Im Kino

Ein fataler Sog

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
24.12.2014. Lav Diaz wandelt in seinem beeindruckenden Alltagszeitbild "Norte - the End of History" auf den Spuren Dostojewskis. In James Ward Byrkits Science-Fiction-Film "Coherence" hat Schrödingers Katze einen Auftritt.


"Norte - The End of History" ist der vorletzte Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz und gleichzeitig der erste, der in Deutschland (und nicht nur dort) einen regulären Kinostart erhält. Diaz" Epen über marginale Existenzen und Geschichtserfahrungen werden von Cinephilen schon seit geraumer Zeit - und mit gutem Grund - gefeiert. Gelegenheiten, die mehrstündigen Marathonwerke im Kino zu sehen, gab es (außerhalb von Festivals und vereinzelten Screenings - in Berlin etwa im Arsenal oder im Zeughauskino) bis jetzt jedoch kaum. Dass sich das nun - zumindest punktuell - ändert, geht auf die Initiative der "Film- und Kinomacher" Stefan Butzmühlen, Patrick Horn und Mikosch Horn zurück, die eigens für diesen Zweck eine Distributionsfirma gegründet haben. Vielleicht findet sich jetzt auch ein Abnehmer für Diaz" aktuelle Arbeit "From What is Before", die das Dräuen der Marcos-Diktatur aus der äußerst mittelbaren Perspektive einer weit vom politischen Epizentrum entfernten Dorfgemeinschaft erzählt.
 
Dass ausgerechnet "Norte" in deutschen Kinos angekommen ist, dürfte an seiner für Diaz" Verhältnisse relativ bewältigbaren Dauer von knapp über vier Stunden liegen. Zudem erreicht der Film einen technischen Produktionsstandard, den frühere seiner Filmen erst gar nicht anstrebten - und hinter den "From What is Before" gleich wieder zurückfällt. Die höhere Auflösung resultiert in einer deutlicher konturierten und von weniger Störsignalen verunreinigten Bildlichkeit, die Kameramann Larry Manda umso größere Präzision abverlangt: Jede Kamera- und Figurengeste tritt gestochen scharf hervor. "Norte" besteht aus langen, oft unbewegten Einstellungen; oft setzt sich der breitwandformatige Kader aber auch in Bewegung, treibt merklich (in lateral umherschweifenden Schwenks) oder unmerklich (in fast bis unter die Wahrnehmungsschwelle verlangsamten Travellings) über sich hinaus. Die ausgedehnte Breite des Bilds scheint vom Sujet abgeleitet: Überall geht es in "Norte" um Menschen und Menschengruppen im Verhältnis zu ihren Lebensräumen - insbesondere zu den kontrastreich-wetterleuchtenden Küstenlandschaften der titelgebenden philippinischen Provinz.
 


Im Erzählkern ist Norte eine Dostojewski-Paraphrase. Der Student Raskolnikow aus "Schuld und Sühne" heißt hier Fabian. Im Unterschied zu seinem Vorbild ist er nicht tatsächlich verarmt, sondern mittellos aus eigener Wahl. Als Klassenbester fehlt ihm nur noch ein Jahr, um das Jurastudium zu beenden. Doch obwohl Lehrer und Freunde ihm zur Seite stehen, kann er sich nicht zu der Karriere durchringen, die ihm zweifellos offen stünde. Das hat philosophische und wohl auch psychologische Gründe: Fabian zweifelt an den bestehenden Einrichtungen des Sozialen, an ihrer Güte und Gerechtigkeit, aber auch an der Möglichkeit einer Revolution. Bleibt das individuelle, selbstermächtigende Aufbegehren qua Gewalt, von dem seine intellektuellen Freunde nur im Scherz sprechen. Fabian macht Ernst damit und bringt, seinem russischen Vorgänger gleich, die ausgesprochen unsympathische Wucherin um, die ihm und dem Rest der Nachbarschaft schon die längste Zeit das gute Leben verdirbt.
 
