Efeu - Die Kulturrundschau
Das Unbehagen an der Realität
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2020. Keinen Wagner nur Barock hört das Van Magazin im prachtvollen Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth. Die FAZ betrachtet Totentänze in Chur. Die Literaturkritiker trauen der Macht der Literatur längst nicht so wie Mario Vargas Llosa in seiner Eröffnungsrede für das Internationale Literaturfestival in Berlin, lernen wir. Auf Zeit online meint Georg Seeßlen: Filmförderung kann weg. Die taz wärmt sich am neuen Album der Folksängerin Shirley Collins.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
11.09.2020
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Film
Macht das Kunst oder kann das weg? Kann weg, meint Georg Seeßlen zur Lage der Filmförderung. Aus wie vielen ambitionierten Projekten ging nach ihrer Intervention "der cineastische Magerquark eines illustrierten Skripts" hervor, schreibt er in einem beeindruckend wütenden Essay für ZeitOnline. "Diese Maschine produziert mittlerweile eine Filmwahrheit im Sinne von Michel Foucault, das heißt, sie bestimmt, was in Film, mit Film und über Film gesagt werden kann und was nicht. ... Ein Wirtschaftszweig, der ökonomisch gesehen eine Zombiebranche ist, wird am Leben erhalten, und zwar nicht etwa, weil Filme so superwichtig fürs kulturelle Allgemeinwohl wären, sondern um eine 'Wettbewerbsfähigkeit' zu erhalten und um die eigentlichen, wirtschaftlich 'gesunden' Zweige wie Werbung und Fernsehunterhaltung mit Geld und Legitimation zu versorgen."
Auch Julia von Heinz' Film "Und morgen die ganze Welt" - eine Aufarbeitung ihrer Jugendzeit in der Antifa - dürfte nicht wenig Förderung erhalten hat. Zu sehen ist der Film im Wettbewerb von Venedig. Die prominente Positionierung in der A-Klasse der internationalen Filmkunst tut dem Film keinen Gefallen, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: "Von Heinz und ihr Partner John Quester verlagern die Konflikte meist in die Dialoge (Uni, Antifa-Plenum). Der Radikalität ihrer politischen Ansichten fehlen die entsprechenden Bilder." Die biografische Erfahrung hebt den Film "auf Anhieb über die üblichen Versuche von Milieustudien hinaus", hält ihm immerhin SZ-Kritiker Tobias Kniebe zugute. Derweil erinnerte Amos Gitais Wettbewerbsbeitrag "Laila in Haifa" tazler Tim Caspar Boehme "etwas an ein missglücktes Bühnenstück".
Sehr fasziniert ist Perlentaucherin Thekla Dannenberg von Pedro Costas "Vitalina Varela": Hier "schimmert alles in dunklem Glanz. Schmerz und Trauer werden zu Bildern in Chiaroscuro oder gleich ganz Schwarz auf Schwarz. Woher sollte auch das Licht kommen? Wie eine Galerie Alter Meister ziehen die kunstvoll komponierten Einstellungen des Films an einem vorbei. Die Dunkelheit verlangt viel Konzentration, sie zwingt zum genauen Hinsehen. Aber sie macht unglaublich schön, selbst den Schmerz." Auch Lukas Barwenczik von Kinozeit berichtet von einem ergreifenden Kinoerlebnis: Man "kann kaum glauben, dass es diese Orte wirklich geben soll. Dass sie nicht ganz Fantasie, Traum oder Alptraum sind. Einmal blickt die Kamera durch eine Art Kanal, ein langes Abwasserrohr, mit dicken, an Adern erinnernden Schläuchen an den Wänden. An seinem Ende sieht man die Lichter der Stadt. Ein Bild wie aus einem Science-Fiction-Film. Alles so real wie schwer zu fassen. Durch die Digitalkameras glänzt selbst die heruntergekommenste Seitengasse, alles ist dreckig texturiert und glatt zugleich. Eine Schönheit, die das Leiden nie verheimlicht, aber nach mehr sucht." Von einer beredten Düsternis spricht Gerhard Midding in der Berliner Zeitung. "Zunehmend ähneln Pedro Costas Filme Gemälden", schreibt Anke Leweke in der Zeit.
