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15.07.2022. Die tägliche Dosis Documenta: Claudia Roth reagiert "befremdet" auf Sabine Schormanns Statement und hält sie für nicht mehr tragbar, meldet der Tagesspiegel. Die SZ sieht in einem geleakten Video, wie die Guides geschult wurden, um Antisemitismusvorwürfe beiseitezuräumen. Und die Welt fragt: Wieso schweigt der Kunstbetrieb? Die Filmkritiker erkennen in Zhang Yimous Komödie "Eine Sekunde" trotz Zensur die Schatten der Kulturrevolution. Und die taz hört das "Abgefuckte der Welt" aus jeder Pore dringen im neuen Album von Shed.
Nun reagiert auch Claudia Roth "befremdet" auf Sabine Schormanns Statements, ihre Aussagen zu den Abläufen der vergangenen Monate seien "so nicht zutreffend", meldet unter anderem der Tagesspiegel: "Eine lückenlose Aufklärung, wie es zur Aufstellung eines eindeutig antisemitischen Kunstwerks bei der Documenta kommen konnte, stehe weiter aus, teilte ein Sprecher Roths mit, und ebenso, die Konsequenzen aus diesem Skandal zu ziehen. Es sei 'zunehmend fraglich, ob die Generaldirektorin das leisten kann oder will'. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch Roth Schormann nicht mehr für tragbar hält." "Zuletzt konnte man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Schormann nur noch im Amt gehalten wurde, um als Schutzschirm für höherrangige Politikerinnen und Politiker zu fungieren", meint Harry Nutt in der Berliner Zeitung, dem aber auch Roths "Machtwort" zu spät kommt.
Wir sind also auf "Rosenkrieg-Niveau" angekommen, kommentiert Swantje Karich in der Welt, dabei sei der Dialog wichtiger denn je: "Denn diese Debatte wirkt zersetzend auf den gesamten deutschen Kunstbetrieb - auch für die Museen und ihre Direktoren, die seit Beginn der Diskussion beharrlich schweigen, obwohl wir wissen, dass sie das Thema der antiisraelischen Boykottbewegung BDS und der vielen Unterstützer in ihrem Alltag beschäftigt. Diejenigen Direktoren, die eine klare Agenda haben, die die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterschrieben haben, wie der Leiter des Humboldt Forum in Berlin Hartmut Dorgerloh oder Johannes Ebert vom Goethe Institut, aber auch jene, die sich Sorgen machen, wenn sie die BDS-Unterstützerin Angela Davis in Dresden ausstellen. BDS ist zum Alltagsthema in deutschen Museen geworden."
Emily Dische-Becker wiederum hatte Schormanns Aussage widersprochen, sie sei mit einer umfassenden Beratung der Documenta zum Antisemitismus beauftragt worden. Offensichtlich gab sie aber ein Online-Seminar, um Documenta-Guides darin zu schulen, wie sie auf Fragen zu Antisemitismus reagieren können, weiß Moritz Baumstieger, der für die SZ ein geleaktes Video gesichtet hat: "Dabei scheint Dische-Beckers Aufgabe nicht gewesen zu sein, über Antisemitismus aufzuklären oder den Unterschied zwischen 'Legitimer Israelkritik' und 'israelbezogenem Antisemitismus' aufzuzeigen. Sondern den Guides einen Leitfaden dafür zu geben, wie sie Antisemitismusvorwürfe beiseiteräumen können. 'Ich weiß, es gibt kontroverse Begriffe, die von einigen der Künstler verwendet werden. Einer davon ist Siedlungskolonialismus', erklärt sie im Seminar. 'Ich weiß, dass in den deutschen Medien schon der Begriff 'Siedlerkolonialismus' in Bezug auf Israel als antisemitisch erachtet wird.' Dann erklärt sie, dass der Begriff auch auf Kanada, Australien, die USA anwendbar ist, dass er nicht automatisch impliziere, dass so entstandene Staaten nicht auch demokratisch sein können. Sie erwähnt nicht, dass es einen Grund dafür gibt, dass der Terminus 'Siedlungskolonialismus' als antisemitisch eingestuft wird - zum Beispiel, weil er impliziert, dass es keine Jahrtausende jüdischen Lebens um Jerusalem gegeben habe, worin sich das Beispiel Israel dann doch ein wenig von Australien unterscheidet."
Außerdem: In der NZZerzählt Philipp Meier die Geschichte der 25 mutmaßlich gefälschten Werke von Jean-Michel Basquiat, die sogar im Orlando Museum of Art in Florida ausgestellt wurden und schließlich vom FBI beschlagnahmt wurden. Besprochen wird das Kunstfestival "Osten" in Bitterfeld (Zeit).
