Magazinrundschau
Gehe Risiken ein und sei aufregend
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15.06.2010. Wer braucht schon einen Roman, wenn die Wirklichkeit Stoff für interessante Reportagen bietet, fragt Geoff Dyer im Guardian. Die Lettre beobachtet Ausgeschlossene in Rom und Rotterdam. Im Espresso blättert Umberto Eco dank Internet in sechs Milliarden Enzyklopädien. The Nation freut sich: es gibt viele Arten Israel auszulöschen, ohne Antisemit zu sein. Der Spectator marschiert durch ein KZ der Subkultur. The Atlantic weiß: die Zukunft gehört den Frauen.
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Guardian (UK), 12.06.2010
Die Tage sind vorbei, schreibt der Romanautor Geoff Dyer, als wir darauf warten mussten, dass Literatur Konflikte ideenreich verarbeitet. Reportagen, vor allem von amerikanischen Journalisten, scheinen den Roman überflüssig zu machen. Dyer nimmt seine Beispiele aus einer Reihe von Bücher, die von den Anschlägen am 11. September und den andauernden Kriegen im Irak und in Afghanistan handeln. "Was ist mit Charakteren und der Geschichte? Die Charaktere sind auf romanhafte Weise gezeichnet, sie existieren in Fleisch und (oft gebadet) in Blut, genauso, wie wir es von fiktiven Charakteren erwarten würden. Lawrence Wright hat darüber gesprochen, wie er, während der Recherche über die Angriffe vom 11. September, verstanden hat, dass bestimmte Menschen als 'Esel' benutzt werden, um das Gewicht größerer historischer Motive oder Umstände zu tragen. Ein Teil des Erfolgs von 'The Looming Tower' resultiert aus der Art, wie diese Esel als komplexe und sich entwickelnde Individuen gezeigt werden und nicht als simple Tiere, die die erzählerische Last tragen müssen. Und während ihre Bestimmung sie schicksalhaft wie in einem Roman auf die Zwillingstürme zuschiebt, reduzieren Spannung und Wucht des Buchs sie nie auf eine erzählerische Idee."
Während sich die Volksrepublik China zu ihrem sechzigsten Geburtstags ausgiebig selbst beglückwünscht, empfiehlt Julia Lovell eine kräftige Dosis Lu Xun - "wegen seiner intensiv herausgearbeiteten und mitfühlenden Einblicke in die Schwärze des modernen Chinas; und als biografische Lektion über die tatkräftigen, wenn auch nicht vergeblichen Anstrengungen der Kommunistischen Partei, das kritische Bewusstsein der chinesischen Bevölkerung zu neutralisieren." Dieser moderne Erzähler erreichte unter Mao posthum Kultstatus als Diener des Volkes, nachdem seine Stacheln glattgebügelt worden waren, aber jetzt wird er nach und nach ganz aus den Schul-Lehrplänen gestrichen: "Eins der verbotenen Werke war ein bitter-trauriger Essay von 1926 über eine Studentin, die während einer friedlichen Demonstration von Regierungskräften getötet wurde - eine unbequeme Vorahnung der Unterdrückung 1989 auf dem Tienanmen-Platz, die die Partei ängstlich bemüht ist aus dem öffentlichen Gedächtnis auszulöschen."
Und: Der Historiker Piers Brendon ist tief beeindruckt von Michael Burleighs Geschichte des Zweiten Weltkriegs "Moral Combat": "Sein Buch ist eine moralische Landkarte, nicht ein moralischer Kompass. Dennoch schreibt er mit einer phantastischen Schärfe, die manchmal in wilde Empörung umschlägt."
Während sich die Volksrepublik China zu ihrem sechzigsten Geburtstags ausgiebig selbst beglückwünscht, empfiehlt Julia Lovell eine kräftige Dosis Lu Xun - "wegen seiner intensiv herausgearbeiteten und mitfühlenden Einblicke in die Schwärze des modernen Chinas; und als biografische Lektion über die tatkräftigen, wenn auch nicht vergeblichen Anstrengungen der Kommunistischen Partei, das kritische Bewusstsein der chinesischen Bevölkerung zu neutralisieren." Dieser moderne Erzähler erreichte unter Mao posthum Kultstatus als Diener des Volkes, nachdem seine Stacheln glattgebügelt worden waren, aber jetzt wird er nach und nach ganz aus den Schul-Lehrplänen gestrichen: "Eins der verbotenen Werke war ein bitter-trauriger Essay von 1926 über eine Studentin, die während einer friedlichen Demonstration von Regierungskräften getötet wurde - eine unbequeme Vorahnung der Unterdrückung 1989 auf dem Tienanmen-Platz, die die Partei ängstlich bemüht ist aus dem öffentlichen Gedächtnis auszulöschen."
