Efeu - Die Kulturrundschau

Es sind die Schwarmgeister

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16.06.2023. Die taz schwingt die Hüften zum Astro-Nubian Electronic Dance Sound from the Fashaga Underground. Die SZ begutachtet den versprochenen Park auf dem umgebauten Luftschutzbunker in St. Pauli und versichert den Kritikern: Das vermisste Grün muss einfach noch wachsen. Die FAZ bewundert Albrecht Dürer in Berlin. Die FR lernt in der Berliner Ausstellung über CLARA MOSCH, was subversive DDR-Performance-Kunst war. Die SZ freut sich in Düsseldorf über Demis Volpis queer-polyamourös-feministische "Giselle".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.06.2023 finden Sie hier

Musik


Tazler Julian Weber dankt dem Hamburger Label Ostinato sehr dafür, dass mit dem Album "Synthesized Sudan: Astro-Nubian Electronic Dance Sound from the Fashaga Underground" die irrwitzigen, improvisierten Sounds des sudanesischen Jaglara-Stils nun auch in Deutschland leicht auf Platte greifbar sind. Hinter der Musik stecken keine Außerirdischen, sondern der "bodenständige sudanesische Keyboarder Jantra. Als Solist spielt Jantra so virtuos auf wie ein ganzes Hochzeitsorchester." Seine Musik "klingt weder angriffslustig noch kriegerisch, es ist ein zutiefst upliftender, ja heiterer und friedfertiger Sound. ... Songs im herkömmlichen Sinne komponiert Jantra gar nicht, er freestylt." Und seinen westlich programmierten Yamaha-Synthesizer hat er dafür "von Mechanikern so umprogrammieren lassen und hinterher weiter an der Klangpalette 'feinjustiert', bis die charakteristischen Jaglara-Melodiegirlanden entstehen konnten".



Universal Records will die Promo-Tätigkeiten für Rammstein vorerst einstellen, meldet Julian Weber in der taz. Jene, die im Fall Till Lindemann die Unschuldsvermutung hochhalten, sollten diese auch bei jenen Frauen ansetzen, "denen vorgeworfen wird, ihre Geschichte nur aus Wichtigtuerei und Geltungssucht zu erzählen", meint Joachim Huber im Tagesspiegel. Tobias Ribi zeigt sich derweil in der NZZ entsetzt darüber, dass KiWi Lindemann fallen ließ: für ihn das Beispiel "eines Verlags, der seine Entscheidungen nicht selbständig trifft, sondern die Fahne in den Wind hängt".

Weitere Artikel: Philipp Bovermann bringt es in der SZ schier zur Verzweiflung, dass die beiden früheren WG-Brüder Otto Waalkes und Udo Lindenberg derzeit die deutschen Charts bestimmen - und zwar je im Duett mit jungen Rappern: "Hip Hop hat ja das Problem, so schrecklich lebendig und gegenwärtig zu sein. ... Also hampelt man sich die Gegenwart aus dem Leib." In der Welt zieht Ulf Poschardt seinen Hut vor dem schwulen Rapper Maurice Conrad, der im Battle Rap nicht die Mutter, sondern den Vater seines Kontrahenten fickt: "Dort, wo rüde Schwulenverachtung kulturell eher normal ist oder war, setzt Conrad einen queeren Machismo." Lars Fleischmann berichtet in der taz von der Monheim Triennale, die sich vom Musikfestival zum Klangkunst-Happening gewandelt hat. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über Christy Moores "Knock Song". Matthias Niederberger porträtiert für die NZZ Josh Homme von der Rockgruppe Queens of the Stone Age, die heute ein neues (im Standard besprochenes) Album veröffentlicht.



