Magazinrundschau - Archiv

The Nation

161 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 17

Magazinrundschau vom 13.02.2024 - The Nation

Nicht nur die Sacklers, sondern viele der reichsten US-amerikanischen Familien haben ihren Reichtum mit dem Handel mit Opium erworben, erinnert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh.  Über Umwege durch die Türkei und China versuchten die Amerikaner, die Marktmacht der East India Company zu beschneiden - und dabei vor allem die ziemlich vielversprechende Goldgrube ausgenutzt, die der Opiumhandel für viele der Familien in Indien war. "Der Wissenschaftler Jacques Downs schreibt: 'Fast ausnahmslos sind diejenigen Amerikaner, die im letzten Vierteljahrhundert des Old China Trade in Opium gemacht hatten, nach nur wenigen Jahren mit Vermögen wieder nach Hause gekommen.' Wer waren diese glücklichen Amerikaner? Es ist kein Zufall, dass sich ihre Namen wie eine Litanei der nordöstlichen Oberschicht lesen: Astor, Cabot, Peabody, Brown, Archer, Hathaway, Webster, Delano, Coolidge, Forbes, Russell, Perkins, Bryant und so weiter. Sie stammten größtenteils aus den privilegiertesten Reihen der weißen Siedlergesellschaft, Familien britischer Herkunft, die seit langem im Nordosten heimisch waren. Viele von ihnen sind in Eliteschulen wie der Boston Latin School, Milton Academy, Phillips Academy Andover, Phillips Exeter Academy und so weiter ausgebildet worden und haben in Harvard, Yale, der University of Pennsylvania oder der Brown University studiert (letztere ist nach einer bekannten Familie aus Providence benannt, die mit Sklaven und Opium gehandelt hat). Im frühen 19. Jahrhundert zu einer Oberschichtfamilie im Nordosten zu gehören, war anders als zu den anderen weißen Eliten in Europa oder sogar dem Süden der USA zu gehören. Die nordöstliche Elite war nicht primär eine Gruppe von Landbesitzern, sondern arbeitende und handelnde Klasse, durchaus einer wechselhaften, jungen und erratischen Wirtschaft unterworfen. Unternehmen sind so häufig gescheitert, dass selbst die am besten vernetzten Familien immer mit einer Prise Unsicherheit leben mussten." Für Ghosh liegt das Potential dieser historischen Gegebenheit vor allem in der Erkenntnis, dass es die Amerikaner selbst waren, die die nun so verteufelte Droge ins Land gebracht haben: "Wenn die Rolle, die privilegierte, weiße upper-class-Amerikaner in der Geschichte des Opiumhandels gespielt haben, besser bekannt wäre, wäre es mit Sicherheit schwieriger bis unmöglich, xenophobe und einwanderungsfeindliche Narrative rund um die Drogenproblematiken zu produzieren, wie es immer noch so häufig in den USA passiert."
Stichwörter: Opium, Opiumhandel, Drogenhandel

Magazinrundschau vom 09.05.2023 - The Nation

In Polen mit seinen drastischen Abtreibungsgesetzen wird eine erste Pro-choice-Aktivistin, Justyna Wydrzyńska, vor Gericht gestellt. Sie wollte einer jungen Frau mit Abtreibungspillen helfen, die keine zweite Schwangerschaft wollte, weil sie unter extremer Übelkeit und unter heftigen Schmerzen litt - und sie war auch noch mit Zwillingen schwanger. Rebecca Grant hat mit der Frau gesprochen, und ihre Erzählungen zeigen, mit welcher radikalen Einsamkeit Frauen in Polen rechnen müssen, die eine Abtreibung brauchen. Die Frau namens "Ania" erzählt, mit welcher Kälte sie in einem polnischen Krankenhaus behandelt wurde: "Ich wusste, wenn ich die nächsten sieben Monate, bis zum Ende der Schwangerschaft, so leiden würde, wäre ich ein Wrack von einem Menschen. Ich würde eine Depression bekommen, von der ich mich jahrelang, vielleicht sogar für den Rest meines Lebens, nicht mehr erholen würde. Und genau in diesem Krankenhaus traf ich die Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen, ungeachtet der Konsequenzen. Ich wusste auch, dass ich es nicht laut aussprechen und dem medizinischen Personal gegenüber bekennen konnte. Ich hatte Angst, dass sie mich zwangsweise in die Psychiatrie einweisen würden, und dann hätte ich wirklich keine andere Wahl als zu gebären."
Stichwörter: Polen, Abtreibung