Ins Gefängnis muss jedoch ein anderer - an welcher Stelle "Norte" von der literarischen Vorlage abweicht, um auch später nicht mehr zu ihr zurückzukehren. Wirksam bleibt, über alle Abweichungen hinweg, das Prinzip der Polyphonie: Norte erzählt mindestens drei separate Geschichten, die sich nur in der Katastrophe berühren: die vom einzelgängerischen Mörder, der, obschon in Freiheit, immer tiefer herabsinkt in einen Strudel der Zerstörung; die vom guten, aber armen Familienvater Joaquin in lebenslanger Haft; und die von Joaquins Frau, die sich in seiner Abwesenheit nur mühsam über Wasser hält. Diaz entwickelt die Wendepunkte in diesen Parallelvorgängen nicht als dramatische Spitzen, sondern lässt sie aus der geduldigen Beobachtung alltäglicher Verrichtungen allmählich heraustreten, in einer entdramatisierten Form. Die Dauer transformiert das Geschehen: Weil Diaz Zeit hat, kann er sich so lange bei Joaquin im Gefängnis aufhalten, dass sich neben der brutalen Einführung in die Gefangenengesellschaft auch etwas von der Normalität des Lebens hinter Gittern mitteilt. Details akkumulieren sich über Stunden zu einem Alltagszeitbild, das keiner Erzählabsicht untergeordnet und in keinem Begriff mehr stillgestellt werden kann.
 
Schlüsselszenen sind nächtliche Kameraflüge über die am Meer gelegene Hüttensiedlung, wo Joaquins Familie lebt, halbvisionäre Traumreisen, die es ihm erlauben, im Schlaf die Außenwelt aufzusuchen. Fabians verlorene Seele folgt einem anderen Vektor, der von seiner Tat über einen versuchten Neuanfang zurückführt zum philippinischen Großgrundbesitz seiner Abstammung. Die Plantagenvilla von Fabians abwesenden Eltern ist das dunkle Herz des Films; von ihr geht ein fataler Sog aus, dem der Sohn sich nicht entziehen kann. Für alle drei Figuren - Fabian, Joaquin und dessen Frau - hält "Norte" schwer zu ertragende Erschütterungen und Enden bereit, dies aber nie im Sinn eines dramatischen oder motivischen Einklangs. Obwohl ihre Leben sich auf mal offensichtlichen, mal verborgenen Pfaden durchkreuzen, bleiben die einzelnen Erzählstränge nicht nur in sich, sondern auch untereinander unversöhnt. "The End of History", das meint den Endpunkt einer kolonialen Geschichte der Unterdrückung, die sich in den Jahren der Diktatur fortgesetzt hat und bis heute tiefe Narben in der Gesellschaft hinterlassen hat. Gibt es eine philippinische Zukunft, die sich davon befreien könnte? Dieser dunkelste aller Filme von Lav Diaz trägt sich mit schwerwiegenden Zweifeln.

Nikolaus Perneczky

Norte - the End of History - Philippinen 2013 - Originaltitel: Norte, hangganan ng kasayayan - Regie: Lav Diaz - Darsteller: Sid Lucero, Archie Alemania, Angeli Bayani, Mailes Kanapi, Mae Paner, Soliman Druz - Laufzeit: 250 Minuten.

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Eine Abendgesellschaft, durch unerklärliche Umstände an den Ort ihres Zusammenkommens gefesselt, stand einst auch im Zentrum von Luis Buñuels "El ángel exterminador" - aber das ist dann doch nicht die richtige Messgröße für James Ward Byrkits Debütfilm "Coherence". Denn wo bei Buñuel das Rätselhafte rätselhaft, das Unerklärliche unerklärt bleibt, geht es bei Byrkit - der zuvor für Gore Verbinski den spaßigen Animationsfilm "Rango" schrieb - um die schrittweise Orientierung in einem raum-zeitlichen Ausnahmezustand.