Weitere Artikel: Arabella Wintermayr stellt im Freitag die Arbeit des US-Filmproduzenten und -Verleihers A24 vor, der sich mit ästhetisch avancierten Independentfilmen einen Namen als Gütelieferant gemacht hat. Urs Bühler spricht für die NZZ mit Iris Berben, die vom Zurich Film Festival ein Goldenes Auge erhält. Fritz Göttler gratuliert in der SZ Brian de Palma zum 80. Geburtstag. Lory Roebuch (NZZ) und Bert Rebhandl (FAZ) schreiben Nachrufe auf Diana Rigg.
Unvergessen ist sie als Emma Peel:
Besprochen werden Stella Meghies romantische Komödie "The Photograph" (Tagesspiegel), die sowjetrussische Science-Fiction-Komödie "Kin-Dza-Dza" von 1986 (Tagesspiegel) und eine Serienadaption von Nick Hornbys Plattenladenroman "High Fidelity" (FAZ).
Auch Julia von Heinz' Film "Und morgen die ganze Welt" - eine Aufarbeitung ihrer Jugendzeit in der Antifa - dürfte nicht wenig Förderung erhalten hat. Zu sehen ist der Film im Wettbewerb von Venedig. Die prominente Positionierung in der A-Klasse der internationalen Filmkunst tut dem Film keinen Gefallen, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: "Von Heinz und ihr Partner John Quester verlagern die Konflikte meist in die Dialoge (Uni, Antifa-Plenum). Der Radikalität ihrer politischen Ansichten fehlen die entsprechenden Bilder." Die biografische Erfahrung hebt den Film "auf Anhieb über die üblichen Versuche von Milieustudien hinaus", hält ihm immerhin SZ-Kritiker Tobias Kniebe zugute. Derweil erinnerte Amos Gitais Wettbewerbsbeitrag "Laila in Haifa" tazler Tim Caspar Boehme "etwas an ein missglücktes Bühnenstück".
Sehr fasziniert ist Perlentaucherin Thekla Dannenberg von Pedro Costas "Vitalina Varela": Hier "schimmert alles in dunklem Glanz. Schmerz und Trauer werden zu Bildern in Chiaroscuro oder gleich ganz Schwarz auf Schwarz. Woher sollte auch das Licht kommen? Wie eine Galerie Alter Meister ziehen die kunstvoll komponierten Einstellungen des Films an einem vorbei. Die Dunkelheit verlangt viel Konzentration, sie zwingt zum genauen Hinsehen. Aber sie macht unglaublich schön, selbst den Schmerz." Auch Lukas Barwenczik von Kinozeit berichtet von einem ergreifenden Kinoerlebnis: Man "kann kaum glauben, dass es diese Orte wirklich geben soll. Dass sie nicht ganz Fantasie, Traum oder Alptraum sind. Einmal blickt die Kamera durch eine Art Kanal, ein langes Abwasserrohr, mit dicken, an Adern erinnernden Schläuchen an den Wänden. An seinem Ende sieht man die Lichter der Stadt. Ein Bild wie aus einem Science-Fiction-Film. Alles so real wie schwer zu fassen. Durch die Digitalkameras glänzt selbst die heruntergekommenste Seitengasse, alles ist dreckig texturiert und glatt zugleich. Eine Schönheit, die das Leiden nie verheimlicht, aber nach mehr sucht." Von einer beredten Düsternis spricht Gerhard Midding in der Berliner Zeitung. "Zunehmend ähneln Pedro Costas Filme Gemälden", schreibt Anke Leweke in der Zeit.