Magazinrundschau vom 14.03.2023 - The Nation

Glory Liu liest zwei Autobiografien "What you become in flight" von Ellen O'Connell Whittet und "Don't Think, Dear" von Alice Robb, die ihr die selbstzerstörerischen Logiken der Ballettwelt in aller Drastik vor Augen führen. Die Branche folge einer "Ökonomie des Schmerzes", mit der Liu, die selbst dreißig Jahre lang getanzt hat, bestens vertraut ist. Das disziplinierte Ertragen körperlichen Leids wird als notwendiger, sogar lobenswerter Teil der Profession verstanden. Das birgt nicht nur ein hohes Risiko für die Körper der jungen Frauen, sondern legitimiert auch missbräuchliche Tendenzen: "Wir lächeln, während wir stundenlang das volle Gewicht unseres Körpers auf den Spitzen tragen. 'Blut stärkt den Charakter', sagte einer meiner Lehrer, als er bemerkte, dass die Zehen einer Tänzerin anfingen, durch ihren Schuh zu bluten. Aber Ballett bedeutet nicht nur, anhaltende Qualen des Körpers zu ertragen, es bedeutet auch, diese im Geist auszuhalten. Wir lernen, unerbittliche Kritik an unserer Technik, unserem Körper, unserem ganzen Wesen als wertvollste Währung der Branche zu akzeptieren, ja sogar dankbar dafür zu sein. Und wir alle kennen Geschichten von dieser einen Person, der wir irgendwann einmal begegnet sind - der Lehrer, der einen Stock schwang, der Choreograf, der eine Tänzerin so hart schlug, dass ein Striemen auf der Haut zurückblieb, die Ballettmeisterin, die eine Tasse Wasser auf dem Kopf balancieren ließ, um die Haltung zu korrigieren, der Ballettmeister, der einer Tänzerin eine brennende Zigarette unter das Bein hielt, damit sie es höher streckte. Es brauchte #MeToo, damit viele von uns erkannten, dass dies mehr als nur altbekannte Geschichten waren, sondern Symptome einer institutionellen und kulturellen Störung, die wir immer wieder ignorierten."

Viel Ehrgeiz hat die Journalistin und Krankenschwester Aviva Stahl in gerichtliche Auseinandersetzungen mit amerikanischen Gefängnisbehörden gesteckt, um Zugang zu Videos zu erhalten, die die Zwangsernährung von Häftlingen nach einem Hungerstreik in Hochsicherheitsgefängnissen zeigen. Als grausam, unmenschlich und schmerzhaft wertet sie die Behandlung: "Die Videos sind der Beweis dafür, dass die Gefängnisbehörde auf amerikanischem Boden heimlich Menschen foltert. Und was wir auf Video sehen, ist nur ein geringer Teil dessen, was im Hochsicherheitstrakt vor sich geht. Die speziellen Maßnahmen machen Transparenz und Verantwortung so gut wie unmöglich. Diese Videos mögen die Bedingungen im Trakt vielleicht nicht verändern - und wenn, würden wir das erst nach Jahren erfahren. Aber der Rechtsstreit darum, sie zu bekommen, wird ein wichtiges Präzedenzurteil werden."