Eine Gruppe von acht Freunden trifft sich zum gemeinsamen Abendessen, just in der Nacht, in der der "Millersche Komet" erstmals seit 90 Jahren die Erde überfliegt - und, nach einem Stromausfall und der Zersplitterung sämtlicher Handydisplays, alles anders zurücklässt. Die Nachbarschaft scheint auf seltsame Weise verändert, und als man sich auf den Weg zu den Nachbarn macht, findet man dort eine mysteriöse Box, die nummerierte Fotos aller acht Protagonisten sowie einen Tischtennisschläger enthält. Weitere Expeditionen vertiefen das Mysterium und führen zur identischen Reproduktion des eigenen Hauses, bevölkert von Doppelgängern sämtlicher Protagonisten.

"Coherence" zieht zur Greifbarmachung seiner grundlegenden Parallelweltthematik das berühmte Gedankenexperiment von Schrödingers Katze heran, die, mit einem langsam zerfallenden Atomkern in einer Schachtel eingeschlossen, nach quantenphysischen Maßstäben solange gleichzeitig als tot und lebendig gilt, bis die Schachtel geöffnet und der Zustand der Katze überprüft wird. Wären die Theoreme der Quantenmechanik statt nur auf die mikroskopische auch auf die makroskopische Welt anwendbar, so folgerte daraus direkt die Existenz zahlloser paralleler Welten, in denen unterschiedlichste Ausprägungen der Realität ohne Berührungspunkte nebeneinander bestünden.


Die acht Freunde, die sich unter dem Einfluss der kosmischen Strahlung unversehens an einem von der Außenwelt anscheinend abgeschnittenen Knotenpunkt dieser Parallelwelten wiederfinden, sehen sich gezwungen, sich mit den (vornehmlich pragmatischen) Konsequenzen dieses raum-zeitlichen Unfalls auseinanderzusetzen: zuvorderst mit der Frage, was denn diese Koexistenz zweier simultaner Manifestationen des eigenen Ichs für Folgen haben könnte. Kann es nur einen geben, muss einer - wie die Katze - am Ende immer tot sein? Oder können beide Katzen leben? Mike stellt sich seinen Doppelgänger als betrunken, von Aggression zerfressen und mörderisch vor - eine Ausprägung seiner selbst also, die er anscheinend nur mit Mühe im Zaum hält. Und wäre es dann nicht sinnvoller, zuerst gewalttätig zu werden und das Alter ego zu töten? Aber was bedeutet es wiederum, im Wortsinne sich selbst zu ermorden?

Byrkit gibt sich viel Mühe, solcherlei spannenden Denkfiguren Raum zu geben und wählt die zweckmäßige Form des dialogorientierten Kammerspiels. Damit stellt er sich in eine kleine Tradition der eher theorie- als effektorientierten Physik-Science-Fiction, aber anders als ein Shane Carruth, für dessen verzwicktes Debüt "Primer" man schon beinahe einen akademischen Grad benötigte, wollte man ihn restlos dechiffrieren, legt Byrkit spürbaren Wert darauf, die dem Plot zugrunde liegenden Theoreme auf narrative Nachvollziehbarkeit herunterzubrechen. Das kommt einerseits dem Erzählfluss zugute, hinterlässt aber auf der anderen Seite auch den Eindruck, dass ein gewisses Blendwerk im Spiel ist: Komplexe Theoriegebäude werden über eine clevere, aber nicht in letzter Konsequenz tiefgreifende Erzählmechanik gelegt.

Das bleibt ein marginaler Kritikpunkt, denn die Erzählmaschinerie funktioniert in "Coherence" weitestgehend hervorragend. Der Film wählt mit einer Länge unter 90 Minuten eine knappe und dichte Form, nimmt sich nicht zuviel Zeit zur Etablierung seiner bizarren Grundsituation und findet insbesondere gegen Ende einige auch visuell nachwirkende Bilder für das zunehmend verzweifelte Herumirren in einem Spiegelkabinett des eigenen Lebens. Hinterher hat man zwar nicht das Gefühl, den intellektuellsten Science-Fiction-Film des Jahres gesehen zu haben, dafür aber ein Stück cleveres, gut erzähltes Genrekino.

Jochen Werner


Coherence
- USA 2013 - Regie: James Ward Byrkit - Darsteller: Emily Baldoni, Maury Sterling, Nicholas Bendon, Elizabeth Gracen, Alex Manugian - Laufzeit: 89 Minuten.