Efeu - Die Kulturrundschau

Wunder der Behutsamkeit

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25.03.2024. Die FAZ gerät in David Böschs monumentaler Inszenierung der Strauss-Oper die "Frau ohne Schatten" unter die Fittiche eines gigantischen weißen Falken. Von einem "Musiktraum" schwärmt die SZ. Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende: Für die taz muss sich die neue Leiterin Astrid Böhmisch erst noch beweisen, die FAZ war konsterniert von nach Liebesromanen lechzenden BookTokern. Und die Welt kann in den Werken von Ignacio Zuloaga im Bucerius Forum ein "Spanien, spanischer als es je war" betrachten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2024 finden Sie hier

Bühne

"Die Frau ohne Schatten" an der Semperoper Dresden. Foto: Ludwig Ohla.

Gewaltig ist David Böschs Inszenierung der Strauss-Oper "Die Frau ohne Schatten" an der Semperoper Dresden in jeder Hinsicht, findet Gerald Felber in der FAZ. Schon das monumentale Bühnenbild von Patrick Bannwarts (unter anderem "die Grauen erweckende wie Schutz verheißende Falkenskulptur mit beweglichen Riesenfittichen") haut den Kritiker um, "vor allem anderen aber wirkt die ungeheure, niederdrückende Wucht, zu der sich die Staatskapelle in XXL-Formation ... unter Christian Thielemanns Leitung steigern kann. Wobei der Dirigent den ersten Akt weithin fast kammermusikalisch führte und den Musikern auch später oft Raum für konzertreife Soli gab. Röntgenblick und bedachtsam-kluge Klangmodellierung kanalisierten aber selbst noch im Fortissimo den Gang der Linien und ihr energetisches Potential - am vernichtenden Ende des zweiten Aktes in einer Weise, dass man sich, wie bei einem Solarplexus-Schlag, direkt ins Nervenzentrum getroffen fühlte. Wunder der Behutsamkeit neben Stellen atembeengender Wucht: Nichts blieb in dieser Partitur mit ihren Lyrismen, Trauermarsch-Chorälen und überdrehten Scherzi, in die vielleicht sogar Fetzen von Strawinskys "Sacre"... eingegangen sind, randständig."

Von einem "Musiktraum" schwärmt auch Helmut Mauró in der SZ, auch wenn er sich vor dem gigantischen Falken gruselte: "Als dieser weiße Vogel im dritten Akt mit bühnenbreiten Schwingen herabschwebt, den toten Färber Barak in den Klauen, und das Orchester zu einem monströs schaurigen Klanggetöse anhebt - in der Semperoper spürt man das Schlagzeug über den Boden wirklich körperlich -, da kann einem schon bange werden."

Weitere Artikel: Es steht immer noch schlecht um die Staatliche Ballettschule Berlin, berichtet Wiebke Hüster in der FAZ. Wolfgang Kralicek resümiert in der SZ die Intendanz von Martin Kušej am Wiener Burgtheater. Ute Büsing besucht für den Tagesspiegel den Intendanten des bulgarischen Nationaltheaters Vasil Vasilev, der mit seinen kritischen politischen Positionen der Zorn der Regierung auf sich zieht.

Besprochen werden Marie Schleefs Inszenierung von "Die Möglichkeit des Bösen" nach einer Kurzgeschichte von Shirley Jackson an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik), Anna Bergmanns Inszenierung von Ödön von Horváths Stück "Die Unbekannte aus der Seine" mit Texten nach Christine Lavant am Volkstheater Wien (nachtkritik), Martin Kušejs Inszenierung von Tennessee Williams Stück "Orpheus steigt herab" am Burgtheater Wien (nachtkritik), Stas Zhyrkovs Inszenierung von "Die Orestie. Nach dem Krieg" nach Aischylos am Schauspielhaus Düsseldorf (nachtkritik), Gregor Müllers und Philip Richerts Adaption von Daniel Kehlmanns Roman "Tyll" am Theater Lüneburg (nachtkritik), Johan Simons Inszenierung von Pedro Calderón de la Barcas Stück "Das Leben ein Traum" am Hamburger Thalia Theater (FAZ), Philipp Stölzls und Philipp M. Krenns Inszenierung der Strauss-Oper "Elektra" bei den Osterfestspielen Baden-Baden (FAZ),  Victoria Stevens' Inszenierung von Verdis "Otello" im Mainzer Staatstheater (FR), Dorothea Kirschbaums Inszenierung von Wolfgang Fortners Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" an der Oper Frankfurt (FR), Rafael Sanchez Inszenierung von Tobias Ginsbergs Sachbuch "Die letzten Männer des Westens" am Schauspiel Köln (taz), Jürgen R. Webers Inszenierung von Wagners "Rheingold" am Theater Erfurt (nmz), Sasha Waltz' Ballett-Choreografie von Bachs "Johannes-Passion" bei den Salzburger Opernfestspielen (SZ), Oliver Mears Inszenierung von Amilcare Ponchiellis Oper "La Gioconda" ebenfalls in Salzburg (SZ, Standard), Marielle Sterras Inszenierung des Musiktheaterstücks "Stadt der Teufel" vom Kollektiv glanz&krawall im Heimathafen Neukölln in Berlin (tagesspiegel) und Michael Webers Inszenierung der Texte "Das Ereignis" und "Der junge Mann" von Annie Ernaux am Theater Willy Praml in Frankfurt (FR).
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Literatur

Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende. In der NZZ resümiert Nadine A. Brügger die Highlights dieses Jahres. Tazler Dirk Knipphals berichtet von zwiespältigen Eindrücken: Beim Plauschen und Zuhören war es interessant wie immer, auch "der Wille, dem Buch und dem Lesen zu helfen, gerade in den derzeit ja nicht gerade leichten Zeiten, war fühlbar, doch er gebar ziemlich viele hohle Floskeln." Auch die neue Leiterin Astrid Böhmisch machte noch keine gute Figur, sie  "beschränkte sich bei ihrer Begrüßungsrede zum Leipziger Buchpreis, bei der sie auch ein inhaltliches Zeichen hätte setzen können und wahrscheinlich auch sollen, auf einige Conférencier-Sätze. ... Zu ihrem Job gehört es aber eben auch, die Wichtigkeit von Inhalten innerhalb der Marketingmaschine Buchmesse hochzuhalten. Den Beweis, dass sie dazu die richtige Wahl war, muss sie auch nach dieser Buchmesse erst noch erbringen."

"Kulturfern" fand auch Jan Wiele von der FAZ die Moderation der Eröffnung. Richtig schlechte Laune kriegt er allerdings beim Blick darauf, wie das junge Lesepublikum, befeuert durch BookTok, in Heerscharen die Buchmesse stürmt, dabei aber nach Liebesromanen lechzt, die nach Wieles Ansicht kaum das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Soll man da wirklich noch "Hauptsache, sie lesen überhaupt irgendwas" rufen? "Im Booktok-Trend für völlig unliterarische (und, so wirkt es beim Reinlesen und beim Anschauen der Buchtitel, auch bisweilen sexistische) Romanzen die Rettung zu sehen wirkt ebenso zynisch, als feierte man die nicht enden wollenden Käuferschlangen vor dem Horrorschrott von Sebastian Fitzek in Frankfurt vergangenen Herbst als solche. Das gern vorgebrachte Argument der Querfinanzierung, mit der auch Traditionsverlage schon länger ihr literarisches Programm durch Bestseller absichern, sticht bei Lyx oder Droemer (Fitzeks Verlag) mit Sicherheit nicht." Auch Marc Reichwein seufzt in der Welt angesichts der zahlreichen jungen Leute, die sich als ihre Manga-Lieblinge verkleidet haben: "Man sollte bald keine Literaturkritiker mehr zu Buchmessen schicken, sondern Ethnologen, die etwas zu Kostümen, Rollen und Avataren der Animé-Welten erzählen können."

Felix Stephan sieht es in der SZ alles viel gelassener: All das gerne, nur bitte keine Nazis. Und ja, Kitsch ist das Gebot der Stunde für alle, die mit Büchern gerade Geld verdienen wollen. "Kein Camp, kein Drag, kein Ballroom, sondern Kitsch. Teenager mit Glitzer-Nagellack, die mehrteilige Romane über Highschool-Affären lesen, in denen es keine Überraschungen, Härten oder Ansätze von Kunstwillen geben darf." Das "ist natürlich nicht die schlechteste Art, die alte Welt abzuschaffen und sie durch etwas grundsätzlich anderes zu ersetzen. Demobilisierung durch totale Entpolitisierung. In einer Welt, die nur aus Flausch und Rücksicht, aus Wärme und Freundschaft besteht, haben Trollarmeen keine Handhabe. Wo es keine Kontroversen gibt, können Diskurse nicht gekapert werden. Das leuchtet alles vollkommen ein, die Kids sind wieder mal die schlausten."