Magazinrundschau vom 14.02.2023 - The Nation

Mit seinen letzten beiden Veröffentlichungen hat sich Édouard Louis in ein literarisches Dilemma begeben, schreibt Tara K. Menon. Feierte er noch mit "Das Ende von Eddy"  die schwule Autofiktion in der literarischen Tradition Prousts und Genets, bediene er mit seinen Büchern "Er hat meinen Vater umgebracht?" und "Die Freiheit einer Frau" das Genre des Klassenabtrünnigen. Wie Annie Ernaux oder Didier Eribon erzählt Louis von seinen Wurzeln in der Arbeiterklasse aus der Perspektive eines ihr Entflohenen. Damit begibt sich der Autor in den stilistischen Zwiespalt von analytischer Distanz und persönlicher Erzählung, so Menon: "Die formalen Experimente dieses Buches sorgen für packende, aber manchmal auch irritierende Lektüre. Zu Louis' Verteidigung: Er versucht, ein Problem zu lösen, das vielleicht unlösbar ist, wenn es zu erzählender Fiktion kommt: Selbst Thomas Hardy konnte Tess Durbeyfield nicht zugleich zu einer tragischen Heldin und einer typischen Milchmagd machen. Genauso kann Louis seinen Vater nicht einzigartig und allegorisch zugleich machen. In beiden Büchern befindet sich Louis in einer Zwickmühle der Repräsentation: Um seine Leser für die Arbeiter des Nordens zu interessieren, muss er sie zunächst für seinen Vater, den Fabrikarbeiter, und seine Mutter, die Hausfrau, interessieren. Aber wenn sie zu sehr mit beiden fühlen, könnten sie zu dem Schluss kommen, dass seine Eltern irgendwie anders, wertvoller sind, als ihre Nachbarn. Louis ist sich auch bewusst, dass seine Klassenmobilität sein Verhältnis zu dieser Welt unwiderruflich geändert hat. Er muss nun für eine Klasse sprechen, zu der er nicht mehr gehört. Die Gefahr hier ist, das seine Wut über die Ungerechtigkeiten, denen sich die Arbeiterklasse ausgesetzt sieht, konstruiert wirkt und nicht mehr authentisch. Ist es möglich für ihn, nun ein gesetztes Mitglied sowohl der Bourgeoisie als auch des literarischen Establishments, dieselbe Wut und Verbitterung zu empfinden, wie er es als Kind tat? Louis' Wut fühlt sich echt an, aber er kann der Schuld des Abtrünnigen nicht entgehen. All das macht 'Er hat meinen Vater umgebracht?' und 'Die Freiheit einer Frau' zu trügerischen Arbeiten - teils Polemik, teils Geständnis, teils Entschuldigung."

Magazinrundschau vom 25.10.2022 - The Nation

Amerikaner, die in der McCarthy-Ära als Linke ausspioniert wurden und nach Britannien flohen, kamen oft vom Regen in die Traufe. Denn das FBI reichte seine Dossiers direkt an MI5 weiter, der die darin enthaltenen Mutmaßungen übernahm und seine Opfer weiter überwachte - mit bemerkenswert wenig Erfolg, lernt der Historiker Richard J. Evans aus David Cautes Buch "Red List: MI5 and British Intellectuals in the Twentieth Century". "Der Sicherheitsdienst interessierte sich besonders für linke Historiker wie Christopher Hill ('Er hat das Aussehen eines Kommunisten', berichtete ein enttäuschter Agent in Harwich, nachdem Hill von einer Fähre ausgestiegen war, 'aber sein Gepäck, das vom HM Customs durchsucht wurde, enthielt keine subversive Literatur.') Hills Briefe wurden so ungeschickt abgefangen, dass er bei einer Gelegenheit bemerkte, dass eine in einem Brief erwähnte Anlage in einem Umschlag mit einem anderen Brief steckte. Später wurde er Master des Balliol College in Oxford, nachdem er zusammen mit mehreren anderen marxistischen Historikern aus der Kommunistischen Partei ausgetreten war - mit der bemerkenswerten Ausnahme von Eric Hobsbawm, dessen siebte und letzte Akte in der MI5-Sammlung noch immer nicht freigegeben wurde. Hobsbawm, dessen sechs weitere Akten ich bei der Recherche für meine Biografie 'Eric Hobsbawm: A Life in History' gelesen habe, stand ebenfalls unter Verdacht. Der MI5 verstärkte seine Überwachung und öffnete eine Zeit lang sogar seine Post, fand aber nichts Kompromittierenderes als Liebesbriefe von seiner verheirateten französischen Freundin in Paris. Der Sicherheitsdienst war besonders misstrauisch gegenüber Hobsbawm, weil er eher fremdländisch wirkte (seine Mutter war Österreicherin, und er unterhielt Kontakte zu Historikern auf dem Kontinent, auch in Ostdeutschland). Ein Agent, der eine seiner Vorlesungen mithörte, konnte nichts Belastendes finden, außer der Tatsache, dass sie 'wirklich interessant' war." Das war ungefähr zu der Zeit, als die Cambridge Five - alles Briten - ungestört ihr Land für die Sowjets ausspionierten.

