Efeu - Die Kulturrundschau

Alles Finesse

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04.10.2023. FAZ und FR schwelgen in einem zähnefletschenden Frankfurter "Figaro". Ein gigantisches Marx-Mosaik wird in Halle ausgerechnet mit Wüstenrot-Geld restauriert, berichtet Zeit Online. Die Welt sieht in einer Bonner Architekturausstellung Berliner Häuser mit den Augen klimpern. Die Literaturkritik trauert um den syrischen Schriftsteller Khaled Khalifa, der sich von den Fundamentalisten dieser Welt die Komik nicht nehmen ließ. Und Teodor Currentzis lässt sich in Russland direkt von Wladimir Putin finanzieren, hat das Badblog herausgefunden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.10.2023 finden Sie hier

Kunst

Renaus Wandbild vor der Restaurierung. Foto: Thomas Wolf © Wüstenrot Stiftung


Zahlreiche DDR-Wandmosaike von hohem kulturhistorischen Wert sind vom Verfall bedroht. Wie Doreen Reinhard auf Zeit Online berichtet, gehört die zutiefst westdeutsche Wüstenrot-Stiftung zu den Akteuren, die diese künstlerischen Zeugnisse des Realsozialismus zu retten versuchen. Ein besonders spektakuläres Beispiel dieser DDR-Staatskunst findet sich in Halle-Neustadt, an einem Plattenbau: "Das Bild ist ein gigantisches Puzzle, zusammengesetzt aus über 11.000 Fliesen. Titel: Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR. Entdecken kann man darauf Karl Marx, eine goldene Weizenähre, Kollektive von Arbeitern und Bauern, dargestellt in leuchtenden Farben. Der Künstler Josep Renau hat das Mosaik in den Siebzigerjahren gestaltet. Ein Kommunist aus Spanien, der einst in die DDR ausgewandert war. Dort blieb Renau ein Exot, übernahm allerdings einige Auftragsarbeiten für den Staat." Warum nun investiert Wüstenrot ausgerechnet hier?" Es sei "gewissermaßen ein Einsatz für eine bedrohte Gattung. Bei der Stiftung sei das DDR-Programm willkommen, sagt Kurz. Nur ein älterer Mitarbeiter habe anfangs den Kopf geschüttelt, weil er nicht verstehen konnte, warum man etwas restauriert, in dem Karl Marx auftaucht."
Nach der Restaurierung. Foto: Thomas Wolf © Wüstenrot Stiftung


Weitere Artikel: Sophie Jung berichtet in der taz vom Avantgardekunstfestival steirischer herbst in Graz. Hannes Hintermeier stellt in der FAZ die Pläne für das Salzkammergut vor, das 2024 Europäische Kulturhauptstadt sein wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Gertie Fröhlich - Schattenpionierin" im Wiener MAK (Zeit Online), die Ausstellung "Tizian 1508. Die Anfänge einer glanzvollen Laufbahn" in der Accademia in Venedig (Tagesspiegel), eine Philip-Guston-Schau in der Londoner Tate Modern (Guardian) und die Ausstellung "House of Kal" am neuen Standort der NGBK in der Berliner Karl-Liebknecht-Straße 11/13 (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus der "Hochzeit des Figaro" in Frankfurt


Die Frankfurter Presse ist begeistert von Tilmann Köhlers "Figaro"-Inszenierung an der Frankfurter Oper, die gleichzeitig der Einstand des neuen Generalmusikdirektors Thomas Guggeis ist. Ist ein solches Stück heutzutage nicht zu kanonisch, beziehungsweise weiß-männlich? Keineswegs, weiß Wolfgang Fuhrmann in der FAZ: Schließlich gehe es hier um "Machtmissbrauch, sexuelle Nötigung und sexuelle Belästigung ... Männliche Herrschaft und männliche Lust verschwören sich unheilvoll." Mozart löst, wie man weiß, derartige Konflikte am liebsten spielerisch und die Inszenierung übernimmt das mit wenigen Abstrichen phänomenal, findet Fuhrmann. Die wahre Brillanz des Stoffes liegt seiner Meinung nach in der Musik selbst: "Thomas Guggeis, der neue Generalmusikdirektor, führte mit dem Museumsorchester diese Gefährlichkeit vom ersten Takt an vor, in einem wie ein Drahtseil gespannten, aufgerauten Klang, in manchmal an der Grenze des Leistbaren voraneilenden Tempi, in dem unentwegten, vor allem über die Bläser vermittelten Dialog mit den Sängern."

