Efeu - Die Kulturrundschau

Zurück in die Welt geprügelt

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07.04.2020. In der FAZ erzählt die Schriftstellerin Angela Bubba vom erschöpfenden Kampf ihrer Mutter, die als Krankenschwester in Kalabrien arbeitet. In der taz erkennt Michael Wildenhain die Fragilität des Menschen. In der NZZ knallt Regisseur Nicolas Stemann dem europäischen Bürgertum seine Verachtung entgegen. Die SZ hört Jazz aus Chicago. Und die Zeit empfiehlt, eine persönliche Lav-Diaz-Retrospektive.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.04.2020 finden Sie hier

Literatur

Von der bedrückenden Lage in Norditalien berichtet die Schriftstellerin Angela Bubba in der FAZ-Reihe "Mein Fenster zur Welt": Sie sitzt in einem Dorf in Kalabrien fest, ihre Mutter arbeitet Akkordschichten im Krankenhaus, das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. "Wenn ich meine Mutter frage, wie es so weit kommen konnte, antwortet sie lieber nicht. Sie ist müde, hat tiefe Augenringe. Sie wäscht sich immer wieder die Hände, während ich den beißenden Geruch des Alkohols wahrnehme, der zu mir herüberweht. Er ist stechend, desinfiziert auch mich. Es ist, als würde sie mir sagen, dass wir die Schuld nach dem Ende dieser Katastrophe zuweisen können. Jetzt konzentrieren wir uns darauf, zu tun, was zu tun ist. Also Leben zu retten, Arzt zu sein, was bedeutet - wie Homer es schon in der 'Ilias' geschrieben hat - mehr zu zählen als ein Mensch."

Die Coronakrise wäre ein guter Anlass, zurück zu einer demütig-sachlichen Einschätzung der Realität zu finden, philosophiert der Schriftsteller Michael Wildenhain in der taz, während er in der Isolation die Fahnen seines neuen Romans durchsieht: "Vielleicht sollten wir - wieder - begreifen, dass wir fragil sind, seltsam hochgezüchtete Säugetiere, deren Überleben zuallererst vom Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften abhängt. ... Wenn wir jedoch unsere herausragendste Eigenschaft als Menschheit suspendieren und stattdessen nach 'der Krise' weiterhin auf all die 'Likes' und 'Talks' und 'Shows' und was da noch so kreucht und fleucht stieren wie die blödesten Mikroben in irgendeiner Fledermaus, werden wir wohl noch häufiger durch den einen oder anderen Gewaltakt aus unserer Lethargie zurück in die Welt geprügelt werden."

Weitere Artikel: Auch SZ-Kritiker Joseph Hanimann rät, wie zuvor Jan Küveler in der Welt, in den Corona-Tagen zur Lektüre von Alexandrowitsch Gontscharows Roman "Oblomow" von 1859. In der NZZ erinnert Jürgen Brôcan an den vor 250 Jahren geborenen Dichter William Wordsworth. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie Hilde Domin einmal in der Karibik strandete. Konrad Feilchenfeldt schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Germansiten Hans Siegbert Reiss.

Besprochen werden unter anderem Moritz von Uslars "Nochmal Deutschboden" (online nachgereicht von der FAS, eine Rezension, die auf Twitter bereits zu ausgesprochenen Dramen führte, der Freitag hat mit von Uslar gesprochen), Jón Kalman Stefánssons "Ástas Geschichte" (NZZ), Richard Lorenz' Thriller "Hinter den Gesichtern" (Tagesspiegel), Debra Jo Immerguts Krimi "Die Gefangenen" (Tagesspiegel), der Sammelband "Julie Doucets allerschönste Comicstrips" (Tagesspiegel), eine Faksimileausgabe von Peter Rühmkorfs und Werner Riegels Zeitschrift Zwischen den Kriegen (SZ), neue Wald- und Wiesenbücher (Freitag) und Grey Owls "Pfade in der Wildnis" (FAZ).