Magazinrundschau vom 12.07.2022 - The Nation

Die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts sind schon genauso konformistisch wie die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ächzt David Bromwich, in der rechtschaffenen Kunst unserer Tage werde nur noch saubere Wäsche gewaschen: "Jean-Luc Godards Film 'Außer Atem' handelt von einem jungen Ganoven und seiner Geliebten und dem Rausch von Betrug, Flucht und Verrat, den ihre Verliebtheit ihnen beschert. Nichts zwingt uns dazu, diese Menschen für bewundernswerte Exemplare der menschlichen Gattung zu halten. Wir verabscheuen sie aber auch nicht. Es genügt, dass sie interessant sind, und ihr oberflächlicher Glanz macht einen Großteil der Wirkung aus. In einer frühen Szene dreht sich der Held zur Kamera und spricht das Publikum frontal an: 'Wie bitte, Sie lieben das Meer nicht? Sie machen sich auch aus dem Gebirge nichts? Für Städte haben Sie auch nichts übrig? Da kann ich nur sagen: Sie können mich.' Wollte Godard damit sagen: "Entspannen Sie sich, es ist nur ein Film?' Der Moment schien eine schärfere Ermahnung zu vermitteln: 'Es ist mir egal, ob Sie das mögen, aber Sie werden dableiben. Es wird Sie interessieren - später können Sie sich fragen, warum.' Die Unverfrorenheit ging Hand in Hand mit einer eigentümlichen Freiheit und Unbekümmertheit. Sie überraschte den Wunsch des Zuschauers nach einer einstudierten Reaktion, nach dem Einrasten der Falle in der üblichen Handlung."

Ein Jahr nach den großen Protesten in Kuba umreißt William M. LeoGrande die Reaktion der Regierung: "Als die Proteste aufkamen, denunzierte Präsident Miguel Díaz-Canel sie als konterrevolutionär und rief seine Anhänger auf die Straße, um die Revolution zu verteidigen. Die Polizei verhaftete mehr als 1.300 Menschen. Einige Tage später milderte Díaz-Canel seinen Tonfall ab und räumt ein, dass die Demonstranten legitime Sorgen hätten. In  der Folge setzte die Politik einerseits auf ein hartes Vorgehen gegen Opponenten, andererseits auf Programme gegen die wirtschaftliche Not, die die Menschen auf die Straße getrieben hatte."
Stichwörter: Kuba, Godard, Jean-Luc

Magazinrundschau vom 28.06.2022 - The Nation

Als Benjamin Moser aufwuchs, begriff er, dass er schwul war, er begriff auch, wie gefährlich, ja tödlich das sein konnte - Aids forderte bereits die ersten Opfer -, aber in gewisser Weise liebte er genau das, erzählt er. Wie aber konnte ein so aufregender Lebensstil plötzlich banal werden? "Ich liebte Schwulenpornos wegen der Handlung. Der Anreiz, die Spannung, die Ungezogenheit kamen von diesen verbotenen Blicken, von dem Moment, in dem ich mich fragte, wie das wohl ausgehen würde. Wenn man die Zeitschrift oder das Video in einem Laden wie Lobo kaufte, wusste man natürlich, wie es ausgehen würde. Aber man wusste auch, wie ein Jane-Austen-Roman ausgehen würde, und das machte das Buch nicht weniger spannend. Pornos waren nicht das wahre Leben. Es war eine Ästhetisierung - und wie alle erfolgreichen Ästhetisierungen realer als das wirkliche Leben. ... Der Liebesroman war wirksam, weil wir uns nach der perfekten Liebe sehnten. Und Schwulenpornos waren wirksam, weil jeder, der diese geheimen Veröffentlichungen kaufte, die Erfahrung verstand, nicht hinsehen zu dürfen, nicht hinzusehen, hinzusehen, und dann - schließlich, endlich - jemanden zu haben, der zurückschaut. Das war für Schwulenpornos das, was die Heiratsverschwörung für Jane Austen war. Als das Verbot des Hinsehens zu verschwinden begann, löste sich diese Handlung auf. Wie ihre heterosexuellen Gegenstücke wurden die schwulen Produktionen zu Feiern des schönen Körpers: Pornografie, aber, obwohl die Modelle alle Männer waren, nicht ganz das, was ich unter Schwulenpornografie verstand. ... Je älter ich wurde, desto eher ließ sich Homosexualität mit einer Karriere bei Morgan Stanley oder im Außenministerium vereinbaren. Es war eine Art Fortschritt, nehme ich an. Und das einzige Opfer, das es verlangte, war unsere besondere Art zu schauen: unsere Blicke."

