
Glory Liu
liest zwei Autobiografien "What you become in flight" von
Ellen O'Connell Whittet und "Don't Think, Dear" von
Alice Robb, die ihr die
selbstzerstörerischen Logiken der
Ballettwelt in aller Drastik vor Augen führen. Die Branche folge einer "
Ökonomie des Schmerzes", mit der Liu, die selbst dreißig Jahre lang getanzt hat, bestens vertraut ist. Das disziplinierte Ertragen körperlichen Leids wird als notwendiger, sogar lobenswerter Teil der Profession verstanden. Das birgt nicht nur ein hohes Risiko für die Körper der jungen Frauen, sondern legitimiert auch missbräuchliche Tendenzen: "Wir lächeln, während wir stundenlang das volle Gewicht unseres Körpers auf den Spitzen tragen. 'Blut stärkt den Charakter', sagte einer meiner Lehrer, als er bemerkte, dass die Zehen einer Tänzerin anfingen, durch ihren Schuh zu bluten. Aber Ballett bedeutet nicht nur, anhaltende Qualen des Körpers zu ertragen, es bedeutet auch, diese im Geist auszuhalten. Wir lernen,
unerbittliche Kritik an unserer Technik, unserem Körper, unserem ganzen Wesen als wertvollste Währung der Branche zu akzeptieren, ja sogar dankbar dafür zu sein. Und wir alle kennen Geschichten von dieser einen Person, der wir irgendwann einmal begegnet sind - der Lehrer, der einen Stock schwang, der Choreograf, der eine Tänzerin so hart schlug, dass ein Striemen auf der Haut zurückblieb, die Ballettmeisterin, die eine Tasse Wasser auf dem Kopf balancieren ließ, um die Haltung zu korrigieren, der Ballettmeister, der einer Tänzerin eine brennende Zigarette unter das Bein hielt, damit sie es höher streckte. Es brauchte
#MeToo, damit viele von uns erkannten, dass dies mehr als nur altbekannte Geschichten waren, sondern Symptome einer
institutionellen und kulturellen Störung, die wir immer wieder ignorierten."
Viel Ehrgeiz hat die Journalistin und Krankenschwester Aviva Stahl in gerichtliche Auseinandersetzungen mit amerikanischen Gefängnisbehörden gesteckt, um Zugang zu Videos zu erhalten, die die
Zwangsernährung von Häftlingen nach einem Hungerstreik in Hochsicherheitsgefängnissen zeigen. Als grausam, unmenschlich und schmerzhaft
wertet sie die Behandlung: "Die Videos sind der Beweis dafür, dass die Gefängnisbehörde auf amerikanischem Boden
heimlich Menschen foltert. Und was wir auf Video sehen, ist nur ein geringer Teil dessen, was im Hochsicherheitstrakt vor sich geht. Die speziellen Maßnahmen machen Transparenz und Verantwortung so gut wie unmöglich. Diese Videos mögen die Bedingungen im Trakt vielleicht nicht verändern - und wenn, würden wir das erst nach Jahren erfahren. Aber der Rechtsstreit darum, sie zu bekommen, wird ein
wichtiges Präzedenzurteil werden."