auftrat. Für Saalfeld ist der Roman ein "fulminantes Leseabenteuer" und ein wunderbarer Beitrag zur aktuellen "Gender-Hysterie". In der SZ dagegen ärgert sich Hanna Engelmeier, wie Dische ihr unter die Nase reibt, dass das 21. Jahrhundert den Geschlechterwechsel weiß Gott nicht erfunden hat und schon mal souveräner damit umgegangen ist. Reine Ideologie, findet Engelmeier.

Die Politsatire zur Stunde scheint "Salonfähig" (bestellen) zu sein, das Romandebüt des Österreichers Elias Hirschl. Für NZZ-Kritiker Paul Jandl bringt Hirschl den Politikertypus Sebastian Kurz - smart, schwiegersohntauglich, kontrolliert und optimiert für den Machterhalt - auf den Punkt. Der Autor hat den Bogen raus, wie man Originalzitate gerade nur so weit satirisch abwandelt, dass sie immer noch "wie Originale klingen", lobt Jandl. Auch SZ-Kritikerin Cathrin Kahlweit taucht genussvoll ein in das "ÖVP-Biotop". In ein "Bergwerk" menschlicher Abgründe fährt derweil Jörg Magenau mit den unter dem Titel "Stäube" (bestellen) versammelten Texten von Clemens Meyer. Meyers Sinn für das Abgründige wie für das Randständige zeichnet die Geschichten laut SZ-Rezensent ebenso aus wie die Fähigkeit des Autors, mit wenigen Strichen ganz unsentimental die traurigste Atmosphäre zu schaffen, und die Figuren dabei nie zu verraten.

Der Deutsche Buchpreis ging in diesem Jahr an Antje Ravik Strubel mit ihrem Roman "Blaue Frau" (bestellen). Die Flucht einer jungen Tschechin vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung schildert Strubel "mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision", lobte die Jury. Der Roman ist "ein Ost-West Roman, ein Europaroman, eine Geschichte über Machtmissbrauch, meisterhaft in der Verflechtung der Handlungsstränge und in der atmosphärischen Darstellung finnischer Landschaft", heißt es weiter. Auch in den Zeitungen wurde der Roman gut besprochen, aber so richtig schlau wurde man daraus nicht. Viel Lob ging an die Konstruktion des Romans und das Formbewusstsein der Autorin. "Am eindrucksvollsten wird Rávik Strubels erzählerische Kunst, wenn sie mit Überblendungen und Doppelbelichtungen arbeitet, Konturen verschwimmen lässt und sich die Raum-Zeit-Koordinaten auflösen", resümiert Maike Albath in der SZ. Sehr gut besprochen wurde auch Sasha Marianna Salzmanns zweiter Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" (bestellen), der die Geschichte dreier Frauen aus der Ukraine über fast viereinhalb Jahrzehnte erzählt. Dlf-Kultur-Kritikerin Maike Albath hat selten jemand so schön vom Schmerz erzählen hören und in der FAZ lobt Andreas Platthaus den originellen, unpathetischen Blick der Autorin. Hingewiesen sei auch auf Bov Bjergs Debütroman "Deadline" (bestellen), der bei seinem Erscheinen damals durchfiel. Bizarr, meint Alex Rühle in der SZ, denn die Geschichte um die übergewichtige Übersetzerin Paula, die in ihre Provinzheimat zurückkehrt, um das abgelaufene Grab ihres Vaters ausheben zu lassen, gehört für den Kritiker mit zum Komischsten, was die zeitgenössische Literatur zumindest in ihrer dunklen Spielart zu bieten hat.