Magazinrundschau vom 15.03.2022 - The Nation

Schon in den 1920er Jahre beschäftigte sich der deutsche Kunsthistoriker Alexander Dorner mit der Frage nach dem Sinn von Kunstmuseen, in einem 1938 veröffentlichten Essay mit dem Titel "Why Have Art Museums" warf er der Museumswelt vor, sich den Eliten anzudienen. Dorners Fragen bleiben aktuell, schreibt Barry Schwabsky. Museen und ihre Kuratoren müssen sich mehr denn je ihrer Verantwortung stellen: Peter-Klaus Schuster, ehemaliger Direktor der Staatlichen Museen zu Berlin, stellte in dem kürzlich erschienenen Buch "Living Museums: Conversations With Leading Museum Directors" des Kurators Donatien Grau vom Metropolitan Museum, fest, dass sich "Museen nicht mehr hinter einer Autorität verstecken können, nicht einmal hinter ihrer eigenen...' Er kommt zu dem Schluss, dass Museen 'in der Lage sein müssen, im Detail zu rechtfertigen, was wir tun und warum wir es tun'. Die Schwierigkeit, das zu tun, spiegelt sich vielleicht in der Tatsache wider, dass, wie Artnet kürzlich berichtete, 22 amerikanische Museen derzeit neue Direktoren suchen, aber laut der früheren Leiterin des Queens Museum, Laura Raicovich, stellten sie fest: 'Die Leute wollen im Moment wahrlich keine Direktoren sein, weil die Jobs emotional nicht aushaltbar sind.' Der Verlust an Autorität kann verschiedene Formen annehmen. Ich habe mich zwar hauptsächlich auf Museen für zeitgenössische und moderne Kunst konzentriert, aber die Krise geht weit darüber hinaus und betrifft auch Einrichtungen, die sich mit anderen Kunstepochen befassen, und vielleicht vor allem solche, die sich als 'enzyklopädische' Museen verstehen. Bei letzteren setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass ihre Sammlungen zu einem großen Teil mit Mitteln zusammengetragen wurden, die heute offensichtlich anrüchig, ja sogar kriminell sind - kurz gesagt, enstanden durch (manchmal legalisierte) Plünderung und Eroberung. (…) Wie spät oder wenig bisher auch immer restituiert wurde, Rückgaben können nur begrüßt werden. Ich würde mir wünschen, dass die ehemaligen Bewahrer der zurückgegebenen Objekte erkennen, dass sie von einer moralischen Last befreit wurden. Aber hier gibt es eine tiefere Konsequenz: Die europäischen und nordamerikanischen Institutionen sollten nicht länger nach ihrer lang gehegten Fantasie der Universalität streben."
Stichwörter: Restitution, Museen, Plünderung