Weitere Artikel: Arabella Wintermayr stellt im Freitag die Arbeit des US-Filmproduzenten und -Verleihers A24 vor, der sich mit ästhetisch avancierten Independentfilmen einen Namen als Gütelieferant gemacht hat. Urs Bühler spricht für die NZZ mit Iris Berben, die vom Zurich Film Festival ein Goldenes Auge erhält. Fritz Göttler gratuliert in der SZ Brian de Palma zum 80. Geburtstag. Lory Roebuch (NZZ) und Bert Rebhandl (FAZ) schreiben Nachrufe auf Diana Rigg.
Unvergessen ist sie als Emma Peel:
Besprochen werden Stella Meghies romantische Komödie "The Photograph" (Tagesspiegel), die sowjetrussische Science-Fiction-Komödie "Kin-Dza-Dza" von 1986 (Tagesspiegel) und eine Serienadaption von Nick Hornbys Plattenladenroman "High Fidelity" (FAZ).
Bühne
Weiteres: Egbert Tholl berichtet in der SZ vom Kunstfest Weimar, das noch bis Sonntag dauert. Die nachtkritik streamt heute ab 19 Uhr einen Mitschnitt von "Der zerbrochne Kopf" des Kollektivs Frachtwerk.
Besprochen werden Laura Linnenbaums Adaption von Olga Grjasnowas Roman "Gott ist nicht schüchtern" am Berliner Ensemble (taz), ein "Fidelio" mit Adam Fischer am Pult in Düsseldorf (nmz), Johanna Lemkes Tanzperformance "Die Madonnen" (Berliner Zeitung), Strauss' "Elektra" in Wien (Standard) und Verdis "Simon Boccanegra" mit Placido Domingo in der Titelrolle ebenfalls in Wien (Standard).
Literatur
In Berlin wurde das Internationale Literaturfestival mit einer Rede von Mario Vargas Llosa eröffnet, der ein erwartbares Loblied auf die Literatur sang. Die Kritiker im Saal reagierten eher peinlich berührt. Das war "eine doch schlichte, voller schöner Behauptungen steckende, in manchen Teilen arg redundante" Rede, meint dazu Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Auch nur einen einzigen Beleg für die Strahl- und Sprengkraft der Literatur liefert Mario Vargas Llosa nicht." Er sprach frei, erfahren wir von Lothar Müller in der SZ, dem ein fertig ausgearbeitetes Manuskript allerdings lieber gewesen wäre: "Der Literaturnobelpreisträger begnügte sich damit, in immer neuen Variationen und Anläufen den Gedanken zu formulieren, dass die Literatur seit ihren Ursprüngen über die Wirklichkeit, in der sie entsteht, hinausweist, dass sie das Unbehagen an der Realität nährt und dadurch zur Entwicklung des Menschengeschlechts und zum Fortschritt beiträgt. Das ist ein tröstlicher Gedanke", doch die "Literatur kann auch anders und hat das oft demonstriert. Sie kann, auch dies glanzvoll, zum Sturz nicht nur von Diktatoren, sondern auch von Demokratien beitragen."
Auch Tobias Wenzel vom Dlf Kultur fragt sich, ob Llosa "die Macht der Literatur" nicht doch arg überschätze. "Auch konnte man denken, da weist jemand den Zuhörern den rechten, den demokratischen oder gar liberalen Weg, in der Gewissheit, ihn selbst längst eingeschlagen zu haben. Wie ist es dann aber zu erklären, dass der Aufklärer Vargas Llosa seinen Geburtstag mit dem kolumbianischen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez feierte, während dessen Präsidentschaftszeit das Militär tausendfach unschuldige Zivilisten ermordete, den die Justiz gerade unter Hausarrest gestellt hat und der Zeugen zufolge für ein von Paramilitärs begangenes Massaker persönlich verantwortlich gewesen sein soll?"
Besprochen werden unter anderem Nell Zinks "Das Hohe Lied" (taz), Zoë Becks "Paradise City" (Freitag), Han Kangs "Weiss" (NZZ), Joachim Meyerhoffs "Hamster im hinteren Stromgebiet" (Berliner Zeitung) und Mely Kiyaks "Frausein" (SZ).
