Efeu - Die Kulturrundschau

Bloß nicht zur Paartherapie!

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02.08.2023. Die Feuilletons erleben mit Teodor Currentzis "The Indian Queen" bei den Salzburger Festspielen einen musikalisch phänomenalen, politisch aber zwielichtigen Abend. Die SZ sieht in Japan den neuen Film von Hayao Miyazaki und versteht danach das Leben nicht mehr. Die Zeiten ändern sich, kommentiert die Welt die vom Rolling Stone neu ausgerufenen 500 besten Alben aller Zeiten: Spürbar zeigt sich, wie junge Künstlerinnen das Musikgeschäft erobern. Linus Volkmann vom Kaput Mag erinnert sich mit Schaudern an seine Zusammenarbeit mit Fabian Wolff im Popjournalismus zurück: Schon damals inszenierte dieser sich an passenden wie unpassenden Stellen als jüdische Stimme.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.08.2023 finden Sie hier

Film

"The Boy and the Heron": Miyazakis Rückkehr auf die Leinwand

Thomas Hahn hat in Japan für die SZ bereits den neuen Film des japanischen Animationsmeisters Hayao Miyazaki gesehen, der im September das Filmfestival Toronto eröffnen wird Der Filmemacher hatte sich ja eigentlich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt, aber nun mit "The Boy and the Heron" doch noch ein Comeback in Angriff genommen. Erzählt wird "die Geschichte eines Jungen, der im Krieg seine Mutter verliert und vor lauter Sehnsucht nach ihr in ein Fantasy-Abenteuer gerät." Doch dieser Film "ist persönlicher, wechselhafter, in gewisser Weise radikaler" als Miyazakis bisherige Filme: "Raue Wirklichkeit und bunte Fantasie fließen ineinander zu einem herrlichen, albtraumhaften Gemälde, das vielleicht mehr über den Wert von Natur und Frieden erzählt als jeder wütende Protest und jede unmissverständliche Parole. ... Es zeigt sich: Die Fantasie hat Hayao Miyazaki nicht verlassen. Dem begnadeten Geschichtenerzähler geht allenfalls ein bisschen die Logik der Handlung abhanden. Sein Vermächtnis-Film stürmt mit so vielen Eindrücken und großartigen Momenten auf das Publikum ein, dass man anschließend etwas erschöpft und ratlos ist. Aber vielleicht ist genau das die Botschaft eines weisen Mannes von 82 Jahren: dass das Leben zu bunt ist, um verstanden zu werden."

Weitere Artikel: In Australien und Neuseeland stellt Disney in absehbarer Zeit das Geschäft mit physischen Heimkino-Medien ein, berichtet der Standard: Dieses Beispiel werde der Marktentwicklung folgendd wohl auch in anderen Ländern bald Schule machen. Besprochen werden Ferit Karahans "Brother's Keeper" (Georg Seeßlen fühlt sich auf ZeitOnline "direkt an die Welt von Charles Dickens erinnert"), Sobo Swobodniks "Geschlechterkampf" (tazlerin Carolin Weidner beobachtet "eine große Wut in diesen neunzig Minuten"), Andrea Segres "Welcome Venice" ("das Ende dieses schönen Films, in dem es vorher nur selten etwas zu lachen gibt, ist ziemlich lustig", verspricht Lukas Foerster im Perlentaucher), Carine Tardieus "Im Herzen jung" ("Im Abgedroschenen liegt stets ein Moment Wahrheit", schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher), ein neuer "Teenage Mutant Ninja Turtles"-Blockbuster (Standard), die Netflix-Serie "Heartstopper" (Tsp) und die Teenie-Serie "The Summer I Turned Pretty" (taz).
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Literatur

Stefan Laurin schreibt in der Jungle World zum Tod Martin Walsers (hier und dort unsere Resümees). In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Kathrin Rögglas NSU-Roman "Laufendes Verfahren" (NZZ, SZ), David Schalkos "Was der Tag bringt" (Tsp), Charles Fosters "Ruf des Sommers" (FR), Antony Penroses "Immer lieber woanders hin. Die Leben der Lee Miller" (taz), Doris Knechts "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" (Welt), Deborah Levys "Augustblau" (SZ) und Franziska Thun-Hohensteins "'Das Leben schreiben'. Warlam Schalamow - Biographie und Poetik" (FAZ).
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Bühne

Jeanine De Bique als Teculihuatzin/Doña Luisa in "Indian Queen". Foto: Marco Borrelli. 

