Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen Drogentrip und Superorgasmus

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04.07.2020. Die NZZ überprüft anlässlich einer Kunstausstellung über die 1920er unseren Kälte-Habitus. Monopol würde Georg Herolds "Ziegelneger" gern im Städel hängen lassen, aber andere Künstler zum Thema Rassismus dazu stellen. In der taz erklärt Marjane Satrapi, die gerade einen Film über Marie Curie gedreht hat, warum erfolgreiche Frauen nicht nett sind. Krise ist produktiv, ruft Artechock aufmunternd allen Filmkünstlern zu. Die Welt will endlich wieder singen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.07.2020 finden Sie hier

Kunst

Ernest Neuschul, Takka-Takka tanzt, 1926. Privatsammlung Nachlass © Ernest Neuschul


Es ist nicht nur Nostalgie, die uns immer wieder auf die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts blicken lässt, meint Philipp Meier anlässlich der Ausstellung "Schall und Rauch. Die wilden Zwanziger. Von Josephine Baker bis Thomas Ruff" im Kunsthaus Zürich. Unsere Zeit gleicht in vielen Punkten der damaligen, auch wenn wir heute viel braver, wohlstandsgesättigter und älter sind: "Auf den rasenden Wandel und die damit einhergehende Verunsicherung ist man heute bisweilen ähnlich schlecht vorbereitet wie in den zwanziger Jahren. Als Reaktion auf die damalige Überhitzung der Gesellschaft kam ein sonderbarer 'Kälte-Habitus' auf, der Distanz einforderte und die Person als 'Maske' und 'Radar-Typ' zu begreifen suchte, wie der Historiker Jakob Tanner in seinem Essay für den Ausstellungskatalog erwähnt. Für den damaligen Soziologen Helmuth Plessner war es dieser 'Kälte-Kult', der durch 'Zerstreuung, Seinsentlastung und Aufenthaltslosigkeit neue gesellschaftliche Möglichkeitsräume jenseits einer nationalstaatlichen Gemeinschaftsverklumpung' zu öffnen versprach. Erinnert dies aber nicht wiederum an unsere zusehends global-digital-nomadisierte Lebensform?"

Im Streit um Georg Herolds Bild "Der Ziegelneger" (unser Resümee) schlägt Elke Buhr in monopol vor, das Bild einfach zu ergänzen, statt es abzuhängen: "Das Thema Rassismus nur mit einem punkig-flapsigen Werk eines weißen Mannes anzureißen, muss zurecht als Affront empfunden werden. Es gibt genug gute Künstlerinnen und Künstler, die dazu Werke geschaffen haben, zeitgleich und später - ein Künstler wie Marc Brandenburg zum Beispiel sogar aus deutscher Perspektive."

In der taz würdigen Eva Oer und Andrea Maestro den verstorbenen Fernsehmaler Bob Ross: "Wenn Bob Ross es erklärte, war alles möglich: Jede*r kann malen, schau, diese Wölkchen, sie verstecken sich noch im Pinsel, taptaptap, und da sind sie auch schon. Hier noch ein zweiter kleiner fröhlicher Baum, jeder sollte einen Freund haben, auch der Baum." Einige Folgen finden sich noch in der ARD-Mediathek.

Weitere Artikel: Die türkische Konzept-Bildhauerin Ayse Erkmen wurde mit dem Ernst Franz Vogelmann-Preis für Skulptur ausgezeichnet, meldet der Tagesspiegel. In der FR erinnert Ingeborg Ruthe an den vor hundert Jahren gestorbenen Leipziger Künstler Max Klinger. Außerdem unterhält sie sich mit Olafur Eliasson über dessen Projekt "Earth Speakr", eine App in 24 Sprachen für und mit Kindern. Jan Küveler besucht für die Literarische Welt die Fondazione Prada in Mailand, um Godards "Studio d'Orphée" und seinen Film "The Image Book" zu sehen und besucht dann den Schriftsteller Paolo Rumiz in Triest. In der SZ liefern sich Nicolas Freund und Catrin Lorch ein pro und contra zur Frage, ob man wieder Kulturreisen machen soll.