Nachgereicht von gestern, das hatten wir nicht mehr geschafft: In der FRsprach der Übersetzer AlexanderKratochvil über Walerjan Pidmohylnyj und dessen Roman "Die Stadt", der "als erster moderner urbanistischer ukrainischer Roman" in der Ukraine Schulstoff ist. Der Transfer ukrainischer Literatur ins Deutsche geht nur zögerlich vonstatten, sagt er: "Ukrainische Literatur und Sprache fand bisher in der Slawistik so gut wie gar nicht statt". Erst seit dem Maidan ändert sich dies ein wenig, dabei "ist es die zweitgrößte slawische Sprache, es ist das größte europäische Land. Aber man hat es nicht gesehen, weil man immer nur nach Russland guckte. ... Mich erstaunt schon, dass in den großen Verlagen viel Zurückhaltung gegenüber ukrainischer Literatur herrscht. Spätestens jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, das zu ändern. So viele Frauen mit Kindern fliehen vor dem Krieg hierher, die werden zum Teil auch bleiben: Es wäre gut, sie über die Literatur besser zu verstehen."
In der NZZporträtieren Iryna Kovalenko und Annette Werberger den ukrainischen SchriftstellerSerhijZhadan, der sich in seiner Heimatstadt Charkiw für seine Mitmenschen engagiert. "Auf die letzte Eskalationsstufe des Kriegs konnte sich Zhadan seit acht Jahren vorbereiten. Das Abstoßende der Sprache im Krieg vermerkte er früh im Essay 'Kaplane und Atheisten': 'Was ändert der Krieg? Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt.' Dieses 'schwarze Vokabular' ist laut Zhadan neu ins Ukrainische eingedrungen."
Weitere Artikel: Elke Heidenreich erklärt in der SZ, was man aus HermanMelvilles "Bartleby" fürs Leben lernen kann. Für die FAZresümiert Katharina Teutsch einen Abend am LCB Berlin mit FrankWitzel und HiromiItō. Lars von Törne schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Comicforscher StefanNeuhaus. DenizOhdeschreibt dem Logbuch Suhrkamp eine Postkarte aus LeCapanne. Und TellgibtLesetipps für den Strand.
Besprochen werden unter anderem ein Film mit Super8-Aufnahmen aus dem Privatarchiv der SchriftstellerinAnnieErnaux (NZZ), GeorgeSaunders' "Bei Regen in einem Teich schwimmen" über russische Literatur (ZeitOnline), Lola Randls "Angsttier" (Tsp), neue Kriminalromane von JensEisel, JanBecks und SerainaKobler (online nachgereicht von der FAS), neue Kinder- und Jugendbücher, darunter FrankM. Reifenbergs "Identity X - Wer ist Boston Coleman?" (SZ) sowie neue Biografien über HoustonStewartChamberlain und CosimaWagner (FAZ).
Filmriss: Zhang Yimous "Eine Sekunde" Für die Berlinale wurde sie in allerletzter Sekunde von den Behörden zurückgepfiffen, jetzt startet ZhangYimous melodramatische Komödie "Eine Sekunde" im regulären Betrieb. Vor dem historischen Hintergrund der Kulturrevolution hat der chinesische Auteur eine Hommage ans Kino gedreht: Ein Kolchosendorf repariert hier einen Filmstreifen. Zu erleben ist "das Kino als ein Medium, das menschliche Nähe verspricht und ein Surrogat menschlicher Nähe bietet", schreibt Benjamin Moldenhauer im Filmfilter. Zugleich ist "das Bild, das Zhang Yimou von staatlicherRepression zeichnet, nicht eben schmeichelhaft." Yimous Film musste oft umgeschnitten werden, bis China grünes Licht gab, erklärt Karsten Munt im Perlentaucher: "Die Schatten der Kulturrevolution sind gut erkennbar: brutale Armut, dümmliche niedere Staatsdiener, verschiedene Generationen, die buchstäblich aufeinander losgehen. Und doch ist der Film so wenig daran interessiert eine politische Perspektive zu entwickeln, dass ich mir keine ernsthaft subversive Fassung des Films vorstellen kann." Fabian Tietke zeigt sich in der taz sanft enttäuscht: "Jene Zeiten, in denen Regisseure wie Zhang Yimou in den späten 1980er-Jahren begannen, nach Formen zu suchen für die Transformation des Landes, sind lange vergangen. Zhang Yimous Hommage an den analogen Film wirkt wie ein Abgesang auf bessere Zeiten des chinesischen Kinos." Weitere Kritiken schreiben Anke Leweke (Zeit), Daniel Kothenschulte (FR), Christiane Peitz (Tsp) und Andreas Kilb (FAZ).
Außerdem: In einem Essay für Eskalierende Träumedenkt Sabrina Mikolajewski darüber nach, wie NicolasCage - und insbesondere dessen 80s-Komödie "Vampire's Kiss" - sie durch die Pandemie und andere Krisen getragen hat. Dazu passend wirft Eric Kohn für Indiewire einen Blick darauf, wie Regisseur Tom Gormican und NicolasCage dem "Cabinet des Dr. Caligari" Tribut zollen. Für die FAZspricht Anna-Louisa Schönfeld mit der Schauspielerin KatharinaHauter und dem Regisseur OliverHirschbiegel über ihre Serienadaption von FerdinandvonSchirachsKurzgeschichtenband "Strafe". Die Pressemeldet, dass Netflix zahlreiche Szenen für die erfolgreiche vierte Staffel von "Stranger Things" in dem ehemaligenNS-GefängnisLukiškės in Litauen gedreht hat, das nun zu einem "Stranger Thigs"-Themenhotel ummodifiziert werden soll - wogegen sich Protest richtet.