Und: Der Historiker Piers Brendon ist tief beeindruckt von Michael Burleighs Geschichte des Zweiten Weltkriegs "Moral Combat": "Sein Buch ist eine moralische Landkarte, nicht ein moralischer Kompass. Dennoch schreibt er mit einer phantastischen Schärfe, die manchmal in wilde Empörung umschlägt."
Przekroj (Polen), 19.05.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q116/A27766/przekroj.jpg)
Lettre International (Deutschland), 14.06.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q24/A27773/lettre.jpg)
Anderen geht es nicht besser. Zum Beispiel den Italienern. "Wir haben inzwischen begriffen, dass auch die Klassenidentität eine ethnische Identität war", schreibt Sergio Benvenuto, der über den Erfolg von Berlusconi und der Lega Nord nachdenkt. Und weil diese Klassenidentität verloren geht, kann ein norditalienischer Industriearbeiter plötzlich die Lega Nord wählen. "Die Xenophobie ist die Maske der phobischen Angst vor den Armen. Wer sich davor fürchtet, wieder arm zu werden, verabscheut den, der ärmer ist als er. Deshalb klammern sich Millionen von Männern und Frauen, die sich von der globalisierten großen Welt ausgeschlossen fühlen, weil sie keine fremden Sprachen sprechen, nicht studiert haben und nicht genug Wohlstand angehäuft haben, an das 'Padanischsein', das 'Katholischsein' (auch wenn sie nie in die Kirche gehen und abtreiben), das 'Veronesersein', das 'Juventus-Fansein' usw." (Hier ein Auszug)
Außerdem in dieser Ausgabe: Übersetzt wurde der 1943 erschienene Essay von Simone Weil "über die Kolonialfrage". Jose Miguel Wisnik erinnert sich an Brasiliens legendäre Fußballzeiten (Auszug). Frank M. Raddatz befragt Friedrich Kittler zu dessen Mammutprojekt "Musik und Mathematik" (Auszug). Abdelwahab Meddeb zeigt ein fruchtbares Beispiel für Kreolisierung, indem er Gustave Courbets - von einem türkischen Edelmann in Auftrag gegebenes - Gemälde "Der Ursprung der Welt" analysiert: und zwar "auf der Grundlage der Liebe eines Nichtokzidentalen, genauer gesagt eines Orientalen, eines Muslims gar, zum Okzident" (Auszug). Oder Massimo Cacciaris Essay über den Geist des Futurismus (Auszug).
Economist (UK), 11.06.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q14/A27761/economist.jpg)
Ein kurzer Bericht über den whistle-blower Bradley Manning hält fest, dass Wikileaks "nur so robust ist, wie die Menschen, die es benutzen".
ResetDoc (Italien), 10.06.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q160/A27769/reset.jpg)
David Judson, Chefredakteur der Hürriyet Daily News, spricht über den "Ausbruch von Antisemitismus" in der Türkei und die Verschlechterung der türkisch-israelischen Beziehungen: "Die türkische Gesellschaft ist sehr emotional. Als Italiener werden Sie sich vielleicht daran erinnern, was los war, als Italien sich weigerte, [den PKK-Führer] Abdullah Öcalan auszuliefern; Demonstrationen, Proteste und Forderungen, italienische Produkte zu boykottieren. Heute kochen die Gefühle für die Opfer der israelischen Attacken hoch, aber man darf nicht vergessen, dass die türkische Gesellschaft sich schnell ändert. Die Beziehungen zu Griechenland zum Beispiel waren in der Vergangenheit sehr gespannt. Heute haben die beiden Länder sehr feste Beziehungen und Griechenland ist dabei, der Hauptverbündete der Türkei in der Europäischen Union zu werden."