Ein musikalischer Triumph! Die Aufführung von Henry Purcells' letzter, unvollendeter Semi-Oper "The Indian Queen" wurde bei den Salzburger Festspielen vom Publikum euphorisch gefeiert und auch SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ist entzückt. Zu sehen war die konzertante Fassung einer szenischen Ko-Produktion von Dirigent Teodor Currentzis und Peter Sellars, die die ursprüngliche Handlung mit einem Roman der Nicaraguanerin Rosario Aguilar überschrieben haben. Es geht um die verhängnisvolle Liebe einer Maya-Prinzessin zu einem spanischen Conquistador, lesen wir. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Currentzis als exzentrischer "musikalischer Vorturner", so Brembeck: "Besonders der Chor begeistert mit romantischen Träumereien, packender Drastik. Natürlich ist diese Currentzis-Show eitel. Aber dieser Dirigent weiß seine Eitelkeit in den Dienst der Musik zu stellen. Der ganze Abend gelingt ihm eindringlich und zutiefst menschlich." Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg wird "restlos hineingezogen" in die Geschichte, was vor allem an der Protagonistin liegt: "Jeanine De Bique, eine dunkel timbrierte, den tiefen Ernst der Situation in Stimme und Spiel fassende Sopranistin, ist als Teculihuatzin der Dreh- und Angelpunkt, um sie herum ein so spielstarkes wie musikalisch starkes Ensemble." Aber: es ist auch ein Abend im "politischen Zwielicht", wie FAZ-Kritiker Jürgen Kersting betont. Politisch war Currentzis Engagement umstritten: Der Dirigent tritt parallel auch in Russland auf und hat sich bisher nie dezidiert kritisch zu Putins Regime geäußert.

Besprochen werden Valentin Schwarz' Inszenierung von Wagners "Walküre" in Bayreuth (SZ) sowie Karin Henkels Adaption von Michael Hanekes Film "Amour" und Ulrich Rasches Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" bei den Salzburger Festspielen (Welt).
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Architektur

Russische Bomben vernichten im Krieg gegen die Ukraine zahlreiche konstruktivistische Bauwerke, berichtet Konstantin Akinscha in der FAZ. Diese sind zum einen "Wahrzeichen der modernistischen Sowjet-Architektur", zum anderen koloniale Überbleibsel des Bolschewismus: "Das Schicksal des modernen Erbes von Charkiw, Saporischschja und anderen Orten hängt am seidenen Faden. Die Ukrainer betrauern die zerstörten konstruktivistischen Bauten. Zugleich erinnern die Denkmäler der Moderne, die zu sowjetischen Herrschaftszeichen wurden, an die italienische Kolonialarchitektur jener Zeit. Im Kontext der Diskussion über die Entkolonialisierung der ukrainischen Kultur ist ein neuer Umgang mit dem sowjetischen Konstruktivismus unumgänglich. Architekten aus Moskau und Leningrad haben modernistische Gebäude nicht nur in Charkiw und Saporischschja, sondern auch in Baku, Almaty, Bischkek und sogar in der Mongolei errichtet. Der Konstruktivismus war Stil der Moderne, aber auch der bolschewistischen Herrschaft. Natürlich entspricht der sowjetische 'Kolonialismus' nicht den klassischen Modellen der europäischen Kolonialmächte. Er basiert ursprünglich auf Internationalismus, Emanzipation und positiver Diskriminierung. Die frühe Sowjetunion war ein utopisches Imperium."
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Musik