Besprochen werden Beyoncés Konzert in Köln (SZ), ein Klavierabend von Arcadi Volodos im Wiener Konzerthaus (Standard), ein tschechischer Konzertabend der zwei Berliner Philharmoniker Nikolaus Römisch und Philipp Bohnen mit der Pianistin Kyoko Hosono in Berlin (Tsp), eine von Hans-Christoph Rademann mit 250 Schulkindern erarbeitete Aufführüng von Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung" beim Musikfest Stuttgart (online nachgereicht von der FAZ), ein Konzert von The War on Drugs in Berlin (Tsp), Cat Stevens' Auftritt in Berlin (FAZ), ein Bildband mit Fotografien von Paul McCartney aus den Jahren 1963 und 1964 (FAZ) und Meshell Ndegeocellos "The Omnichord Real Book" (ZeitOnline).

Archiv: Musik

Kunst

Clara Mosch, "Baumbesteigung" / 1979 / Pleinair, Rügen. © Lindenau-Museum Altenburg / Archiv Ralf-Rainer Wasse, courtesy: KVOST.

Einen wichtigen Ausschnitt aus der Geschichte subversiver DDR-Performance-Kunst kann Ingeborg Ruthe (FR) im Berliner Kunstverein Ost anhand einer Gruppe nachvollziehen, die sich - quasi als Kollektivsingular - den Namen CLARA MOSCH gegeben hat. Dass die Fotografien von deren Happenings in der DDR überhaupt erhalten sind, ist an sich schon aufsehenerregend, verrät sie, die Bilder hat ein eingeschleuster Stasi-Mitarbeiter gemacht. "Was war staatsgefährdend an der Kunst dieser Gruppe? Etwa ein solches Großfoto? Da sitzt Ranft wie in Swifts 'Gullivers Reisen' im Lande Liliput auf einem Riesenstuhl am Meer und frönt offensichtlich seinem im realen Sozialismus leider unstillbaren Fernweh. Der Blick geht gen Skandinavien. Und davor hat Michael Morgner sich aufs Feuerfeld Mukran (zwischen Prora und Saßnitz) als Gekreuzigter gelegt. Das nächste Foto zeigt, wie einer baden geht: Die Aktion aus dem Jahr 1981 hieß 'Überschreiten des Sees bei Gallentin', das war nahe Schwerin. Und Morgner mimte den Jesus. Die Kirche in der atheistischen DDR hat sich daran nicht gestört. Wohl aber die Behörde."

Albrecht Dürer: Die Drahtziehmühle, 1489-1494. © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Jörg P. Anders


Sich Gedanken zu machen über die Genese einer der drei weltweit größten Albrecht-Dürer-Sammlungen in Berlin "könnte Knäckebrot sein", denkt Stefan Trinks in der FAZ zunächst, lässt sich aber von der Ausstellung "Dürer für Berlin. Eine Spurensuche im Kupferstichkabinett" im Berliner Kulturforum vom Gegenteil überzeugen: Hier lässt sich noch Neues über einen der größten Künstler überhaupt lernen, erkennt er. "Das hinreißende Aquarell der 'Drahtziehmühle', bei der die Datierung recht weit zwischen 1489 und 1494 differiert, ist ein Meisterwerk des 'natürlichen' Kolorits und des Neuen Natursehens schon im ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert. Angesichts der noch leicht unperspektivisch in der Landschaft hinter Nürnberg herumstehenden Häuser tendiert man zur Frühdatierung, bei der der erst Achtzehnjährige das Umland seiner Stadt erkundete und es dennoch schon vermochte, die 'Kunst aus der Natur zu reißen', wie er es später als seine Maxime formulieren sollte. Alles ist hier bereits entfaltet: das entrückende Sfumato der blauen Berge weit hinten, zeitgleich zu Leonardo in der Toskana, aber auch anachronistisch modern und abstrakt-frei gesetzte grüne und braune Farbflächen ohne jegliche Binnenzeichnung."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Who by Fire. On Israel" im Haus am Lützowplatz(taz), die Gruppenausstellung "Assembly" im Portikus Frankfurt (FR) und KI-generierten Bilder von Florian Adolph in "Latencies" in der Galerie Jean-Claude Maier (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Das hatten wir gestern zu erwähnen vergessen: Lucien Scherrer verzweifelt in der NZZ schier darüber, welche der sensationellen Passagen, die aus Sibylle Bergs Biografie kolportiert werden, nun stimmen oder nicht - und was die Schriftstellerin dabei selbst fingiert und was nicht. Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die Welt dokumentiert die Laudatio der Schriftstellerin Ilma Rakusa auf ihre Kollegin Ljudmila Ulitzkaja zur Verleihung des Günter-Grass-Preises.

