Sabine Riedel wandert durch
Rotterdam und stellt fest, dass diese Stadt kein Zentrum hat, kein Herz, kein Ich-Bewusstsein. Statt dessen: lauter zersplitterte Identitäten, unter den Einheimischen wie unter den Einwanderern. "Familien fallen auseinander, weil sich der Zorn der Söhne (und Töchter) gegen den
deklassierten Vater wendet - erbarmungslos, wie sich ein Rudel Jungwölfe auf den arthritischen Alphawolf stürzt und ihn in die Pose der Unterwerfung zwingt. Welche Überlebensstrategien vermittelt der bettlägerige Vater dem Sohn, der in einer vor lauter Modernisierungsdruck hyperventilierenden Außenwelt reüssieren will? Der sich mental ständig auf der Überholspur befindet, weil er eines nicht will: enden wie sein Vater auf dem
Pannenstreifen? 'Wie soll ein Vater Vorbild sein', fragt ein junger Palästinenser [in Paul Scheffers Buch
"Die Eingewanderten"], 'wenn er müde und mit morschen Knochen auf dem Sofa sitzt und sich
vom Staat aushalten lässt?'" (Hier ein
Auszug)
Anderen geht es nicht besser. Zum Beispiel den
Italienern. "Wir haben inzwischen begriffen, dass auch die
Klassenidentität eine ethnische Identität war", schreibt Sergio Benvenuto, der über den Erfolg von Berlusconi und der
Lega Nord nachdenkt. Und weil diese Klassenidentität verloren geht, kann ein norditalienischer Industriearbeiter plötzlich die
Lega Nord wählen. "Die Xenophobie ist die Maske der phobischen
Angst vor den Armen. Wer sich davor fürchtet, wieder arm zu werden, verabscheut den, der ärmer ist als er. Deshalb klammern sich Millionen von Männern und Frauen, die sich von der globalisierten großen Welt ausgeschlossen fühlen, weil sie keine fremden Sprachen sprechen,
nicht studiert haben und nicht genug Wohlstand angehäuft haben, an das 'Padanischsein', das 'Katholischsein' (auch wenn sie nie in die Kirche gehen und abtreiben), das 'Veronesersein', das '
Juventus-Fansein' usw." (Hier ein
Auszug)
Außerdem in dieser Ausgabe: Übersetzt wurde der 1943 erschienene Essay von
Simone Weil "über die Kolonialfrage". Jose Miguel Wisnik erinnert sich an
Brasiliens legendäre
Fußballzeiten (
Auszug). Frank M. Raddatz befragt
Friedrich Kittler zu dessen Mammutprojekt "Musik und Mathematik" (
Auszug). Abdelwahab Meddeb zeigt ein fruchtbares Beispiel für
Kreolisierung, indem er
Gustave Courbets - von einem türkischen Edelmann in Auftrag gegebenes - Gemälde
"Der Ursprung der Welt" analysiert: und zwar "auf der Grundlage der
Liebe eines Nichtokzidentalen, genauer gesagt eines Orientalen, eines Muslims gar, zum Okzident" (
Auszug). Oder Massimo Cacciaris Essay über den Geist des
Futurismus (
Auszug).