Efeu - Die Kulturrundschau

In Tracht und mit Hackebeil

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14.06.2023. Die Feuilletons sind sich uneins, ob Wes Andersons Retro-Manie weiterhin liebenswert ist oder allmählich so langweilig wird wie KI. Nachtkritik und Standard tanzen mit Julien Gosselin in Wien der Auslöschung der Menschheit entgegen. Die FAZ entdeckt im Haus am Lützowplatz eben die kritische Kunst aus Israel, die sie auf der Documenta nicht zu sehen bekam. Und die Welt trauert um Cormac McCarthy, der in Sätzen von gewaltiger Schönheit mit der modernen Welt haderte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.06.2023 finden Sie hier

Film

Erkennt man auf den ersten Blick: Ein Stil aus einem Wes-Anderson-Film

Die Feuilletons diskutieren weiter über Wes Anderson, dessen neuer Film "Asteroid City" morgen startet - kein Wunder, schließlich ist der amerikanische Autorenfilmer mit seiner sehr spezifischen Ästhetik "der Filmemacher der frühen Millennials", schreibt in der SZ Max Scharnigg, der (wie zuvor Non-Millennial Hanns-Georg Rodek in der Welt) sich sorgt, dass Andersons Stil dank KI-Inflation zum Klischee gerinnt: "Für diese Proliferation kann Anderson nichts, aber irgendwie wirkt seine liebenswerte Retro-Psychose im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit doch ein bisschen gewöhnlich und plötzlich auch: gähn, immergleich. Andere große Ausstatter-Regisseure - Visconti, Altman, Ozon, Sorrentino - haben ja trotz aller Lust am Einrichten schon auch glaubhaft eine gute Story als Vorwand." Solche Sorgen macht sich Bert Rebhandl im Standard trotz KI-Schwemme nicht: Für ihn ist der Regisseur vielmehr ein gutes Beispiel dafür, wie man mit "ausgeprägter Individualität sehr populär werden kann, ohne deswegen Kompromisse eingehen zu müssen. Im Gegenteil nützt Anderson die Freiräume, die er sich erarbeitet hat, für durchaus radikale Experimente. In 'Asteroid City' geht es nicht nur darum, dass ein Witwer (Schwartzman) und eine Witwe (Johansson) vielversprechende, dabei aber immer skeptische Blicke austauschen. Anderson bettet das in eine Art Medienarchäologie des mittleren 20. Jahrhunderts ein. ... Anderson macht aus diesem Spiel der Ebenen seine eigene Relativitätstheorie, findet aber innerhalb dieses Settings so viele Momente wahrer Empfindung, dass man von einem Meisterwerk sprechen muss." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und in der FAZ.

Weitere Artikel: Jacqueline Krause-Blouin wirft für ZeitOnline einen Blick auf die Forderungen der diversen Gewerke-Gilden, die in Hollywood gerade mit den Studios verhandeln. Morticia Zschiesche befasst sich für den Filmdienst mit dem Genre des Wanderbühnenfilms. Franka Klaproth spricht in der Berliner Zeitung mit Karoline Herfurth über Geschlechterrollen und männliche Perspektiven. Andreas Scheiner notiert in der NZZ die Skandale und Skandälchen um Ezra Miller, der im aktuellen Superhelden-Blockbuster "The Flash" die Titelfigur spielt. In der FAZ gratuliert Andreas Kilb der Filmemacherin Jeanine Meerapfel zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Lori Evans Taylors Schwangeren-Horrorfilm "Bed Rest" (Filmdienst) und Andreas Malms "How to Blow Up a Pipeline" (Jungle World, unsere Kritik hier),
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Bühne

leicht bis in den Tod: Julien Gosselins "Extinction" bei den Wiener festwochen. Foto: Simon Gosselin

Size matters, ruft Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller nach dem Fünfstünder "Extinction", mit dem der französische Regisseur Julien Gosselin seinen Einstand bei den Wiener Festwochen gab. Ein echter Galaabend mit Thomas Bernhard, Schnitzler und Apokalypse: "Gosselin lässt die Zeit filmrealistisch aufleben, verankert die Jahrhundertwende thematisch mittels Psychoanalyse, Expressionismus, Trends wie Hypnose oder Haschisch sowie Disputen über Mahlers Kindertotenlieder. Die Erde beginnt alsbald tatsächlich zu beben und die Kamera stellt in einem weiteren harten Schnitt auf Farbe um und filmt ein makaberes Volksmusikringelspiel in Tracht und mit Hackebeil. An dem Punkt wurde bereits so viel Albtraumhaftes spürbar, dass das Massaker nur logisch erscheint." Nachtkritikerin Gabi Hift versank beim Schnitzler-Part geradezu in ihrem Theatersessel: "Eine wahre Hochglanzpracht im Stil der fünfziger Jahre Filme, wie etwa von Max Ophüls, opulent, elegant, changierend zwischen Melodram und Burleske... Gesprochen wird mal deutsch, mal französisch, in selbstverständlichem, verspieltem Wechsel. Französische Frivolität und schlamperte Wiener Sentimentalität harmonieren wunderbar - beide ironisch, beide leicht bis in den Tod."

