Link des Tages

Humanismus des Einzelnen

18.06.2009. Ralf Dahrendorf ist tot. Claudio Magris erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wir haben zu beiden Meldungen, die Schlag auf Schlag eintrafen, einige Links zusammengesucht.
Mit dem großen Ralf Dahrendorf ist nicht nur ein Soziologe gestorben. In seinem abwechslungsreichen Leben war er auch FDP-Politiker, Staatssekretär, EU-Kommisssar, Rektor der London School of Economics und schließlich, von der Queen geadelt, Mitglied im britischen Oberhaus. Als Lord Dahrendorf, Baron of Clare Market in the City of Westminster. Und vor allem war er oberster Vordenker und Vorkämpfer des Liberalismus in Europa. Erste Nachrufe finden sich bei Spiegel Online, der SZ und von Theo Sommer in der Zeit.

Online finden sich auch eine ganze Reihe sehr interessanter Artikel Dahrendorf: Beim Merkur die recht scharfen Anmerkungen zu Finanzkrise und Pumpkapitalismus, bei der taz ein Gespräch über '68, den Liberalismus und die offene Gesellschaft. Hier ein Essay über die "Grenzen der Demokratie" in der Welt und hier ein Plädoyer für die uneingeschränkte Meinungsfreiheit: "Nicht alle Widerwärtigkeiten sind Straftaten".

Dass die Meldungen von seinem Tod ausgerechnet zu Jürgen Habermas achtzigstem Geburtstag kommt, ist besonders bitter. Auf FAZ.net ist die Rede zu lesen, die Jürgen Habermas zu Dahrendorfs eigenem achtzigstem Geburtstag am 1. Mai hielt. Damals war Dahrendorf schon schwer von seiner Krebserkrankung gezeichnet.

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Zuvor hatte der Börsenverein bekannt gegeben, dass der italienische Schriftsteller Claudio Magris in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, und begründete seine Entscheidung für den italienischen Literaturwissenschaftler, Essayisten und Romancier damit, dass Magris sich wie kaum ein anderer mit dem Zusammenwirken verschiedener Kulturen beschäftigt habe: "Claudio Magris tritt für ein Europa ein, das nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten sein Selbstverständnis erreicht, sondern seine geschichtliche und kulturelle Tradition und Vielfalt bedenkt und darauf beharrt. Es ist das Verständnis eines Humanismus des Einzelnen, der von der mitteleuropäischen Kulturtradition abgeleitet ist und wird dem gerecht, was Claudio Magris 'unser ironisches Gefühl für das Vielfältige' nennt." In den Jahren zuvor ging der Friedenspreis an den Maler Anselm Kiefer, Saul Friedländer, Wolf Lepenies, Orhan Pamuk und Peter Esterhazy.

Magris, der 1919 in Triest geboren wurde, noch immer im Dreiländereck von Italien, Slowenien zu Hause ist und sein Stammcafe San Marco zum Mittelpunkt Zentraleuropas machte, hat zuerst als Germanist und Übersetzer deutschsprachiger Schriftsteller wie Joseph Roth, Arthur Schnitzler oder Georg Büchner ins Italienische Ansehen gewonnen. Später auch als Essayist, Kolumnist für den Corriere della Sera (hier zum Beispiel) und Romancier. Bekannt wurde er 1986 vor allem mit seinem Werk "Die Donau", in dem er dem Fluss durch Zentraleuropa über Wien, Bratislava, Budapest und Belgrad folgte. Zuletzt erschienen sind von ihm der Roman "Blindlings", in dem er ein gewaltiges Panorama der Schrecken und Ideologien des 20. Jahrhunderts aufzieht, sowie seine Reisebilder "Ein Nilpferd in Lund".

Erste Würdigungen finden sich etwa in der FAZ und in der NZZ. Ein ausführliches Porträt des Intellektuellen und "Brückenbauers" zeichnete Carl Wilhelm Macke 2004 im Titel-Magazin. Er sieht ihn als "leidenschaftlichen Reisenden und passionierten Flaneur durch die europäische Kultur". Auf Cafe Babel ist ein Gespräch von 2007 zu lesen, in dem er sein Bekenntnis zu Europa so formuliert: "Ich fühle mich als Europäer, aber mit Europa ergeht es mir wie Augustinus mit der Zeit: 'Wenn man mich nicht danach fragt, was es ist, weiß ich, was es ist. Wenn man mich danach fragt, weiß ich es nicht mehr'."

Thekla Dannenberg