Magazinrundschau vom 01.03.2022 - The Nation

Es gab mal eine Zeit, in der die Comicindustrie nicht alleine von Superhelden abhängig war, sondern alle möglichen Themen und Genres beackerte - solange sie in der einen oder anderen Hinsicht reinknallten, schreibt J. Hoberman in einer großen Besprechung von Paul S. Hirschs Buch "Pulp Empire: The Secret History of Comic Book Imperialism". Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg waren Superhelden, die mit Zahnpasta-Grinsen auf Böse-Buben-Hatz gingen, sogar ziemlich abgemeldet - die Zeiten waren zu düster dafür geworden. "Im Hinblick auf Atomwaffen drückten Comics die ganze Bandbreite populärer Ambivalenz aus. Da sie im Verhältnis zu Filmen kaum zensiert wurden, entpuppten sich ironischerweise gerade Horrorcomics als besonders gut dafür geeignet, über die furchterregende Natur der Bombe zu meditieren. Die Darstellungen des Atomzeitalters boten das volle Programm - vom dümmlichem Gespött über fröhliches Verleugnen sowie Fantasien von radioaktiven Superhelden und Träumen einer unter einer Regierung geeinten Welt bis hin zu apokalyptischen Visionen eines in Schutt und Asche gelegten Planeten. ... Wie Hirsch schreibt, befassten sich solche EC Comcs wie Weird Science und Weird Fantasy in so gut wie jeder Ausgabe mit der Bombe. Gängigerweise zeigten sie sie 'als etwas, das zu groß und zu mächtig ist, als dass Menschen sie kontrollierten könnten'. In der Tat griffen EC Comics, wo mit Bernard Kriegsteins 'Master Race' (1955) mindestens eine Geschichte erschien, die sich explizit mit dem Holocaust beschäftigte, Facetten radikaler und dissidenter Kultur aufgriffen. So befassten sich ECs Two-Fisted Tales und Frontline Combat (beide vom späteren MAD-Erfinder Harvey Kurtzman redigiert) in der Hochphase des Koreakriegs mit der Sinnlosigkeit des Krieges und, was noch viel radikaler war, mit der Menschlichkeit des Feindes. Diese Comics waren nicht nur unpatriotisch, sondern sogar subversiv, nicht zuletzt darin, da sie auch ohne weiteres in Kasernen aufschlagen konnten."
Stichwörter: Comics, Atomwaffen, Fantasy

Magazinrundschau vom 16.11.2021 - The Nation

Gefährlicher als die Scharmützel an der belarussischen Grenze ist die Lage im Osten der Ukraine, glaubt Anatol Lieven und gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am ungelösten Konflikt um die Donbass-Region: Dass die Ukraine dem Donbass keine Autonomie gewähren will, solange die Separatisten nicht entwaffnet sind, hält er für vorgeschoben: "Der Hauptgrund für diese Weigerung war neben dem allgemeinen Bestreben, die Zentralgewalt in Kiew zu behalten, die Überzeugung, dass eine dauerhafte Autonomie des Donbass die Ukraine am Beitritt zur Nato und zur Europäischen Union hindern würde, da die Region ihre verfassungsmäßige Stellung innerhalb der Ukraine nutzen könnte, um die Mitgliedschaft zu blockieren. Das offizielle Versprechen der USA für eine eventuelle ukrainische Nato-Mitgliedschaft - wie leer es in Wirklichkeit auch sein mag - hat verhindert, dass die Vereinigten Staaten eine positive Rolle bei der Lösung des Konflikts spielen. Diese ukrainischen und amerikanischen Argumente sind jedoch ein klassischer Fall eines Zirkelschlusses: Solange die Ukraine in einen Territorialkonflikt verwickelt ist, wird sie niemals der Nato und der EU beitreten können. Das sollte sie auch nicht. Selbst wenn eine US-Regierung bereit wäre, ein solches Risiko einzugehen, würden Deutschland und Frankreich mit Sicherheit ihr Veto einlegen. Und es gibt keine Möglichkeit, diesen Konflikt zu ukrainischen Bedingungen zu lösen, ohne einen Krieg gegen Russland zu gewinnen, was unmöglich ist. Realistisch betrachtet sind die grundlegenden Bedingungen von Minsk II - ein Ende des Krieges und Autonomie für den Donbass innerhalb der Ukraine - das beste Angebot, das die Ukraine jemals erhalten wird. Wenn die Vereinigten Staaten das aussichtslose Ziel einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aufgeben, können sie die ukrainische Regierung und das ukrainische Parlament durch die glaubwürdige Androhung des Entzugs der US-Hilfe und politischen Unterstützung unter Druck setzen, einem 'Minsk III' zuzustimmen. Und sollte Moskau dieses Abkommen ablehnen, sabotieren oder den Donbass-Separatisten erlauben, dies zu tun, dann sollten alle bestehenden westlichen Sanktionen gegen Russland im Zusammenhang mit dem Donbass- und dem Krim-Konflikt nicht nur aufrechterhalten, sondern erheblich verschärft werden."