"Mozarts 'Le nozze di Figaro' ist ein perfektes Werk in Wort und Ton", stellt Judith von Sternburg in der FR gleich zu Beginn ihrer Besprechung klar. Auch für sie ist Guggeis' Einstand rundum gelungen. In seinem "'Figaro' ist alles Finesse, schlank, aber nicht mager, aber gegenüber denen auf der Bühne nicht einmal exorbitant rücksichtsvoll, dafür herrlich alert und ausreichend aggressiv. Wenn Figaro Kihwan Sim seinen Zorn gegen den übergriffigen Grafen in jenen sehr kurzen Song überführt ('Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen'), dann ist in Frankfurt die Revolution nur noch eine Minute entfernt. Hier wird nicht geträllert, hier werden die Zähne gefletscht, und es klingt trotzdem toll, aber man will Figaro nicht zum Feind haben."

Weitere Artikel: Michael Wolf überlegt in der nachtkritik, was Sibylle Bergs Engagement für Martin Sonneborns Satirepartei (und ähnliche Aktionen anderer Künstler) für das politische Theater bedeutet. Christoph Becher resümiert für die nmz die wichtigsten Entwicklungen im September in der Oper- und Musikwelt

Besprochen werden eine Büchners "Dantons Tod Reloaded" in der Bearbeitung von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani am Hamburger Thalia-Theater (taz), "Carmen"-Inszenierung am Théâtre des Arts in Rouen (NZZ), "La Traviata" an der Staatsoper Wien (Standard), Jacques Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" am Staatstheater Darmstadt (FAZ), Jean Genets "Die Zofen" am Münchner Volkstheater (FAZ, SZ), Ágota Kristófs "Das große Heft" ebenfalls am Volkstheater (SZ) und "Im Menschen muss alles herrlich sein" nach Sasha Marianna Salzmanns Roman an den Münchner Kammerspielen (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In Syrien gelangten seine Bücher nie in den Verkauf, dennoch blieb der oppositionelle Schriftsteller Khaled Khalifa seinem Heimatland treu: Nun ist der 59-Jährige in Damaskus gestorben. Er "gilt als einer der profiliertesten Chronist*innen Syriens", schreibt Julia Neumann in der taz. "Seine Romane handeln von Fundamentalisten, berichten von Massakern, Vertreibungen und Massengräbern. Der Brutalität stellte er eine Prise Komik und literarische Sinnlichkeit entgegen. Bombenanschläge wurden Teil seines alltäglichen Lebens. Er fühlte sich allein, seine Freund*innen emigrierten oder starben. Doch Khalifa blieb, umgeben von leeren Straßen und dunklen Herzen. Er schrieb daheim oder in Straßencafés. ... In Damaskus und nicht nur in der arabischen Welt fehlt nun eine starke Stimme des Widerstands."

Ueli Bernays erinnert sich in der NZZ an noch gar nicht lange zurückliegende Begegnungen mit Khalifa, der in Gesprächen immer wieder von den Katastrophen erzählte, die sein Heimatland heimsuchen. Er "gab sich als Zeitzeuge zu erkennen, der jede Hoffnung auf ein demokratisches Syrien aufgegeben hatte. Dass er aber trotz Desillusionierung nicht zum Zyniker geworden war, verdankte er offenbar der Literatur, die ihm Halt gab. Als Leser bewanderte er die Weltliteratur; als Schriftsteller widmete er sich zu fixen Tageszeiten diszipliniert seinem Schreiben. ... In seinen fesselnden Romanen hat Khalifa facettenreich aufgezeigt, wie die syrische Gesellschaft von der Baath-Partei unterdrückt und vom Asad-Regime gebeutelt wurde."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Katrin Hillgruber resümiert in der FAZ ein deutsch-ukrainisches Dichtertreffen in Transkarpatien, im äußerst westlichen und damit vom Krieg bislang verschonten Teil der Ukraine. Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von seinem Ausflug zu Marcel Prousts Grab auf dem Pére Lachaise. Kristina Maidt-Zinke freut sich in der SZ über die "couragierte Neugründung" der Literaturzeitschrift Delfi. Im Welt-Gespräch erklärt Zitatforscher Gerald Krieghofer, wie er Zitate verifiziert und kursierende Zitatfälschungen als solche identifiziert.

