Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
NRC Handelsblad (Niederlande), 12.10.2006
Merijn de Waal war dabei, als ein gutgelaunter Al Gore seinen Film zur Klimakrise, "An Inconvenient Truth", in Amsterdam vorstellte. Schon lang nicht mehr der "steife, ungelenke, farblose Präsidentschaftskandidat", berichtete Gore von einem unerwarteten Fan aus dem republikanischen Lager: "'Letztens rief mich Arnold Schwarzenegger an. Er sagte zu mir (Gore imitiert einen deutschen Akzent): 'Ich verkaufe jetzt meinen Hummer.' Und er hat es getan!"
Weiteres: Anila Ramdas macht sich in seiner Kolumne Gedanken über Gandhis Lendenschurz und die politische Bedeutung von Kleidung, und Marie Jose Klaver zitiert in ihrem Weblog Raymond Spanjar, 29-jähriger Gründer der Social Network-Plattform Hyves (in Holland beliebter als Youtube oder Myspace), der gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Sprout eine potentielle Übername durch Google kommentierte: "1,65 Milliarden Dollar? Dafür tun wir?s nicht."
Gazeta Wyborcza (Polen), 14.10.2006
Weitere Artikel: Der Publizist und Schriftsteller Peter Lachmann zeichnet ein Porträt des Schriftstellers und Komponisten E.T.A. Hoffmann, der "ganz aus Widersprüchen bestand. Ein Künstler und Beamter, dessen Leben zwischen Deutschen und Polen genug Stoff für ein großes Schelmenepos liefern könnte", aber wundersamerweise noch nicht mit einem Denkmal in Warschau gewürdigt wird. Begeistert beschreibt Katarzyna Bik die Ausstellung "Industriestadtfuturismus", die passenderweise im berühmten realsozialistischen Industrievorort von Krakau, Nowa Huta gezeigt wird. Künstler entwerfen Zukunftsvisionen für zwei Arbeiterstädte, die in totalitären Systemen von Grund auf neu gebaut worden waren: das nationalsozialistische Wolfsburg und das stalinistische Nowa Huta.
New York Review of Books (USA), 02.11.2006
In einem Offenen Brief protestieren hundert chinesische Intellektuelle und "Netzbürger" gegen die Schließung der kritischen Website Century China vor einem Jahr: "Die Schließung von Century China ist ein weiteres Beispiel für die Unterdrückung der Freiheit durch die chinesische Regierung. Deshalb müssen wir scharfen und unnachgiebigen Protest erheben gegen den Missbrauch der Macht durch die Regierung."
Weiteres: Christopher de Bellaigue beobachtet den wachsenden Einfluss des schiitischen Islams in der arabischen Welt. Aryeh Neier verteidigt Human Rights Watch, das für seine Kritik an der israelischen Kriegsführung im Libanon seinerseits stark kritisiert wird. Die Autorin Joyce Carol Oates schreibt eine Hommage auf ihre kanadische Kollegin Magaret Atwood, an der sie besonders den "kalten, aber nicht mitleidslosen Blick" bewundert. Besprochen werden außerdem Karen DeYoungs Colin-Powell-Biografie "Soldier" und eine James-Stewart-Biografie von Marc Eliot, die gänzlich ohne Skandale und Affären auskommen muss.
al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 11.10.2006
In Syrien beobachtet Lisas Hatahat ein wachsendes Interesse an traditioneller Musik - deutlich sichtbar in den zahlreichen Instituten, die Kurse in orientalischer Musik anbieten. Etwas irritiert nimmt sie daher die Aussage des Gründers der bekannten Musikschule Bayt al-Oud in Kairo, Naseer Shamma, zur Kenntnis: "Es gibt keinen Westen oder Osten in der Musik. Die Musik ist eine Welt mit unterschiedlichen Dialekten. Alles andere sind nur Labels. Die Kultur ist eins, und die Künste und Instrumente sind ähnlich. Das entscheidende ist, wo sich der Mensch selbst wiederfindet."
In Kairo beobachtet Muhammad Abu Zaid frustiert einen Streit unter Intellektuellen. Es geht um nichts weniger als das geistige Erbe Nagib Mahfus' und darum, wer zukünftig für ihn sprechen darf.
Spectator (UK), 13.10.2006
Allister Heath hat den französischen Philosophen Bernard-Henri Levy getroffen, der einmal mehr erklärte, dass Anti-Amerikanismus eine Form von Faschismus sei. Spannend fand Heath aber, was Levy über Multikulti in Großbritannien zu sagen hatte: "'Britische Bürger, älteren oder jüngeren Ursprungs, sollten sich zusammen an einen Tisch setzen und versuchen, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schreiben. Es ist dringend. Wenn nicht, werden Sie überall Unruhen bekommen, so wie wir in Frankreich, aber Ihre werden noch schlimmer ausfallen.' Nach der Bemerkung zuckte Levy mit den Achseln und ich fragte mich zum ersten Mal in meinem Leben, ob wir besser dran wären, wenn unsere Intellektuellen ein bisschen mehr wie die in Frankreich wären."
Esprit (Frankreich), 01.10.2006
Marie Mendras schreibt für Esprit einen sehr kenntnisreichen, auf den 13. Oktober datierten Online-Kommentar über den Mord an Anna Politkowskaja. Sie warnt unter anderem davor, die sich jetzt verbreitende offizielle Version über die Täter zu glauben - demnach sei der Mord von streitenden tschetschenischen Fraktionen zu verantworten. "Diese Version hätte den doppelten Vorteil, dass man einerseits den Feind Nummer 1 auslöscht und den Mord andererseits den Tschetschenen gleich welcher Fraktion in die Schuhe schieben kann. (...) Es wäre unerträglich, wenn diese sich abzeichnende offizielle These vom russischen Publikum, das dem Fernsehen ausgeliefert ist, und den europäischen Regierungen, die es sich nicht mit Putin verderben wollen, geschluckt würde. Nein, Anna Politkowskaja ist kein Opfer einer Abrechnung unter Tschetschenen. Misstrauen wir angeblichen Schuldigen, die jetzt aus dem Hut gezaubert werden könnten. Der Mord an Anna Poltikowskaja ist eine politische Tat."
