Efeu - Die Kulturrundschau

Glück ist schlecht

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18.01.2019. Die Musikkritiker feiern mit James Blake Leib und Äther. In der Zeit erinnert sich Claus Peymann an Einar Schleefs Furor, der auch mal blutige Wunden schlagen konnte. Die Filmkritiker loben die Integrität von Nadine Labakis libanesischem Straßenkinder-Drama "Capernaum". Die Möbeldesign-Branche ist männlich dominiert und auch ansonsten ziemlich gestrig, stellen SZ und Zeitmagazin fest. Und Hyperallergic staunt über Jean Jacques Lequeus protosurrealistische Architekturzeichnungen von Genitalien. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2019 finden Sie hier

Musik

"James Blake hat sich gegen die Düsternis entschieden", freut sich Diviam Hoffmann in der taz nach dem Durchhören von Blakes neuem Album "Assume Form": Noch vor zwei Jahren hatte der Anfang des Jahrzehnts für seine Pionierarbeit in Sachen digital-analoger Verschmelzung gefeierte Musiker ein depressives Album vorgelegt, von dessen Schatten er sich nun offenbar weitgehend losgelöst hat. Ähnlich freut sich Jens Balzer in der Zeit über dieses "lichtdurchflutete, heitere und kalifornische" Album, das ihn mutmaßen lässt, ob die Beach Boys als Cyborgs wiederauferstanden sind. Es "wechseln nicht nur die Zustände und Stimmungen, sondern auch die Glücksversprechen und Utopien: die Feier des Leibs und jene des Äthers, die Sehnsucht nach Form und jene nach Formlosigkeit. ... James Blake hat uns einen Liederzyklus geschenkt, an dessen Ende man selbst nicht mehr weiß, was man möchte - einen Körper besitzen oder doch lieber nicht? -, aber dieser Zustand macht einen froh."


 
"Glück ist schlecht", schreibt derweil Juliane Liebert in der SZ und sieht das alles etwas differenzierter: Schön findet sie, wie "extrem sensibel die Musik für die Körperlichkeit von Geräuschen ist. Das Sounddesign ist detailverliebt, aber immer fokussiert." Insgesamt wirke diese perfekte "Mischung aus britischer Elektrodüsternis und Internetsoul ist" allerdings "aber auch ausgereizt. Wenn er nicht in Schönheit ertrinken will, müsste er sich irgendwann doch noch mal neu erfinden. Sonst könnte es ihm passieren, dass er bald das 'Ti Amo' des identitätsgrübeligen Digitalzeitalters schreibt."

Weitere Artikel: Ulrich Amling würdigt im Tagesspiegel Rebecca Saunders, die in diesem Jahr den Siemens-Musikpreis erhält (mehr dazu hier). Dlf Kultur hat sich mit der Komponistin unterhalten. Julia Bähr sucht in der FAZ Gründe dafür, warum der Toto-Song "Africa" von 1982 sich seit 2017 im Internet immenser Popularität erfreut (auf Youtube geht das Stück straff auf eine halbe Milliarde Plays zu). Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Musikvermittler Rüdiger Trantow. Außerdem weist der Standard darauf hin, dass die Killers mit "Land of the Free" einen Protestsong gegen Donald Trump veröffentlicht haben. Das Video dazu stammt von Spike Lee:



Besprochen werden ein Konzert des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi, von dem NZZ-Kritiker Christian Wildhagen höchst euphorisch nach Hause geht, Nkisis Album "7 Directions" (taz), das neue Album der Delines (SZ), Marc Ribots "Songs of Resistance" (Presse), Daniel Knox' "Chasescene" (Standard), Bad Bunnys Debütalbum (Presse), eine Harmonia-Mundi-Edition von Debussy (Presse), Michael Wollnys Auftritt beim Bauhaus-Festival in Berlin (Tagesspiegel) und Mnevis' Album "Episodes" (NZZ).
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Bühne

In der Zeit erinnert sich Claus Peymann an seinen "Schützling" und Widersacher Einar Schleef, der Vertragsverhandlungen auch gern mal im Schwimmbad führte. "Auf den Proben agierte er oft am Rande des Noch-Erlaubten. Es gab Situationen, in denen ich mich fragte, ob ich das als Direktor jetzt noch zulassen kann: diese Art von Erniedrigung, die er bei den Schauspielern - und auch anderen Mitarbeitern - auslöste. Wobei seine Fantasie, seine Energie und die Auflösung des eigenen Ichs in seiner Suche und Sehnsucht nach dem 'Gral' einer Theateraufführung am Ende wieder alle überzeugten und mitrissen. Es entstand ein sonst kaum erlebter Sog, fast eine Hypnose. Diese Art von Furor kann blutige Wunden schlagen, auf allen Seiten. Die Proben waren kluge, mitreißende, faszinierende, einem alles abfordernde Anstrengungen, aber eben auch verletzende Kämpfe und Schlachten." Die Nachtkritik hat Fabian Hinrichs Rede zu Einar Schleefs 75. Geburtstag bei der Veranstaltung "Erinnern ist Arbeit" im Berliner Hebbel am Ufer online nachgereicht.