Besprochen werden unter anderem Ilija Trojanows "Tausend und ein Morgen" (Zeit), Georg Ringsgwandls Romandebüt "Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourneeschlampe Doris" (Tsp), Jan Peter Bremers "Nachhausekommen" (BLZ), Liao Yiwus "Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs" (NZZ), ein Sammelband zum zehnjährigen Bestehen der Literaturzeitschrift Das Wetter (SZ) und Drago Jančars "Als die Welt entstand" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Staatsgalerie mit Mannequins, Stuttgart, 1980er Jahre © James Stirling/Michael Wilford fonds, Collection Centre Canadien d'Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal


Markus Woeller betrachtet für die Welt in der Ausstellung "Alles auf einmal", die derzeit in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen ist, das architektonische Erbe der Postmoderne, das mehr hergibt, als mancher meint, so der Kritiker, der wünschte, heutige Architekten und Bauherren würden sich von einer Schau inspirieren lassen, bei der auch mal Berliner Häuser "mit den Augen klimpern": "Denn die Zeit für eine zweite Postmoderne ist womöglich angebrochen. Verhandelt wird sie allerdings nicht im Museum, sondern vor dem Hintergrund von Inflation, steigenden Materialpreisen, hohen Zinsen, fehlenden Handwerkern, strauchelnden Investoren und pleitegehenden Baufirmen. Die Bundesregierung in Berlin hat in dieser Woche mit einem Maßnahmenpaket reagiert, will 'serielles Bauen hinbekommen', so Olaf Scholz. Das klingt nicht gerade ermutigend. Die allgegenwärtige (und in mancher Hinsicht modernistische) Einfalt im Geschäfts- wie im Wohnungsbau wurde nur durch die Baukrise gestoppt, weder durch Regulierungen der Politik, noch durch die Vorstellungskraft der Gestalter. ... Warum nicht daraufhin die Postmoderne befragen?"

Außerdem: Alexandra Wach besucht für den Tagesspiegel die Architekturbiennale in Shanghai, die von David Chipperfield für das Rockbund Art Museum kuratiert wird.
Archiv: Architektur

Film

In der SZ schreibt Philipp Bovermann einen Nachruf auf den Synchronsprecher Thomas Danneberg, mit dessen Stimme in Deutschland ganze Generationen von Kinogängern aufgewachsen sein dürften: Er sprach den schelmenhaften Terence Hill, den brütenden Sylvester Stallone, den ironischen Arnold Schwarzenegger, aber auch John Cleese, Dan Akroyd, Adriano Celentano, Nick Nolte und und und. "Für ein so enormes Pensum engagiert wird nur, wer beim Sprechen immer wieder eigene Figuren hörbar macht. Wenigen Synchronsprechern gelingt das wirklich." Seit "'Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle' (1972) war er Hills Feststimme, sein weicheres Timbre passte perfekt neben das Reibeisenorgan, das Wolf Hess Bud Spencer lieh. Ein bisschen Verzeihen und Geschmeidigkeit, dazwischen stets ein leichter Anflug von Spott, genau das braucht man, wenn man Sätze aufsagt wie: 'Hallo, ihr abgeschälten Gummiklöße, seid froh, dass ihr kein Nudelholz ins Genick kriegt.' Ach, waren das gute Zeiten und tolle Filme damals." Hier hören wir ihn nochmal als stets kecken Terence Hill:



Besprochen werden Roman Polanskis beim Zurich Film Festival gezeigter Film "The Palace" (TA), Barbara Alberts Verfilmung von Julia Francks gleichnamigem Bestseller "Die Mittagsfrau" (Welt), Marc Rothemunds Autismus-Komödie "Wochenendrebellen" mit Florian David Fitz (ZeitOnline), Christian Tafdrups Horrorfilm "Speak No Evil" (taz, unsere Kritik) und Fisher Stevens' Netflix-Doku "Beckham" (TA).
Archiv: Film

