9punkt - Die Debattenrundschau

Die Erreichung relativer Ziele

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2022. 22 Menschen kamen bei einem Terroranschlag in der ukrainischen Stadt Winnyzja ums Leben. Denn Angriffe auf Wohngebäude sind Terrorismus, nichts anderes, kommentiert die FAZTrump will 2024 wieder kandidieren, sagt er dem New York Magazine, er will nur noch nicht sagen, wann er es sagen will. SZ und heise.de untersuchen das fatale Wirken von Bots.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2022 finden Sie hier

Europa

Aus dem Nichts hat Putins Armee ein Wohngebäude der Stadt Winnyzja beschossen. 22 Menschen kamen uns Leben. Das ist ein Terroranschlag, nicht anderes, kommentiert Reinhard Veser in der FAZ: "Es ist nicht einfach Rhetorik, wenn die Ukraine und mehrere ostmitteleuropäische Staaten Russland inzwischen offiziell als 'terroristischen Staat' bezeichnen, sondern die Feststellung einer Tatsache."

In Charkiw gibt es "eine große Kriegsmüdigkeit, sogar Depression, Hoffnungslosigkeit", sagt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow im Gespräch mit Gerrit Bartels (Tagesspiegel+) Ein Status Quo in der Ostukraine kommt für ihn aber nicht in Frage: "Die Russen werden ihre Kriege nicht stoppen, bis Putin und seine Vasallen vor Gericht gebracht werden. Gerät die Ostukraine, die Ukraine überhaupt unter russische Herrschaft, würden ukrainische Jungen und Männer von Putin in den nächsten Krieg geschickt. Diejenigen Teile von Luhansk und Donezk, die unter russische Herrschaft geraten sind, sind fast entvölkert worden. Die meisten jungen Männer dort wurden getötet."

Anastasia Magasowa unterhält sich in der taz mit dem Osteuropa-Experten Alexander Libman, der von Verhandlungen mit Putin zwar nicht viel erwartet, aber auch warnt: "Solange die russische Armee einsatzbereit ist, die russische Wirtschaft läuft und Putin an der Macht ist - und diese Bedingungen werden aus meiner Sicht trotz Sanktionen und der hohen Verluste an der Front noch sehr lange existieren - ist es schwer, sich eine militärische Lösung vorzustellen, die die Sicherheit der Ukraine garantieren würde."

Ein Angebot zu verhandeln hat keineswegs immer Sinn, warnen die Friedensforscher Thorsten Bonacker und Andrea Gawrich in der FAZ: "Dies liegt daran, dass das einseitige Angebot einer Verhandlung von der anderen Seite als Schwäche interpretiert und ausgenutzt werden kann. Die Konfliktforscherin Oriana Skylar Mastro hat gezeigt, dass dies sogar eine Intensivierung der Kampfhandlungen zur Folge haben kann, weil ein Verhandlungsangebot den Eindruck erwecken kann, dass ein militärischer Sieg - oder zumindest die Erreichung relativer Ziele wie die Eroberung von Territorien - doch im Bereich des Möglichen liegt."

In Den Haag fand am Dienstag eine Konferenz zu einer möglichen Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine statt, angestoßen auch vom niederländischen Außenminister Wopke Hoekstra, den Wolfgang Janisch und Josef Kelnberger für die SZ treffen: "Die Niederlande fühlen sich besonders in der Pflicht - aus ihrer Tradition der Rechtsstaatlichkeit heraus, so Hoekstra, und wohl auch wegen des Dramas namens MH 17. Am 17. Juli 2014 starben 298 Menschen, die meisten aus den Niederlanden, weil eine mutmaßlich russische Rakete eine Maschine der Malaysian Airlines über der Ostukraine zum Absturz brachte."

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Medien

Studien und Umfragen zufolge haben Menschen in Deutschland und anderen Ländern ihren Nachrichtenkonsum eingeschränkt, sie leiden unter ein "News Fatigue", schreibt Christian Meier in der Welt. "Diesen Effekt belegen auch Ergebnisse des 'Digital News Report' des Reuters Institute mit Sitz in Oxford. Einmal jährlich führen Medienwissenschaftler Interviews zum Medienkonsum von Menschen weltweit. Das Interesse an Nachrichten, heißt es im gerade veröffentlichten Report, sei in vielen Ländern deutlich gesunken. In Deutschland interessierten sich demnach nur noch 57 Prozent der erwachsenen Internetnutzer für Informationen über das aktuelle Geschehen - ein Rückgang von zehn Prozentpunkten zum Vorjahr. Am deutlichsten sei diese Entwicklung bei jungen Erwachsenen im Altern von 18 bis 24 Jahren, hier interessierten sich nur noch 31 Prozent für Nachrichten - ein Minus von 19 Prozentpunkten."
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Internet