Weitere Artikel: Leonie C. Wagner berichtet in der NZZ vom Literaturfestival Eventi letterari auf dem Monte Verità, das ganz im Zeichen von "100 Jahre Surrealismus" stand: Entsprechend sollte "die Sprache aus dem Schraubstock der Grammatik und Syntax entlassen und das ordnende, abwägende, kritische Ich zerstückelt werden", In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Literaturwissenschaftler und -redakteur Heiner Boehncke zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Deniz Ohdes "Ich stelle mich schlafend" (Welt, Standard), Gerhard Henschels "Schelmenroman" (taz), Terhi Kokkonens "Arctic Mirage" (NZZ), Thomas Steinfelds "Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit" (online nachgereicht von der Zeit), Jan Konnefkes "Im Schatten zweier Sommer" (Standard), Karl-Markus Gauß' Prosaband "Schiff aus Stein" (Standard), Adam Morris' Krimi "Bird" (FR), Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Jordan Scotts und Sydney Smiths "Der Garten meiner Baba" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Der Schweizer Filmpreis geht an den Film "Blackbird Blackbird Blackberry", den in seinem Heimatland gerade einmal 2000 Leute gesehen haben, seufzt Andreas Scheiner in der NZZ. Besprochen werden Hirokazu Kore-Edas "Die Unschuld" (Jungle World, unsere Kritik), Kristoffer Borglis "Dream Scenario" mit Nicolas Cage (Standard), Nicol Paones "The Kill Room" mit Uma Thurman und Samuel Jackson (Standard) sowie die Netflix-Serie "3 Body Problem" nach dem chinesischen Science-Fiction-Epos "Die Drei Sonnen" Cixin Liu (taz).
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Kunst

Ignacio Zuloaga: Meine Cousinen auf dem Balkon, 1906, Privatsammlung

"Trotzigen Nationalismus, gepaart mit fast wilder Theatralität" findet Welt-Kritiker Manuel Brug in den Werken von Ignacio Zuloaga, die das Bucerius Kunstforum in Hamburg zeigt. Zuloaga versuchte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, das "typische Spanien" einzufangen, so Brug: "Doch anders als bei den vielen, früheren Genremalern der Stillleben, Torreadores und Landschaften des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ibero-Impressionismus atmen seine Bilder Energie, Aufbegehren, Trotz: Da ist der unbedingte Wille, als der visuelle Hüter des authentischen Spanischseins zu gelten, das man nicht als beginnende Touristenklischees zwischen Carmen, Sangria und Flamenco zur Ausbeutung Fremden überlassen wollte." Das ist auf der einen Seite "krass übersteigerter Nationalismus" (Franco verehrte Zuloaga zutiefst, erzählt Brug), faszinierend sind die farbenprächtigen Darstellungen trotzdem: "ein Spanien, spanischer als es je war. Eine Fantasie, ein Traum."

Weiteres: Gabi Czöppan hat für den Tagesspiegel die ersten Schauen der Venedig-Biennale im Palazzo Grassi besucht: Julie Mehretus Ausstellung "Ensemble" und Pierre Huyghes große Werkschau "Liminal". Besprochen werden die Ausstellungen "Doug Aitken. Return to the Real" im Schauwerk Sindelfingen (taz) und "Kunst als Beute. 10 Geschichten" im Humboldt-Forum Berlin (Tsp).
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Musik

Die Feuilletons müssen den Tod gleich zweier Protagonisten des klassischen Musikbetriebs verkraften, Peter Eötvös und Maurizio Pollini. Zu Pollini, der im Alter von 82 Jahren starb, schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ: "Er war der aufgeklärte, der 'fortschrittliche' Pianist seiner Zeit, vielleicht der sprödeste, empfindlichste, grüblerischste unter den großen Virtuosen. Für Chopin setzte Pollini auf kristallklare Energie, für Bachs Wohltemperiertes Klavier oder Beethovens 32 Sonaten auf eine eiserne Formlogik, für Schubert, Schumann oder Brahms, für Debussy oder Schönberg auf Poesie, Prägnanz, Geradlinigkeit." Auch der Moderne des 20. Jahrhunderts öffnete er sich, doch wollte er "bei aller Kampfansage an die Hörgewohnheiten des Publikums nie ein Avantgarde-Guru sein". In seinen Aufnahmen "wird man nicht mit letztgültigen Interpretationen für die Ewigkeit konfrontiert", schreibt Wolfgang Stähr in der NZZ. "Man folgt einer Suchbewegung und begreift, welcher Reichtum an Möglichkeiten sich hinter jeder Note auftut: Es könnte alles auch ganz anders sein. Unruhe, Begeisterung, Anspannung, Unberechenbarkeit zeichneten Pollinis Klavierspiel aus - keine Chance, sich bequem zurückzulehnen."