Besprochen werden Aufführungen beim NRW-Theaterfestival "Impulse" (bei dem SZ-Kritikerin Cornelia Fiedler der "Trend hin zu konkreten, oft politischen Erzählungen und weg vom formal-ästhetischen Experiment" auffält), die Wiederentdeckung von Andrea Bernasconis Barockoper "L'Huomo" bei den Potsdamer Musikfestspielen ("Ein Ereignis!", ruft Peter von Becker im Tsp), die "Pension SchöllerInn" am Münchner Volkstheater (taz), Olivier Messiaens Monumentaloper "Saint François d'Assise" in Stuttgart (FR, Tsp), die Uraufführung von Giorgio Battistellis Pasolini-Oper "Teorema" ("Ohne jeden Mehrwert gegenüber dem Film", schimpft Manuel Brug in der Welt), Mozart-Opern bei der Landlebengala in Glyndebourne (FAZ).
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Kunst

Ariane Littman: "The Olive Tree" 2012, Performance am Hizme checkpoint in Jerusalem. Bild: HaL

Als politisches Statement versteht Stefan Trinks in der FAZ die Schau "Who by Fire: On Israel", mit der das Haus am Lützowplatz kritische Kunst aus Israel zeigt, kuratiert vom Künstler Liav Mizrahi: "Mizrahi berichtet, dass die Schau in dieser Form in Israel derzeit nur in Privaträumen und nicht in einem Museum stattfinden könnte, er auch nicht provozieren wolle, da er das Land ohnehin am Rande eines Bürgerkriegs sehe. Vielmehr verstehe er die komplett mit deutschem Geld finanzierte und insofern von möglicher Netanjahu-Zensur unberührte Ausstellung und insbesondere ihre Werke, von denen jedes eine völlig unterschiedliche Erzählung zum Land darstelle, als Einladung zum Dialog. Ein Dialog mit der Welt, so darf hinzugefügt werden, wie ihn die Documenta-Macher voriges Jahr vereitelt haben, indem kein einziger israelischer Künstler in Kassel nominiert war und seine Werke zeigen durfte." In Monopol schreibt Mirna Funk.

Weiteres: In der taz meldet Klaus Hillenbrand, dass die Beratende Kommission NS-Raubgut empfiehlt, Wassily Kandinskys "Das bunte Leben" an die einstigen jüdischen Besitzer zu restituieren. Die Bayerische Landesbank hatte das Werk vor 50 Jahren gekauft und dem Lenbachhaus als Leihgabe zur Verfügung gestellt: "Die Entscheidung gilt als bindend. Die Bayerische Landesbank hat sich vorab mit dem Verfahren einverstanden erklärt."
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Design

Für die britische Vogue ist es ein Rückfall, dass Edward Enninful, der mehr Schwarze und Trans-Menschen aufs Cover der Modezeitschrift holte, nun nach internen Machtkämpfen abgesägt wurde, findet Janique Weider in der NZZ. Als Strippenzieherin sieht sie die im Vogue-verse und in der Modewelt generell schon übermächtige Anna Wintour, die seit den Achtzigern die US-Vogue leitet. Zwar hatte Wintour die Vogue zu Beginn ihrer Amtszeit modernisiert. Sie "zeigte die aufmüpfige Madonna auf dem Titelbild, dann Hillary Clinton, Oprah Winfrey, später Michelle Obama und vor kurzem die ukrainische First Lady Olena Selenska. Doch Wintour stand und steht auch für vieles, das als überholt gilt. Sie ist mitverantwortlich dafür, dass sich Schönheit während Jahrzehnten mit den Adjektiven dünn, weiß und jung gleichsetzen ließ." Ein "Gerücht besagt, dass Enninful die Nachfolge von Anna Wintour bei der amerikanischen Vogue habe antreten wollen. Das Problem ist, dass Wintour auch mit 73 Jahren keineswegs an einen Rücktritt denkt, sondern Stück für Stück ihre Macht ausbaut."
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Literatur