Im Internet gibt es "Bots" und Programme, die sich gegen sie wehren. Beide arbeiten mit künstlicher Intelligenz. Es wird aber immer schwieriger, die Bots zu erkennen, schreibt Andrian Kreye in der SZ, der mit Tilman Pfeiffervon der Cybersecurity-Firma fraud0.com gesprochen hat. "'Früher haben sich Bots noch benommen wie Bots', sagt Pfeiffer. Sie haben eine Webseite zum Beispiel in einer geraden Linie von oben nach unten durchsucht. 'Inzwischen werden sie immer menschenähnlicher.' Sie bewegen sich nicht mehr in geraden Linien, klicken scheinbar wahllos, legen Waren in Warenkörbe."

Wie Bots von Ländern wie China eingesetzt werden, zeigt beispielhaft ein Artikel Patrick Howell O'Neills aus der MIT Technology Review, den heise.de auf deutsch publiziert. Eine  chinesische Online-Gruppe mit dem Codenamen "Dragonbridge" versuchte, mit "micro-targeted Tweets" amerikanische Umweltgruppen zu beeinflussen, gegen das Bergbauunternehmen Lynas vorzugehen, das in Texas seltene Erden abbauen will. China hat sich in den letzten Jahren mit teilweise sehr dubiosen Methoden fast ein Monopol auf diese Rohstoffe gesichert. "Die Dragonbridge-Akteure gaben vor, aus Texas zu stammen, und posteten in einer bereits bestehenden Anti-Lynas-Facebook-Gruppe Besorgnis über die Umweltauswirkungen des Abbaus und der Verarbeitung. Die Gruppe versuchte, Proteste zu schüren, eine Taktik, die sie auch in den ersten Tagen der Coronavirus-Pandemie angewandt hatte." Schon in der Coronakrise hatte die Gruppe die Verschwörungstheorie verbreitet, das Coronavirus stamme aus den USA. Allerdings scheinen beide Kampagnen recht grobschlächtig fabriziert gewesen sein - Google konnte sie schnell aus dem Verkehr nehmen.
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Politik

Donald Trump wollte den Putsch, und es hätte alles noch viel schlimmer kommen können, als es am 6. Januar des letzten Jahres kam, schreiben Fabian Fellmann und Christian Zaschke, die für die SZ die Anhörungen zum Sturm auf das Kongressgebäude verfolgen. Sie hoffen aber, dass die Übertragung der Ausschusssitzungen, in denen der Putschversuch gerade verarbeitet wird, eine kathartische Wirkung entfaltet, zumindest "vielleicht ein bisschen. Trump ist allen Umfragen zufolge immer noch der Kandidat, mit dem die meisten Republikaner in die Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 ziehen wollen. Aber seine Zustimmungswerte sind geringer geworden. Es lässt sich nicht beweisen, aber es ist möglich, dass das auch mit den Anhörungen zu tun hat."

Trump will 2024 auf jeden Fall wieder kandidieren. Olivia Nuzzi scheint ihn gut zu kennen und oft mit ihm zu reden. Und sie schreibt fürs New York Magazine: "Zuerst will er nicht verraten, wie er sich entschieden hat. Nicht gleich. Aber dann kann er sich nicht mehr zurückhalten. 'Ich würde sagen, die große Frage wird für mich sein, ob ich es vorher oder nachher bekanntgebe', sagt er. 'Verstehen Sie, was das bedeutet?' Sein Tonfall ist konspirativ. Bezieht er sich auf die Midterm-Wahlen? Er wiederholt nach mir: 'Midterm-Wahlen'. Plötzlich entspannt er sich, als ob mein Aussprechen dieses Wortes es irgendwie zur Diskussion freigegeben hätte. 'Sage ich es davor oder danach? Das wird meine große Entscheidung sein.'"
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Kulturpolitik

"Kolonialismus hat nicht aufgehört, es ist ein Geschäft", sagt im Standard-Gespräch mit Katharina Rustler der Maori-Künstler George Nuku, der derzeit im Wiener Weltmuseum ausstellt. Er fordert komplette Entscheidungsfreiheit seitens der Communitys über die restituierten Werke: "Sobald Museen Objekte zurückgeben, geht es die Institutionen nichts mehr an, was damit passiert. Auch wenn sie die ursprünglichen Besitzer am Tag nach der Rückführung auf Ebay stellen, kann man sie nicht davon abhalten. Es ist ihr Eigentum. Es ist so, als ob ich Ihr Auto stehlen würde, wir vor Gericht gehen und dieses entscheidet, dass ich das Auto zurückgeben muss, aber nur wenn Sie garantieren können, es in einer Garage zu erhalten. Das ist doch paternalistisch!"
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