Besprochen werden SophieHydes "Meine Stunden mit Leo" mit Emma Thompson (Freitag, mehr dazu bereits hier), die abschließende Staffel von PamelaAdlons "Better Things" (Freitag, ZeitOnline), Kurt David Hardners Horrorfilm "Spiral" (Perlentaucher), Joachim Lafosses "Die Ruhelosen" (Tsp, SZ), der Actionfilm "The Gray Man" mit RyanGosling (SZ), die zweite Staffel der Serie "Atlanta" (taz), die Wiederaufführung von Fellinis "La Dolce Vita" (Welt), ErecBrehmers und AngelinaZeidlers "Wer wir gewesen sein werden" (Artechock), Marten Persiels "Everything Will Change" (Artechock) und die Serie "In with the Devil" (BLZ).
Die nachtkritik dokumentiert die Rede, die die Dramaturgin Nicola Bramkamp beim Erfurter Festival Phönix zur Zukunft des Theaters hielt. Peter Morgan, Drehbuchautor der Fernsehserie "The Crown", hat mit "Patriots" ein Stück über die Entstehung des Systems Putin geschrieben, schreibt Gina Thomas in der FAZ. Inszeniert hat es Rupert Goold, uraufgeführt wurde es am Londoner Almeida Theatre.
Besprochen werden Achim Freyers Inszenierung "Die gefesselte Phantasie" nach Ferdinand Raimund bei den Raimundspielen Gutenstein (nachtkritik), Francisco Negrins Nabucco-Inszenierung in Sankt Margarethen (Standard).
Für die tazporträtiert Julian Weber den Technoproduzenten Shed, dem mit seiner im Oderbruchtal produzierten Musik "akustische Landschaftsbeschreibungen ohne jede Romantisierung" glücken. Seine "bebende Härte ist auf dem neuen Album geblieben, aber sie ist nun noch stärker mit impressionistischen Einsprengseln und kühlen, zurückgenommen-melodischen Hooks versehen. ... Das Kaputte, Sinnlose, Brutale und Abgefuckte der Welt dringt aus jeder Pore von Sheds Musik, aber auch der Wunsch, deshalb trotzdem nicht die Suche nach Schönheit einzustellen. Das Komplizierte im Schönen und das Weiche im Harten, alles wird hörbar und nichts kaschiert."
Volker Hagedorn berichtet im VAN-Magazin von seinem letzten Besuch bei dem KomponistenAlfredKoerppen, der Anfang des Monats im gesegneten Alter gestorben ist. "Koerppens abendländischer Werkbegriff ist klassischer als die Klassik, und das macht ihn fast schon zum Maverick seiner Generation, einer Art Einhorn aus fernen Wäldern. Er wusste das wohl beizeiten und spottete mal trotzig: ''Ich bin aber fortschrittlicher', sagte der Säbelzahntiger, bevor er die Maulsperre bekam und ausstarb.'" Die Lieder, "die Koerppen von 1941 bis 2008 schrieb, zu Texten von Simon Dach bis Else Lasker-Schüler, sind Kostbarkeiten, seit 2013 gedruckt, aber nicht zu hören, es gibt nur private Mitschnitte."
Weitere Artikel: Für VANporträtiert Marcus Stäbler den Dirigenten KlausMäkela, der mit 26 Jahren das Amsterdamer ConcertgebouwOrchester übernimmt: "Er bringt eine Disziplin, eine Neugier und geistige Wachheit mit, die seiner Begabung standhalten", schreibt Stäbler den ob des jungen Alters skeptischen Stimmen ins Stammbuch. Im VAN-Magazin spricht Merle Krafeld mit LukasFendel über die Zukunft der Akademie am Meer auf Sylt. Äußerst skeptisch beobachtet Felix Linsmeier vom VAN-Magazin, dass die GEMA eine NFT-Partnerschaft lanciert -zumal vor dem Hintergrund, dass im Krypto-Bereich gerade so ziemlich alles crasht und an Wert verliert. Manuel Brug resümiert in der Welt das unterfränkische FestivalKissinger Sommer. Konstantin Nowotny singt im Freitag ein Lobeslied auf Open-Air-Konzerte. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche AliceTegnér (hier) und Gasisa Schubanowa (dort).
Besprochen werden NaimaBocks Debütalbum "Giant Palm" (taz). Jeff Tweedys Buch "Wie schreibe ich einen Song" (NZZ), Konzerte von PhoebeBridgers (Tsp) und GunsN' Roses (Presse) sowie eine Ausstellung in Eisenach über die Entstehung von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" (Freitag).