Weitere Artikel: Von einem Streit zwischen Florian Lutz, dem Intendanten der mit 40 Millionen Euro subventionierten örtlichen Bühnen in Halle an der Saale und Stefan Rosinski, dem Geschäftsführer der Hallenser Kulturholding, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. In der FAZ-Serie "Spielplan-Änderung", die Stücke vorstellt, die wieder gespielt werden sollten, empfiehlt Daniel Kehlmann George Bernhard Shaws "Heilige Johanna"

Besprochen wird Benedikt von Peters "Don Giovanni" in Luzern (SZ) und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" am Pariser Theatre de la Ville und Christoph Honorés "Les Idoles" am Theater Odeon, die Joseph Haniman in der SZ vor dem Hintergrund der Gelbwesten-Proteste sieht.
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Film

Auf Augenhöhe: Nadine Labakis "Capernaum"
Nadine Labakis libanesisches Straßenkinder-Drama "Capernaum" ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, berichten die Feuilletons. Aus 500 Stunden Filmmaterial wurde in zwei Jahren Schnitt eine Form gefunden, in Cannes gab es den Preis der Jury, jetzt geht es für den Oscar ins Rennen. Herausgekommen ist eine "Mischung aus hartem, dokumentarischem Realismus und, ja, Feel Good Movie", erklärt Anke Sterneborg auf ZeitOnline. Insbesondere der zwölfjährige Laiendarsteller Zain Al Rafeea hat sie fasziniert: Er "trägt im Wesentlichen seine eigene Lebenserfahrung in den Film. Er ist ein syrischer Flüchtling, der mit drei Geschwistern und Eltern vor acht Jahren in den Libanon kam, in einer sehr armen Gegend lebte, nie zur Schule ging und seine Familie mit kleinen Botenjobs unterstützte. Die Casting-Frau hat ihn direkt von der Straße wegengagiert. ... Die starke, widerspenstige Persönlichkeit dieses Jungen ist das Kraftzentrum des Films, ein Glücksfall."

Im Tagesspiegel ist Christiane Peitz zunächst skeptisch angesichts der Überwältigungsmittel, die der Film einsetzt - ein Hauch von Relotius, Würger und Menasse? Mitnichten, denn "'Capernaum' bleibt integer, trotz der großen Kinderaugen. Schon weil die Kamera nur selten die Vogelperspektive einnimmt und sich lieber in den staubigen Straßen bewegt, auf Augenhöhe mit dem vielleicht zwölfjährigen Helden. Sie ist so unruhig, so überfordert, so atemlos wie Zain." Hannah Pilarczyk hat sich für SpOn mit der Regisseurin zum Gespräch getroffen. Susanne Burg hat für Dlf Kultur mit Kameramann Christopher Aoun und Cutter Konstantin Block gesprochen.

Weitere Artikel: Michael Haneke hat seine Drehbücher in gebundener Form veröffentlicht: Für die SZ hat sich Philipp Stadelmaier mit dem Regisseur zum Gespräch getroffen, Sandra Kegel hat für die FAZ die Buchpräsentation im Filmmusuem Frankfurt besucht.

Besprochen werden Josie Rourkes "Maria Stuart" (Standard, Presse, mehr dazu hier), M. Night Shyamalans "Glass" (Welt), Jonas Åkerlunds "Lords of Chaos" (taz), Sudabeh Mortezais "Joy" (Presse), Jason Reitmans "Der Spitzenkandidat" (Tagesspiegel, FAZ). Houchang Allahyaris' Dokumentarfilm "Ute Bock Superstar" (Standard) und "Manhattan Queen" mit Jennifer Lopez (Tagesspiegel).
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Design

Die Möbelmesse Köln präsentierte sich im Bauhaus-Jahr so farbenprächtig wie lange nicht mehr, berichtet Max Scharnigg in der SZ. Vor allem aber fiel ihm eine "allgemeine Retrovertiertheit" auf: "Schöner Wohnen ist bei den Marktführern mittlerweile eine eher sentimentale Disziplin. Dazu tragen die immer noch allgegenwärtigen Zutaten Marmor und Samt bei, die in Tateinheit jedem Appartement gleich eine internationale Edelreife verpassen. Aber auch die Mid-Century-Referenzen bei Sofa- und Sesselformen oder die Tendenz, Oberflächen wieder mit Leder oder sonstigen Weichmachern zu beziehen, führt zu diesem Eindruck: Alles gediegen, gedämpft, gestrig. ... Den eigentlichen Bauhausgedanken, das Infragestellen gewohnter Formensprachen und Erforschen neuer Materialien, verfolgte fast keiner der großen Hersteller."