Musik

Noch im November 2022 hat der Dirigent Teodor Currentzis, der in Russland sehr aktiv, aber auch Chefdirigent des SWR-Orchesters ist, Gelder direkt bei Wladimir Putins Präsidentenfonds eingeworben, berichtet der Musikblogger Alexander Strauch im Badblog of Music. "Laut Homepage des Präsidentenfonds für Kultur, von Putin ins Leben gerufen und direkt mit der Präsidialverwaltung im Kreml verwoben, stellte im Namen von Teodor Currentzis das Diaghilev-Festival Perm am 17.11.2022 einen Antrag auf Mittel aus diesem Fonds. Dem Kuratorium gehört unter anderem auch ein Vertreter der Separatisten in Lugansk an, Projekte dort fördert der Fonds seit 2022 explizit. Currentzis' Festival, dessen Intendant er ist, erhielt 29 Millionen Rubel, circa 280.000 Euro. Der Antrag ist extrem nationalistisch-kunstreligiös formuliert: 'Die Bewahrung von Traditionen, nicht die Anbetung der Asche, sondern die Aufrechterhaltung des Feuers, trägt zur Bewahrung der kulturellen Identität bei und stärkt die spirituellen und moralischen Werte der russischen Gesellschaft.'

Musikjournalist Axel Brüggemann kommentiert in seinem Crescendo-Newsletter: "Bewahrheiten sich die Recherchen, bröckelt das Narrativ westlicher Veranstalter wie zuletzt von der Gesamtleiterin des SWR-Symphonieorchesters, Sabrina Haane, oder den Salzburger Festspielen, nach denen es Currentzis generell um Völkerverständigung und Frieden gehe und er nicht in direkter Verbindung zu Putin stehe. Es zeigt sich nach den Recherchen von Strauch, dass Currentzis' Arbeit in Europa von Putin sehr wohl als aktive Kulturpropaganda verstanden wird und sein Engagement in Russland (unter anderem mit Gazprom-Tournee) als moralische Stärkung der russischen nationalen Moral in Zeiten des Angriffskrieges."

Vojin Saša Vukadinović schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf Armin Hofmann, der bereits vor einigen Wochen gestorben ist. Die Feuilletons nahmen bislang keine Notiz davon, was kaum verwundert, denn mehr Underground als der für seine Verweigerungshaltung berüchtigte Hofmann geht fast nicht. Mitte der Achtziger machte er mit Nagold einen kleinen Ort im Schwarzwald zum zentralen Knotenpunkt im Netzwerk der HardcorePunk-Szene, später prägte sein X-Mist-Label samt Mailorder Generationen von Musikbegeisterten: "Dort gab es alles, was der örtliche Plattenladen nur widerwillig bestellt hätte oder gar nicht erst beziehen konnte: Veröffentlichungen aus dem lesbischen Underground des Pacific Northwest, Platten aus dem DIY-Umfeld von Slampt in Newcastle oder die abgedrehten Kracher vom Label Gravity aus San Diego - nebst weitaus Obskurerem, deutlich Seltenerem und heute völlig Vergessenem aus Mikroszenen aus aller Welt." In einem Kondolenzblog erinnern sich zahlreiche Weggefährten an ihre Begegnungen mit Hofmann.

Weitere Artikel: Tazler Julian Weber berichtet vom Festival Lehnmusik, das experimentelle Musik ins sächsische Augustusburg bringt. Manuel Brug erzählt in der Welt von seinem Ausflug zu Christian Gerhahers Liedwoche auf Schloss Elmau. Im Standard stimmt Christian Schachinger aufs Wiener Festival Rhiz ein. In der neuen Folge seines Podcasts Reflektor spricht Tocotronic-Bassist Jan Müller ausführlich mit Igor Levit.

Besprochen werden der Saisonauftakt der Wiener Philharmoniker (Standard), ein Aufritt von Element of Crime in Frankfurt (FR), ein Konzert der Berliner Singakademie in Berlin (Tsp), ein Konzert der Pianistin Khatia Buniatishvili in Wien (Standard), ein Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Vladimir Jurowski (SZ, hier nachzuhören bei Dlf Kultur) und das neue Album von Roisin Murphy (FR).

Archiv: Musik