Edge.org (USA), 14.06.2010
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Der Internetskeptiker Nicholas Carr antwortet in Edge: "Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Amerikaner jetzt 8,5 Stunden am Bildschirm verbringt, dann ist es wahrscheinlich, dass sich der Fokus unserer intellektuellen Erfahrungen verengt. Durch Wiederholung trainieren wir uns zu Überfliegern und Nachrichtenverarbeitern - wichtige Fähigkeiten, kein Zweifel - aber ständig zerstreut. Und wir lernen die ruhigeren, aufmerksameren Modi des Denkens, Kontemplation, Reflexion, Introspektion, vertieftes Lesen nicht mehr kennen."
Times Literary Supplement (UK), 11.06.2010
Bettina Bildhauer freut sich über Cyril Edwards Versuch, dem englischsprachigen Publikum mit seiner Übersetzung das "Nibelungenlied" näher zu bringen. Es wurde von verschiedenen Völkern immer wieder anders und neu erzählt. Zum Beispiel von den Deutschen: "Es war ein mächtiger Widerspruch im Zentrum der nationalsozialistischen Verwendung, dass Deutschland sich gleichermaßen mit Siegfried als dem unschuldigen Opfer von Verrat und Hinterhalt identifizierte, (dies galt als schlagkräftige Erzählung, um Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg zu erklären), wie mit Siegfrieds Mördern, den Nibelungen beziehungweise Burgundern, die sich heldenhaft weigerten einen von ihnen aufzugeben. Diese Nibelungentreue wurde oft von den Nazis verlangt. Gerade die Tatsache, dass die Charaktere eigentlich aus Burgund, Island und den Niederlanden stammten, erlaubte den Deutschen, sich mit den verschiedenen Seiten zu identifizieren, je nachdem wie es gerade passte."
Außerdem: Gleich drei Neuerscheinungen zur Kleidungs- und Frisurenkultur im viktorianischen Zeitalter hat Kirstie Blair entdeckt: Während sich Daneen Wardrop in "Emily Dickinson and the labor of clothing" mit der Bedeutung der Kleiderwahl der Autorin (auch in ihren Gedichten) beschäftigt, geht Christine Bayles Kortsch in "Dress Culture in late Victorian Women's Fiction" nicht nur dem Tragen von Kleidern, sondern auch der Produktion derselben in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts nach. Galia Ofek dehnt ihre Untersuchung von "Representations of Hair in Victorian Literature and Culture" auch auf männliche Schriftsteller und bildende Künstler aus. Sheena Joughin begibt sich mit der Schriftstellerin Jackie Kay in "Red Dust Road" auf die desillusionierende Suche nach ihren leiblichen Eltern - und nicht zuletzt nach sich selbst.
Außerdem: Gleich drei Neuerscheinungen zur Kleidungs- und Frisurenkultur im viktorianischen Zeitalter hat Kirstie Blair entdeckt: Während sich Daneen Wardrop in "Emily Dickinson and the labor of clothing" mit der Bedeutung der Kleiderwahl der Autorin (auch in ihren Gedichten) beschäftigt, geht Christine Bayles Kortsch in "Dress Culture in late Victorian Women's Fiction" nicht nur dem Tragen von Kleidern, sondern auch der Produktion derselben in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts nach. Galia Ofek dehnt ihre Untersuchung von "Representations of Hair in Victorian Literature and Culture" auch auf männliche Schriftsteller und bildende Künstler aus. Sheena Joughin begibt sich mit der Schriftstellerin Jackie Kay in "Red Dust Road" auf die desillusionierende Suche nach ihren leiblichen Eltern - und nicht zuletzt nach sich selbst.
Espresso (Italien), 11.06.2010
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The Nation (USA), 28.06.2010
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Spectator (UK), 09.06.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q62/A27768/spectator.jpg)
Michael Attenborough, der gerade Ingmar Bergmans "Wie in einem Spiegel" für die Bühne inszeniert, beschreibt im Interview sein Theater Almeida so: "Wir sind unangepasst, unberechenbar, katholisch, eklektisch. Mal ist es Shakespeare, dann ein Musical, dann ein neues Stück oder ein ausländischer Klassiker. Es gibt nur eine Forderung am Almeida: Gehe Risiken ein und sei aufregend."
Esprit (Frankreich), 01.05.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q144/A27764/esprit.jpg)
The Atlantic (USA), 01.09.2010
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Sandra Tsing Loh stellt nach Durchsicht einiger neuer Bücher und Filme fest: Frauen - vor allem im mittleren Alter - interessieren sich viel mehr für Immobilien als für Männer.
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