Besprochen werden John Maxwell Coetzees "Der Pole" (NZZ), Victor Jestins "Der Tanzende" (online nachgereicht von der FAZ), T.C. Boyles "Blue Skies" (Intellectures), Jess Kidds "Die Insel der Unschuldigen" (FR), und neue Bilderbücher, die sehnsuchtsvoll zum Mond blicken (SZ). Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Architektur

Bäume auf Bunker: Der umgebaute Luftschutzbunker in St. Pauli. Foto: phase 10 Ingenieure

Ordentlich Grün drum rum und schon sieht der Luftschutzbunker am Hamburger Heiligengeistfeld aus wie ein friedliches Urlaubsparadies, schreiben Till Briegleb und und Gerhard Matzig in der SZ. Er ist jetzt ein "nachhaltiges Hotel" mit Konzerthalle und umlaufendem Park und Liegewiese auf dem Dach, die frei zugänglich werden sollen. Inzwischen gibt es viel Streit um das noch nicht ganz fertiggestellte Projekt: Architekten streiten sich um Urheberrechte und die Linke will wissen, warum noch niemand aufs Dach darf. Das muss halt noch wachsen, beruhigen die SZ-Reporter, die oben Efeu-, Rank- und Kriechgewächse begutachtet haben: "Deren Entwicklung soll dann relativ zügig dafür sorgen, dass der grüne Beton durch grüne Blätter verdeckt wird. Um diesen Unterschied von Nahem mitzuerleben, muss allerdings noch der so genannte Bergpfad fertiggestellt werden, die 560 Meter lange und sehr breite Rampe, die sich vom Bunkervorplatz bis auf das Dach in 58 Metern Höhe um das graue Kriegsmassiv windet. Doch schon jetzt lässt sich beim Pressetermin auf dem Dach ziemlich klar sagen, dass die vom Boden geäußerten Vorwürfe, der Grüne Bunker sei nur grünes Beton, wohl von der Bergwanderung spätestens im nächsten Frühling entkräftet werden."

Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz lernt im Palladio Museum in Vicenza den göttlichen Raffael als Architekten kennen, auch wenn nur wenige seiner Projekte gebaut wurden (der Künstler wurde nur 37 Jahre alt): "Welche Architektur Raffael aber im Sinn hatte, wird sichtbar in seinen Wandbildern im Vatikan, vor allem aber in den Entwürfen, also den Kartons für die Wandteppiche zum Leben des Apostel Paulus. Die in Brüssel gewebten Teppiche befinden sich im Vatikan, die Kartons in London. Architektur und Malerei sind bei ihm nicht zu trennen, in Vicenza aber ist Gelegenheit, die Entstehung seiner Baukunst aus dem Vorbild der Antike unmittelbar nachzuvollziehen."
Archiv: Architektur

Film

Die verschwundene Kamera formt das Reale: "Coûte que coûte" von Claire Simon

Das Berliner Kino Arsenal zeigt Filme der Dokumentaristin Claire Simon. Deren "großes Geheimnis besteht darin, wie sie sich und ihre Kamera zum Verschwinden bringen", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg. Den Auftakt macht heute Abend ihr Film "Notre Corps", der in einer Pariser Frauenklinik den weiblichen Körper in den Blick nimmt (unsere Berlinale-Kritik) und den Dannenberg ebenso empfiehlt wie Simons "Coûte que coûte" von 1995, der den Überlebenskampf eines kleinen Betriebs in Nizza dokumentiert, der frische Fertiggerichte für Supermärkte produziert: "Vom ersten Moment an frappiert die freundliche Sachlichkeit, mit der die Angestellten ihre Forderungen gegenüber ihrem Chef vorbringen. ... Mitunter erkennt man, dass sich hier schon Claire Simons menschenfreundlicher Geist über die Situation legt. Dass Simon die Realität formt, spürt man an dem Ton, den der Film anschlägt. Schnitt, Tempo und Musik erinnern eher an eine heitere Angestelltenkomödie als an eine Tragödie aus dem Inneren des Kapitalismus. Auch in einem Dokumentarfilm kommen die Erzählmuster aus dem Fiktionalen." Im Tagesspiegel empfiehlt Esther Buss die Reihe.