"Pollini explodierte sehr jung als pianistisches Genie, als er 1960, mit nur achtzehn Jahren, den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann", erinnert Jan Brachmann in der FAZ. "Seine sagenhafte Technik, die scharfgeschnittene Artikulation, unbeirrbare Phrasierung, lebhaft, doch weitgehend im Verzicht auf Temposchwankungen (das berühmte Rubato) und die perfekt ausbalancierte Statik der Mehrstimmigkeit verblüfften die Welt. Auf dem Debüt-Album, das kurz danach bei der EMI erschien, kann man es bis heute nachhören: Wie unausweichlich steuert er den Höhepunkt in der Coda von Chopins fis-Moll-Polonaise op. 44 an, wenn die heroische Anstrengung in tragische Kapitulation umschlägt!" Weitere Nachrufe schreiben Manuel Brug (Welt) und Judith Sternburg (FR).



Die Feuilletons trauern auch um den Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös, der achtzig Jahre alt wurde: "Eötvös war nie ein Komponist des schönen Scheins, immer begriff er das Komponieren wie das Leben", würdigt ihn Reinhard J. Brembeck in der SZ: "dramatisch, aufgewühlt, packend. Als Musiker war er wie als Komponist ein Mittler zwischen Ost und West, der Avantgarde und einem ihr skeptisch gegenüberstehenden Publikum. Wenn er die legendären 'Gruppen' seines Lehrers Karlheinz Stockhausen dirigierte, dann geschah das Wunder. Die Sperrigkeit wurde zu sinnlich einleuchtender Musik." Manuel Brug erinnert sich auf Welt Online: "Er war offen, kein Dogmatiker, man wusste nie, was man von ihm als nächstes Klanggericht vorgesetzt bekam. Ohne jedes Dogma pflegte er einen legeren Polystilismus. Peter Eötvös war weltoffen, liebte aber auch, wie Fellini, die zirzensische, extraterrestrische Welt der Gaukler und Akrobaten." Hier spielt das hr-Sinfonieorchester seine Komposition "The Gliding of the Eagle in the Skies", dirigiert von ihm selbst:



Alex Rühle ärgert sich in der SZ darüber, dass sich auf den popularen Gebrauchsmusik-Playlists auf Spotify (von Relaxen bis Yoga) nur ein paar Komponisten hinter einer Myriade von Pseudonymen verstecken - und dass Spotify hier wohl ausgefuchste Deals ausgeheckt hat: niedrige Tantiemen gegen prominente Platzierung. Der erfolgreichste Komponist ist ein gewisser Johan Röhr. "Spotify sitzt in Stockholm. Röhrs Musik wird von den Overtone Studios veröffentlicht, einem Stockholmer Label, das zu der ebenfalls in Stockholm ansässigen Firma Epidemic Sound gehört. Die konnte ihren Umsatz 2022 um fast 50 Prozent steigern. Bei Firefly Entertainment, einer Firma, die im schwedischen Stockholm beheimatet ist, vervierfachte sich das Geschäftsvolumen im selben Zeitraum sogar auf 360 Millionen schwedische Kronen. So, wie es aussieht, sind all die Playlists also genau das Gegenteil von Weltmusik, sie werden von einem kleinen Stockholmer Klüngel komponiert und vertrieben, Monokultur zu Dumpingpreisen."

Weiteres: In russischen Gefängnissen werden Dissidenten zum Teil auch mit musikalischer Dauerbeschallung gefoltert, schreibt Ueli Bernays in der NZZ, wobei dafür auf auffallend viel westliche Rockmusik zurückgegriffen wird. Besprochen werden die Berliner Ausstellung "Heavy Metal in der DDR" (taz), Adrianne Lenkers Folkalbum "Bright Future" (Zeit Online), das neue Album von Meute (FAS), ein Konzert von New Model Army (FR) und die Wiederveröffentlichung von Alice Coltranes "The Carnegie Hall Concert" aus dem Jahr 1971 (Pitchfork). Wir hören rein:

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