Außerdem: In unseren "Büchern der Saison" empfehlen wir ausgesuchte Frühlingsromane.
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Bühne

Mit der ganzen Verachtung eines Theatermannes für sein potenzielles Publikum und Politiker unterstellt Nicolas Stemann, Co-Intendant des Zürcher Schauspielhauses, in der NZZ, den "vergleichsweise gutsituierten mitteleuropäischen Bürgern", sie seien froh, endlich mal selbst Opfer sein zu dürfen, und der Rest der Welt, sogar der näheren Umgebung, sei ihnen scheißegal: "Wenn jemand den Sicherheitsabstand über- beziehungsweise unterschreitet, schnellt das Adrenalin in die Höhe, und nur die Angst vor Tröpfchen in der Luft halten die Menschen davon ab, einen Streit vom Zaun zu brechen. Die anderen, das wird noch einmal klar in dieser Zeit, sind eben vor allem unsere Feinde, und sie bringen potenziell den Tod! Weg mit ihnen - wir sind uns selbst die Nächsten, und wir müssen jetzt erst mal sehen, wo wir bleiben! Für mehr Menschen ist kein Platz in unserem Herzen. Und in unserem Portemonnaie schon gar nicht." Ist das eine Selbstbeschreibung oder zählt sich Stemann nicht zu den "vergleichsweise gutsituierten mitteleuropäischen Bürgern"?

Christine Wahl hört sich für den Tagesspiegel unter Theaterleuten um, die wie die Schauspielerin Anita Vulesica gerade aus dem laufenden Betrieb katapultiert wurden: "Jetzt sitzt sie in ihrer Berliner Wohnung und denkt darüber nach, Erntehelferin zu werden. 'Ich hab mich sogar schon angemeldet in Beelitz', sagt sie lachend am Telefon. 'Aber die Spargelleute wollen keine Spargel stechenden Schauspieler, die wollen ausgebildete Menschen.'"

Weiteres: In der taz führt Katharina Granzin durch die Online-Spielpläne der Berliner Theater. Der Stream der Nachtkritik zeigt Esther Hattenbachs Inszenierung von Ionescos "Nashörnern". In der NZZ beobachtet Bernd Noack dagegen mit Schrecken, dass das Binge-Watching jetzt auch die Hochkultur erreicht hat. Er kann Streams nämlich nicht leiden, weil ihn der Regisseur um seine Autonomie bringt: "Er verschweigt mir die Totale und drängt mir die Nahaufnahme auf." FAZ-Kritikerin Julia Bähr besucht das Opernhaus in Mauritius, das von einem sehr kleinen, aber unbeugsamen Freundeskreis am Leben erhalten wird.
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Film

Leben, überleben und leben lassen: Lav Diaz' "Norte" (Grandfilm)

Vielleicht findet man ja jetzt einmal Zeit, die oft mehrstündigen Filme des philippinischen Auteurs Lav Diaz zu sehen? Derzeit ist jedenfalls sein "Norte - The End of History" via Video on Demand abrufbar (die daraus entstehenden Einnahmen kommen auch engagierten Filmkunstkinos zugute!) und Katja Nicodemus kann in der Zeit nur zu dieser Sichtung raten: "Angelehnt an Motive aus Dostojewskijs Roman 'Schuld und Sühne' öffnet er sich für die philippinische Gegenwart, zeigt den kleinstädtischen und ländlichen Alltag, eine Gesellschaft, in der die Brutalität der Kolonialherrschaft und der Marcos-Diktatur immer noch bis in die feinsten sozialen Verästelungen spürbar ist. ... Keine Sekunde daran ist überflüssig. Es zeigt Menschen, die dem großen Schlamassel auf völlig gegensätzliche Weise begegnen: Die einen leben, überleben und lassen leben. Der andere versucht, durch Verbrechen zum Un- und Übermenschen zu werden. Große Themen - Klassengegensätze, Schuld und Sühne, Erlösung - ziehen beiläufig in die Einstellungen ein." Zum Kinostart 2014 besprach auch Perlentaucher Nikolaus Perneczky den Film.

Die in einem AmazonPrime-kanal schlummernde Comedyserie "Ramy" mit Ramy Youssef in der Rolle eines jungen in New York lebenden Muslims zwischen Millennial-Lifestyle und traditionellen Eltern ist eines der am besten gehüteten Angebote im Streamingdschungel, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: Die Serie "ist der jüngste Zuwachs einer Reihe von Comedyshows über das Leben im Einwanderungsparadies Amerika. ... Die 'amerikanische Erfahrung', ihre Widersprüche, Vorurteile und Annehmlichkeiten (nicht zu vergessen: der Rassismus), lässt sich am besten vom Rand der Gesellschaft aus beschreiben."