Der Popjournalist Linus Volkmann erinnert sich im Kaput Mag an die Tage, als er als Intro-Redakteur auch mit Fabian Wolff zusammenarbeitete, der damals im Rezensenten-Geschäft noch Fuß zu fassen versuchte. Schon damals war es Wolff wichtig, sich in jeder Poprezension als vermeintlich jüdische Stimme zu inszenieren. Aber als Wolff in einem "Nebensatz unvermittelt auf die Shoah verweist", hakt Volksmann ein: "Da die besprochene Platte das weder in Texten oder ihrem Kontext hergibt, teile ich ihm mit, diesen Part streichen zu wollen. Mir erscheint es unangemessen, derart bezugslos in einer Plattenkritik das Menschheitsverbrechen anzureißen - um dann genauso unvermittelt wieder zum Sound der Musik zurückzukehren. Diese redaktionelle Aussage empfindet er offensichtlich als Kränkung. Er lässt keine Zweifel aufkommen, dass es ungebührlich sei, ihn auf eine dem Rahmen nicht gerecht werdende Verwendung der Shoah hinzuweisen. Denn von Anfang an definiert er fast jeden beruflichen wie privaten Austausch darüber, von welcher Sprecherposition sie ausgeht: Der Autor ist Jude." Dieses redaktionelle Feedback habe Wolff ihm auch Jahre später noch via Social Media vorgeworfen.

Kenner merken auf: Es gibt ein neues Album aus dem bunten Kosmos von Jens Rachut. Für das neue Projekt Kleiber hat sich das Hamburger Punk-Urgestein mit diversen klingenden Namen aus dem deutschen Indiepop zusammengetan und dazu noch einen Chor verpflichtet. "Der Krieg der Stille" heißt das so entstandene Album, schreibt Jens Uthoff in der taz. Das Thema des Albums ist "Trennung", die musikalische Vielfalt ist hoch: "Das erste Stück 'Metaphern' setzt gleich mal mit Rasseln und Klangstäben ein, später ertönen Desperado-Gitarren, ein Hauch Tropicalismo weht durch den Track, dann kommen langsame, ultramelancholische Klaviertöne und Soprangesang dazu. Parallel hört man Rachut als Erzähler, er spricht die Verse eher, als dass er sie singt. Fast 13 Minuten dauert der Song und setzt den Ton für das Werk. Wie wenig erwartbar der Sound dieses Albums ist, zeigt im Anschluss auch 'Rum Art'. Ein funky Gitarrenlick zieht da repetitiv seine Kreise, später wird krautrockig herumgefreakt, Synthies und Streicher ertönen. Im Refrain singt ein Chor: 'Bloß nicht zur Paartherapie!'"

Michael Pilz kommentiert in der Welt die vom Rolling Stone nach 19 Jahren aktualisierte Liste der "500 besten Alben", an deren Ermittlung er selbst als Wahlmann beteiligt war. Naturgemäß gab es einige Verschiebungen, die auf Twitter für erwartbare Turbulenzen unter den üblichen Paranoikern sorgte. Aber "um Bob Dylan zu zitieren: Die Zeiten ändern sich. Ewig ist nicht einmal die Ewigkeit. Schon möglich oder sogar sehr wahrscheinlich, dass man auch als Juror einer Albenbestenliste im August 2023 andere Alben auswählt als 2004 - und zwar nicht nur, weil 'Back to Black' von Amy Winehouse damals noch gar nicht erschienen war. Die großen Debütanten von 2004 belegen nun die Plätze 35 (Kanye West) und 143 (Arcade Fire). Dass aber das älteste der Alben in der Liste nicht von Elvis stammt, sondern von Billie Holiday und dass die jüngsten Alben durchweg weiblicher Natur sind, sie stammen von Billie Eilish, Little Simz, Fiona Apple und Rosalía, liegt einerseits daran, dass junge Künstlerinnen die Musikmärkte erobert haben - und, andererseits, am Geist der Zeit."

Außerdem: Teresa Rübel freut sich im Tagesspiegel auf das Berliner Festival Young Euro Classic. Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter der "geschätzte fünfte Comebackversuch" der Dexys (Standard).

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Kunst

Kulturpfarrer Thomas Zeitler spricht im Interview mit Andreas Thamm in der taz über die Ausstellung "Jesus liebt" mit Bildern von Rosa von Praunheim in der Kirche St. Egidien in Nürnberg, die nach Protesten wieder geschlossen wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Monet im vollen Licht" im Grimaldi Forum Monaco (FAZ), die Ausstellung "Renegades. San Francisco: Queer Life in the 1990s" mit Fotografien von Chloe Sherman im F hoch 3 - Freiraum für Fotografie in Berlin (tsp), eine Ausstellung mit Werken von Anna Jermolaewa im Kunsthaus Bregenz (Standard).
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