Auch Tobias Wenzel vom Dlf Kultur fragt sich, ob Llosa "die Macht der Literatur" nicht doch arg überschätze. "Auch konnte man denken, da weist jemand den Zuhörern den rechten, den demokratischen oder gar liberalen Weg, in der Gewissheit, ihn selbst längst eingeschlagen zu haben. Wie ist es dann aber zu erklären, dass der Aufklärer Vargas Llosa seinen Geburtstag mit dem kolumbianischen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez feierte, während dessen Präsidentschaftszeit das Militär tausendfach unschuldige Zivilisten ermordete, den die Justiz gerade unter Hausarrest gestellt hat und der Zeugen zufolge für ein von Paramilitärs begangenes Massaker persönlich verantwortlich gewesen sein soll?"
Besprochen werden unter anderem Nell Zinks "Das Hohe Lied" (taz), Zoë Becks "Paradise City" (Freitag), Han Kangs "Weiss" (NZZ), Joachim Meyerhoffs "Hamster im hinteren Stromgebiet" (Berliner Zeitung) und Mely Kiyaks "Frausein" (SZ).
Kunst
Weiteres: Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Artikel zur Berlin Biennale online nachgereicht. Christiane Meixner berichtet im Tagesspiegel über die Messe Positions bei der Berliner Art Week. Zum Tod des Kunstsammlers Erich Marx schreiben in der Berliner Zeitung Nikolaus Bernau und im Tagesspiegel Nicola Kuhn.
Besprochen werden die Ausstellung "Am Wasser" des Bildhauers Clemens Heinl und des Malers Christopher Lehmpfuhl in der Hamburger Fabrik der Künste (taz), eine Ausstellung der Fotos von Robert Capa aus "Berlin Sommer 1945" in der Neuen Synagoge (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Studio. Berlin" im Berghain (FAZ).
Musik
In der taz freut sich Gregor Kessler, dass Folk-Legende Shirley Collins seit ihrem Comeback vor vier Jahren gar nicht daran denkt, wieder in jene Versenkung zu verschwinden, in der sie die 40 voran gegangenen Jahre zugebracht hatte. Jetzt erscheint ein neues Album, "Heart's Ease". Collins begreift sich "als Glied in einer Ahnenreihe aus Stimmen", erfahren wir. "Weniger Interpretin als Konservatorin. Aus dieser Rolle leitet sie die Art ihres Vortrags ab: einfach und direkt, nie überzeichnet, ohne Dramatisierung." Das "einst helle Strahlen ihrer Stimme ist einer inzwischen tieferen Wärme gewichen. ... Wie weit das neue Selbstvertrauen dieser großen englischen Künstlerin geht, zeigt sich ganz zum Schluss. Wie eine dichte Nebelwand schiebt sich der flächige Hurdy-Gurdy-Drone des Finales 'Crowlink' aus den Boxen, und selbst an diesem experimentellen Schlusspunkt klingt Collins' entfernt hallende Stimme auf frische Art souverän."
Außerdem: Der Standard spricht mit dem Kulturmanager Stephan Pauly über dessen Pläne als neuer Leuter des Wiener Musikvereins. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über Otis Reddings "Sittin' on the Dock of the Bay". "13 durchgängig schöne Songs" hörte Standard-Kritiker Karl Fluch auf "American Head", dem neuen Album der Flaming Lips: "Mit bis an die Zähne bewaffneten Einhörnern ist jederzeit zu rechnen." Wir hören rein:
Außerdem: Der Standard spricht mit dem Kulturmanager Stephan Pauly über dessen Pläne als neuer Leuter des Wiener Musikvereins. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über Otis Reddings "Sittin' on the Dock of the Bay". "13 durchgängig schöne Songs" hörte Standard-Kritiker Karl Fluch auf "American Head", dem neuen Album der Flaming Lips: "Mit bis an die Zähne bewaffneten Einhörnern ist jederzeit zu rechnen." Wir hören rein:
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