Außerdem: Für die SZ spricht Joachim Hentschel mit dem Berliner Regisseur Savaş Ceviz und dem Schauspieler Max Riemelt über deren wegen Corona online ausgewerteten Film "Kopfplatzen", in dem Riemelt einen pädophilen Mann spielt (unser Resümee). Besprochen werden die Amazon-Serie "Tales from the Loop" (Presse) und eine vierteilige Arte-Dokumentation über die Geschichte Afghanistans (taz, FAZ).
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Kunst


Für Hyperallergic besucht Paul Gladston die Biennale von Sidney, die zum ersten Mal von einem Direktor mit Aborigines-Herkunft organisiert wurde und unter dem Titel "Nirin" Begriffe wie Zusammenarbeit, Fluss, Heilung, Ernährung, Transformation verbindet. Herbter Molderings schreibt in der FAZ zum Tod des Fotokünstlers Floris M. Neusüss. Bernd Nicolai verabschiedet im Tagesspiegel den Kunsthistoriker Robert Suckale.
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Stichwörter: Sidney Biennale, Aborigines

Design

Jürgen Habermas in Nike-Sneakers der "Free Ultra"-Linie? Schwer vorstellbar, aber so ist es - wenn auch abseits des Blicks der Öffentlichkeit - geschehen, wie tazlerin Katja Eichinger indiskret bezeugt. Sie nimmt die Beobachtung zum Anlass einer ziemlich epischen Philosophie des Streetwears: "Freiheit, das ist die Essenz des Turnschuhs. Mit einem Turnschuh ist man frei von Zwängen des normalen ledernen Schuhwerks; frei, um jeden Bewegungsdrang uneingeschränkt auszuleben. In diesem Sinn bedient der Turnschuh sowohl das Konzept der positiven als auch der negativen Freiheit. ... Nicht bei allen 'Streetwear'-Artikeln ist die Zwanglosigkeit und Bewegungsfreiheit so immanent wie beim Turnschuh. Aber trotzdem schwingt es immer mit: ein sowohl nebulöses wie verführerisches Versprechen von Freiheit."
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Musik

In der SZ-Jazzkolumne führt Andrian Kreye durch Neuveröffentlichungen der ziemlich produktiven Chicagoer Szene: Was Musiker wie Makaya McCraven, Kassa Overall und Jeremy Cunningham auf ihren neuen Alben "vor allem beherrschen ist, das Persönliche und Innerste nach außen zu kehren. ... Man könnte all diese Alben ineinander mischen und bekäme ein mehrstündiges Mammutwerk von Künstlern einer Generation, die mit den Qualen ihres Innenlebens so souverän umgehen, dass sie darüber eine gemeinsame Sprache finden, die von der freien Improvisation über die Collagetechniken der 'Found Objects' bis zum Hip-Hop, von der Selbstreflexion bis zum politischen Ausbruch vieles auf einen Nenner bringt, was jeweils eine eigene Welt zu sein schien." Cunninghams Album "The Weather Up There" wurde vom Label mit einer Videoplaylist online gestellt:



Dass der eher den rechten Acker im Pop-Spektrum bestellende Austro-Rocker Andreas Gabalier mit einem heideggerianische Wald-und-Wiesen-Töne anschlagenden Corona-Song den "Soundtrack für eine neue Querfront des Entschleunigungs- und Achtsamkeitsdenkens" liefert, erstaunt Jens Balzer auf ZeitOnline keineswegs: Dieser "Wunsch nach Entschleunigung, Einsamkeit und Authentizität nützt nichts zur Verbesserung der Realität; doch ist er als Wunsch selber ein Teil von ihr, ein Ausdruck der realen Weltflucht und Zivilisationsmüdigkeit, die sich rechts ebenso findet wie links; eine Fantasie, in der sich möglicherweise die Wähler der AfD und der Grünen näher stehen als sie es wahrhaben wollen."

Außerdem: Stefan Grund erklärt in der Welt, wie die Hamburger Klassikinstitutionen auf die Coronakrise reagieren. Besprochen wird Bobby Conns Album "Recovery" (Jungle World).
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