Besprochen werden die Ausstellung "Driven by Distraction" im Sprengel-Museum in Hannover, für die das Künstlerduo M+M. eine Gottesanbeterin beim Sex- und Fressakt in 3-D gefilmt hat (taz), und eine Ausstellung des Bildhauers Pawel Althamer in der Berliner Galerie Neugerriemschneider (Berliner Zeitung).
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Film

"Dem Kino geht es nicht schlecht", schreibt ein euphorischer Rüdiger Suchsland auf Artechock, "denn es ist in der Krise. Und dieser Zustand ist produktiv." Vor allem eine Masterclass von Olivier Assayas hat ihn nachhaltig beeindruckt: Der französische Auteur "plädiert für etwas, nicht gegen etwas. Er plädiert für ein Kino der permanenten Neuerfindung und Neudefinition, der permanenten Revolution. Kino habe heute die Verbindung zwischen Praxis und Theorie verloren, es sei 'der Fehler einer Generation' gewesen, das Reflektieren über Film zu akademisieren, 'lebendige Theorie' sei zu einer 'toten Ideologie' geronnen. ... Ich finde, er hat komplett recht in seiner Verabschiedung der Nostalgie. Und das dies zum Besten gehört, das in den letzten Jahren übers Kino gesagt wurde." Wir hören zu:



Annabelle Hirsch spricht in der taz mit der Comiczeichnerin und Filmemacherin Marjane Satrapi, die in ihrem neuen Film Marie Curie porträtiert. Dass die Wissenschaftlerin darin durchaus mal zum Besen wird, liege in der Natur der Sache, meint sie: "Niemand gewinnt zwei Nobelpreise, indem er Kuchen backt und sich den ganzen Tag singend die Haare kämmt. Wer etwas erreichen will, muss hart sein, konzentriert und kompromisslos. Bei Männern akzeptiert man das, findet es sogar bewundernswert, bei Frauen ist es ein Problem. Man will den Mythos der Frau aufrechterhalten - auch Frauen wollen das. Ich habe mich mit manchen Leuten wirklich gestritten, weil sie fanden, Marie sei nicht sympathisch genug. Ich erklärte dann: Wäre sie sympathisch, wäre sie vielleicht deine Ehefrau geworden, aber nicht die bekannteste Wissenschaftlerin aller Zeiten."

Weiteres: In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser die Retrospektive Adolf Wohlbrück im Zeughauskino. Besprochen werden Werner Herzogs "Family Romance LLC", der derzeit auf Mubi zu sehen ist (ZeitOnline), Christian Petzolds "Undine" (Jungle World, unsere Kritik) und Clint Eastwoods "Der Fall Richard Jewell" (Tagesspiegel, unsere Kritik).
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Literatur

In der SZ wünscht sich die ehemalige Verlegerin von Hoffmann und Campe, Birgit Schmitz, dass deutsche Verlage mehr Bücher nicht weißer Autoren verlegen und überhaupt mehr gegen Rassismus tun: "Für Verlage war in der Vergangenheit die Entscheidung eine schwarze britische Autorin zu verlegen, damit verbunden, die Absatzzahlen niedriger als im Vergleich zu einer weißen Autorin einzuschätzen, das bedeutete ein höheres finanzielles Risiko, was man wiederum zu mindern versucht, indem letztlich die schwarze Autorin einen niedrigeren Vorschuss erhält und weniger Aufwand an Pressearbeit und Werbung betrieben wird." Wirklich? Zadie Smith, Salman Rushdie, Naipaul, Monica Ali - alle finanzielle Flops in Deutschland? Schmitz, die Robin DiAngelos "White Fragility" (unser Resümee) herausbringt, weicht in ihrem Text auch der Frage aus, warum ausgerechnet weiße AutorInnen wie DiAngelo mit dem Thema Rassismus Kasse machen.

Janika Gelinek vom Literaturhaus Berlin zieht nach den letzten Coronamonaten Bilanz: Die Wochen in Digitalien waren durchaus erfolgreich, berichtet sie in der Literarischen Welt. "Wir hatten Publikum, unsichtbar zwar, aber messbar anwesend: in den Klickzahlen unter der Youtube-Premiere, im Facebook-Stream, manchmal 14, manchmal 70, der vierstündigen Revue von und über Alexander Kluge folgten live über 100 Menschen, bis heute wurde der Abend knapp 3000-mal angeklickt." Wenig für Youtube, "aber für unseren Saal jenseits der Möglichkeiten." Ein echter Leseabend vor Ort mit Menschen um einen herum ist zwar immer noch und weiterhin ihr liebstes Modell. Aber "wenn ich die Wahl habe, kann ich mich am selben Abend im Bademantel halbwach auf dem Sofa durch die virtuelle literarische Welt staunen. ... Hand aufs Herz: Das ist schön." Hier der Abend mit Alexander Kluge, auf dass die Zahlen nochmal steigen mögen:



Am Dienstag wird der Büchnerpreis verliehen, Dirk Knipphals nimmt aus diesem Anlass in der taz die Geschichte des Preises mal genauer unter die Lupe, identiiziert Strömungen, Cluster, Brüche wie um 1968, die im Nachhinein so bruchhaft gar nicht erschienen: Seit 2000 aber verfestige sich "der Eindruck der Suche", wenn auch "zögerlich, nachholend und nicht wie in den Sechzigern voranschreitend, als er den gesellschaftlichen Entwicklungen voraus war. ... Wenn der Büchnerpreis tatsächlich zeitgemäß bleiben soll, geht es eher darum, Autorenmodelle hervorzuheben und sichtbar zu machen, die in unsere diverser, auch selbstbewusster gewordene und literarisch nicht mehr so autoritätshörige Zeit passen."

Weitere Artikel: In einem wütenden Standard-Essay rechnet die seit vielen Jahren in Deutschland lebende US-Autorin Nell Zink gründlich mit ihrer alten Heimat ab: Nein, zurückkehren werde sie nicht und "in Wirklichkeit sollte man die USA nicht einmal besuchen!" Für die taz liest Ralf Sotschek die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift Feuerstuhl, die sich diesmal mit James Joyce befasst.

Besprochen werden unter anderem der vierte Band aus Armen Avanessians und Anke Hennigs "Spekulative Poetik"-Reihe (taz), Lana Lux' "Jägerin und Sammlerin" (taz), Mary Gaitskills Kurzgeschichtenband "Bad Behavior" (Dlf Kutlur), Maryse Condés "Das ungeschminkte Leben" (Literarische Welt) und Alexander Pechmanns Künstlernovelle "Die zehnte Muse" (FAZ).

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Musik

Die britische Band Sault ist offenbar so etwas wie der Thomas Pynchon des Gegenwarts-Pop: Die Band entzieht sich zumindest weitgehend konsequent der Öffentlichkeit, versteckt sich in der Anonymität, lässt ihre Musik für sich sprechen - und liefert mit dem Album "Untitled (black is)" mal eben den Soundtrack zu dieser von #BlackLivesMatter geprägten Zeit, schreibt Beate Scheder in der taz. Zu hören gibt es "ein Kaleidoskop der Genres": "Die Rolle des Künstlers und der Künstlerin sei es, die Revolution unwiderstehlich zu machen, hat die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Cade Cambarayou einmal gesagt. Sault scheinen sich das zu Herzen genommen zu haben." Über Polizeigewalt etwa "wurde vermutlich noch nie so traurig-schön gesungen wie" in diesem Stück:



Ausgerechnet Berlin - die Stadt mit der Sing-Akademie, der "ältesten noch existierenden gemischten Chorvereinigung der Welt" bleibt weiterhin chorfrei, ärgert sich Manuel Brug in der Welt, dem bei solcherlei Verzicht geradezu nostalgisch blümerant wird: "Wer gar einmal die helle Klangekstase der 'Meistersinger'-Festwiese oder die ins wilde Entsetzen sich steigernde Münsterszene des 'Lohengrin' im mystischen Abgrund des engen, tiefen, gebärmutterhaften Bayreuther Orchestergrabens erlebt hat, wenn sich zum Instrumentalinferno noch Chorschreie und Solistenspitzentöne von der Bühne im schwülen Festspielhaus ballen und mischen, der weiß von Erfahrungen zu berichten, irgendwo zwischen Drogentrip und Superorgasmus."

Weitere Artikel: Im Neuen Deutschland gratuliert Berthold Seliger der Berliner Staatskapelle mit einem epischen Longread zum 450-jährigen Bestehen. Auch die Jungle World staunt, dass die neue Antifa aus der K-Pop-Fanszene kommt (mehr dazu bereits hier und dort). Julia Spinola befasst sich in der Langen Nacht des Dlf Kultur mit dem Dirigenten Carlos Kleiber. In der FAZ gratuliert Jan Wiele Huey Lewis zum Sechzigsten.

Besprochen werden des neue Album von Hayiti (ZeitOnline), das neue Album von Haim (SZ), eine Kompilation mit Aufnahmen von Maria Callas (Freitag) und ein Liederabend mit dem Bariton Domen Križaj (FR).
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