Der Schriftsteller Cormac McCarthy ist gestorben. Wieland Freund verabschiedet sich in der Welt von einem wortkargen, zurückgezogenen Zauderer mit der modernen Welt. Ein Eremit war er zwar nicht, "er war einfach ein Mann von stählernem Desinteresse an allem, was nicht existenziell war. ... Selbstdeutungen waren ihm zuwider, psychologischer Realismus auch." Bei McCarthy "geschieht, was geschieht, und in McCarthys Romanen geschieht durchaus etwas: Mensch bewegt sich durch Landschaft, Mensch hat Hunger, Mensch hat verwirrende Gefühle, Mensch hat Mut (oder nicht), Mensch hat Angst, Mensch mordet, Mensch stirbt. ... Eher als eine Erzählung zu entwerfen, drang er erzählend zum Elementaren vor." Aber "es gibt eben auch McCarthys herrliche Prosa, die sich, oft in Gestalt von Naturbeschreibungen, wie ein Himmel über die staubige Straße der Handlung wölbt: Sätze von gewaltiger Schönheit, voller Bilder."

McCarthy "war ein Schriftsteller der Einsamkeit", schreibt David Hugendick auf ZeitOnline. Seine "Prosa zielte meist auf das Unheimliche", sein "Werk ist besessen von der Weltverfinsterung und der Verdammnis. Der Schauplatz dieser Prosa waren die Steppe, die Wüste, die Wälder von Tennessee und die Küste von Louisiana." Dort beschwor er "ein mythisches Gelände herauf, das dem seines literarischen Ahnen William Faulkner in vielem ähnelte. Dort fand McCarthy Platz für seine Seelengeografie des Menschen, keinen letztlich behaglichen Existenzialismus, sondern Verrohung, Nihilismus, die Gluthitze und die Todeskälte. ... Aber immer las man die Trauer, immer las man in dieser düsteren, mitleidlosen Literatur die Verzweiflung darüber, dass die größte Apokalypse immer der Mensch selbst ist."

Die vom Autor brüsk abgewiesene Nachfrage an Alain Claude Sulzer, was es mit dem Wort "Zigeuner" in seinem zu Förderungszwecken bei der Basler Literaturförderung eingereichten Romanfragment auf sich habe (unser Resümee), kam offenbar von einem einzelnen Gremiumsmitglied, einer Stadt-Vertreterin, auf Eigeninitiative, wie Paul Jandls NZZ-Artikel zum Thema zu entnehmen ist. ""In Sulzers neuem Buch kommt das Z-Wort vor, weil die Handlung in den sechziger und siebziger Jahren angesiedelt ist. Das vom Ich-Erzähler verwendete Wort entstammt dem damals üblichen Sprachgebrauch. Wer sich in der Literatur um realistische Atmosphäre bemüht, bekommt es mit der heutigen Realität des politischen Kulturbetriebs zu tun. Die Stadt Basel bittet Jurymitglieder, an eigenen Diversity-Kursen teilzunehmen. Sie werden moralisch nachgeschult. Aber auch Künstler stehen offenbar im Verdacht, heimlich rassistisches Unwesen zu treiben." Vielleicht, überlegt Jandl, brauchte es eher "verpflichtende Literaturkurse für die Politik. Dann müsste sie nicht nachfragen, was die Autoren meinen, und würde sie auch nicht für verkappte Rassisten halten."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Deborah Vietor-Engländer (FR) und Peter von Becker (Tsp) erinnern an die Schriftstellerin Judith Kerr, die heute vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen werden Eva Vieznaviecs "Was suchst du, Wolf?" (NZZ), Norman Maneas "Der Schatten im Exil" (SZ) und Maria Stepanovas "Winterpoem 20/21" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Czesław Miłosz' "Von Engeln":

"Man hat euch die weißen Kleider genommen,
Die Flügel und selbst das Sein,
Ich glaube euch dennoch ..."
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Musik

Johannes Eisenberg rekonstruiert in der taz das Hin und Her der juristischen Interventionen gegen die Rammstein-Berichterstattung der taz. Jost Müller-Neuhof wiederum wundert sich im Tagesspiegel über das Hin und Her der Staatsanwaltschaft in Sachen Till Lindemann. In einem BBC-Interview kündigt Paul McCartney noch für dieses Jahr einen mit Künstlicher Intelligenz erstellten, letzten Beatles-Song an. In der Berliner Zeitung hat Harry Nutt derweil viel Freude beim Durchblättern von McCartneys neuem Bildband "1964: Augen des Sturms".

Besprochen werden Janelle Monáes Album "The Age of Pleasure" (taz, mehr dazu bereits hier), ein Strawinsky-Konzert mit Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth (Standard) sowie das neue Album von Cat Stevens (Welt) und dessen Auftritt in Berlin (FR).
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