Episch ausufernd: Tillmann Prüfer und Claire Beermann haben für das ZeitMagazin Möbeldesignerinnen aus aller Welt in ihren Ateliers besucht, fotografiert und nach ihren Einschätzungen zur Lage ihres Stands gebeten. Zur Frage, warum das Möbeldesign so männlich dominiert ist, erklärt Nipa Doshi aus Indien: "Ich glaube, dass Deutschland daran nicht ganz unschuldig ist. In der Bauhaus-Tradition wurde Design auf das Elementare reduziert und sehr technologisch verstanden. Und Frauen wurden als zu wenig technisch begabt angesehen. Noch heute stellen viele Design-Firmen lieber Männer ein, weil man dort glaubt, Frauen könnten nicht wirklich produzieren."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Niklas Maak dem Designer Philippe Stark zum 70. Geburtstag. Besprochen wird die Ausstellung "Auf Freiheit zugeschnitten - Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und Gesellschaft" im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld (FAZ).
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Literatur

In der NZZ würdigt Paul Jandl Theodor Fontane als Wortschöpfer. Sehr schade findet es Ralph Trommer im Tagesspiegel, dass Popeyes 90. Geburtstag den Verlagen keine Neuausgabe der alten Geschichten wert war.

Besprochen werden unter anderem der Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger (FR), Takis Würgers "Stella" (Standard), Marion Fayolles Comic "Die schwebenden Liebenden" (taz), Evelyn Steinthalers und Verena Loisels Comic "Peršmanhof. 25. April 1945" (Standard), Kristen Roupenians Storyband "Cat Person" (SZ) und Ernst Troeltschs Briefe aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Einen "ganzen Kosmos des weiblichen Lebens" erlebt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung in den "träumerischen" Werken der Malerin Rosa Loy, die derzeit die Eröffnungsausstellung im Berliner Wrangelschlösschen bestreitet: "Schwermütiges, Somnambules aber gibt es bei ihr nicht, umso mehr Lebenszugewandtes, Emanzipiertes, Trotziges. Aber nie sind diese weiblichen Gestalten wütend, eher sanft-ketzerisch, raffiniert und schön. Spielerisch, leicht. Aber alles offenbar Mystische ist realitätsnah dargestellt, mit Witz und Hintersinn. Noch aus der vertracktesten Figurenkonstellation dringen Zuversicht, Lust, Lachen." Im Tagesspiegel bespricht Maria-Mercedes Hering die Ausstellung.

Besprochen werden die Ausstellung "Beuys. Italienische Reisen. Fundstücke deutscher Geschichten auf Streifzügen durch Rom" in der Casa di Goethe in Rom (SZ),  die Ausstellung "I am Ashurbanipal" im British Museum in London (FAZ), eine Ausstellung mit durch den Schriftsteller Enrique Vila-Matas ausgewählten Werken aus der La Caixa collection of contemporary art in der Londoner White Chapel Gallery (Guardian).
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Architektur

Jean-Jacques Lequeu: "Tor eines Jagdgeländes"
Lange galt Jean-Jacques Lequeu als kuriose akademische Fußnote, jetzt entdeckt der Pariser Petit Palais die "schillernden", protosurrealistischen Zeichnungen des französischen Architekten glücklicherweise wieder, freut sich Joseph Nechvatal auf Hyperallergic: "Besonders eindrucksvoll sind seine äußerst freizügigen, hyperintensiven Zeichnungen menschlicher Genitalien, die wie eine neoklassische architektonische Torheit scheinen. Die provokante und faszinierende anatomische Wiedergabe von "Black Woman (After Nature)" (ca. 1795) erscheint aporetisch: sachkundig, aber auch leicht unmöglich. Die feine Tuschezeichnung "Of Age to Conceive" (1795-1779) zeigt in einem für Architekturzeichnungen typischen, überaus klaren Stil eine solide gebaute ofenähnliche Vagina, die eine seltsame Kalt-Hitze ausstrahlt, in der man Brot backen könnte. Die unerträgliche Prätentiösität der symmetrisch spiralförmigen Schamhaare kann wie idealer Rauch oder mit etwas Witz als Perücke des Königs betrachtet werden."
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