Außerdem: Maria Wiesner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schauspielerin Glenda Jackson. Besprochen werden Wes Andersons "Asteroid City" (NZZ, mehr dazu bereits hier, dort und da), Andy Muschiettis "The Flash" (Standard, unsere Kritik), Stephen Williams' auf Disney+ gezeigtes Biopic "Chevalier" über den schwarzen Geiger und Komponisten Chevalier de Saint-Georges (Tsp) und Sam Levinsons neue Serie "The Idol" (Freitag).
Archiv: Film

Bühne

Giselle in der Rhein-Oper: Doris Becker, Ensemble Ballett, © Bettina Stöß


Relektüren des eigentlich sehr klassisch-romantischen Balletts "Giselle" haben Konjunktur, stellt Dorion Weickmann (SZ) fest, so auch an der Düsseldorfer Rhein-Oper. In der Inszenierung von Demis Volpi soll es darum gehen, die eigentlich binären Geschlechteroppositionen im Stück "queer und polyamourös zurechtzubiegen und mit feministischen Applikationen - Anleihen bei Virginia Woolf und Ingeborg Bachmann - zu versehen." Das gelingt zwar nicht immer, findet Weickmann, dennoch sieht sie Potential: "Schicksalsmomente ziehen vorbei, Sternstunden und Niederlagen. Es sind die Schwarmgeister, die Wilis in weißen Tutus, die diesem biografischen Defilee ein beinahe liturgisches Gepräge geben. Bei Volpi sind es Frauen und Männer, die den Totentanz vollführen - intensiv und anrührend."

Szene aus "Song of the Shank" in Wien. Foto: Nurith Wagner-Strauss


Ganz glücklich ist Maxi Broecking in der taz nicht mit der Uraufführung von George E. Lewis' Oper "Song of the Shank" bei den Wiener Festwochen: Die Geschichte um den schwarzen Komponisten "Blind Tom", als Sklave geboren, "hätte subtiler umgesetzt werden können, selbst wenn - quasi mit dem Holzhammer - deutlich wird, dass sich der in seinem Monolog selbst ermächtigende Tom zum Afropessimisten entwickelt hat: Auch in Zukunft wird sich nichts ändern." Der Ansatz für mehr Diversität auf den deutschsprachigen Bühnen ist aber durchaus lobenswert, so der Kritiker: "Im Unterschied zur Figur des 'Blind Tom' bleibt Lewis selbst optimistisch. Eine Botschaft seiner Oper sei, westliche Kultur in ihrer Selbstwahrnehmung zu dekolonisieren und zu erkennen, dass es weitaus mehr Perspektiven auf Musik gibt als jene, die wir gewohnt sind. Auch die einzige Künstlerin im Ensemble, die Bratschistin Megumi Kasakawa, ist zuversichtlich, dass es auch dort im Sinne der angestrebten Diversität bald mehr Instrumentalistinnen geben wird."

Besprochen werden außerdem Alexander Zeldins "The Confessions" bei den Wiener Festwochen(Nachtkritik, Standard), Joel Pommerats "Contes et Légendes", ebenfalls bei den  Festwochen (Nachtkritik), Kathrin Kondaurows Inszenierung der "Fledermaus" an der Staatsoperette Dresden (nmz), Markus Öhrns Performance "Häusliche Gewalt" an der Volksbühne (BlZ) sowie Adam Ganz' Installation "Felix's Room" am Berliner Ensemble (FR).
Archiv: Bühne