Auch das Editorial der Zeitschrift ist freigeschaltet, das sich in diesem Monat noch einmal mit den Unruhen in den Banlieues vor einem Jahr befasst.
Express (Frankreich), 12.10.2006
Weltwoche (Schweiz), 12.10.2006
Franziska K. Müller unterhält sich mit dem Wiener Evolutionsbiologen Karl Grammer, der erklärt, warum das Gerede von den inneren Werten völliger Humbug ist: "Wird eine Frau gesichtet, läuft beim Mann - ähnlich wie bei einer Waschmaschine - das immergleiche Programm ab. Unsere Feldstudien in Japan und Deutschland ergaben, dass Männer generell alle Frauen interessant finden, und ihre Chancen stufen sie durchwegs als besser ein, als sie in Wirklichkeit sind. Anschließend versuchen sie, die schönsten Frauen zu beeindrucken. Egal, ob das gelingt oder nicht: Männer glauben, sie seien die Jäger, in Wirklichkeit bestimmt jede Frau zu hundert Prozent selbst, ob und von wem sie sich erlegen lassen will."
New Yorker (USA), 23.10.2006
Weitere Artikel: Dan Baum porträtiert die Morgensendung von Renan Almendarez Coello, dem "Cheerleader der Lateinamerikaner"; er erreicht als "El Cucuy de la Manana" über den Sender KLAX La Raza in der Region Los Angeles Millionen spanischsprachiger Radiohörer, die er allmorgendlich mit dem Schrei "Arriba! Arriba! Arriba! Arriba! Arriba! Arriba!"(Aufstehen!) weckt. Nick Paumgarten erzählt, wie der Casinobesitzer und Kunstsammler Steve Wynne ein Gemälde von Picasso, das er eigentlich zum Rekordpreis von 139 Millionen Dollar verkaufen wollte, mit dem Ellbogen rammte und dies als "Zeichen des Schicksals" wertete, es besser zu behalten. Aus dem Archiv wird noch einmal eine autobiografische Geschichte des neugekürten Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk abgedruckt, ergänzt um Porträts des türkischen Schriftstellers von John Updike und David Remnick. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Stairway to Heaven" von Aleksandar Hemon.
Besprechungen: "Hervorragend und subversiv" findet John Lahr den Monolog des Theaterstücks "Wrecks" von Neil LaBute. Anthony Lane stellt Sofia Coppolas Film "Marie Antoinette" vor, von dem er über weite Strecken den Eindruck hatte, "Paris Hilton hätte ihn gemacht"; außerdem einen weiteren Film zu Truman Capote, "Infamous" von Douglas McGrath, den der Kritiker auch den Zuschauern empfiehlt, die schon Bennet Millers "Capote" gesehen haben.
The Nation (USA), 13.10.2006
Tygodnik Powszechny (Polen), 15.10.2006
Und was meint Dorota Maslowska selbst? In einem sehr langen Interview mit dem Tygodnik vergleicht sie die Preisverleihung mit der Geburt ihres Kindes: "Eine große Erleichterung. Ich muss nichts mehr beweisen. Ich wurde immer für eine Pseudo-Schriftstellerin gehalten, und jetzt bin ich in der richtigen Schublade gelandet. Andererseits fühle ich die Schwere dieses Urteils: Alle sind beleidigt!"
Guardian (UK), 14.10.2006
Außerdem: John Gittings berichtet über seine eigenen Erfahrungen in Nordkorea, die ihn gelehrt haben, dass dort "das Wirkliche und das Unwirkliche, das Normale und das Anormale unlösbar miteinander verquickt sind", und dass man lernen müsse, diese verschiedenen Stränge voneinander zu unterscheiden. Und Richard Holmes bespricht als "Buch der Woche" Claire Tomalins neue Biografie von Thomas Hardy, die vor allem das schwierige Eheleben des englischen Klassikers darstellt und bleibende Eindrücke hinterlässt: "Wer könnte vergessen, wie Hardy, nur mit Kniestrümpfen bekleidet, Gedichte schreibt?"
Economist (UK), 13.10.2006
Die am 7. Oktober ermordete Journalistin Anna Politkowskaja hatte dies vorausgesehen, schreibt der Economist im Nachruf und bedauert, dass gerade ihr Tod ihr Recht geben sollte. "Putins Regime ist zutiefst brutal und korrupt, sagte sie mit ihrer sanften, sachlichen Stimme. Er verkörpert die bösesten Dämonen der sowjetischen Vergangenheit, die nun in moderner Form zu neuem Leben erwacht sind. Hunderte haben sterben müssen, damit er an die Macht gelangt, und das war erst ein Vorgeschmack auf den Faschismus und den Krieg, die folgen sollten. Nun erscheint ihr Pessimismus weniger extrem." Politkowskaja selbst habe ein ums andere Mal die kleinste Form des Widerstandes beschrieben: "Angesichts eines KGB-Offiziers als Präsident, ist das Mindeste, was du tun kannst, manchmal zu lächeln, um den Unterschied zu zeigen zwischen ihm und dir."
Foglio (Italien), 14.10.2006
Auf den gleichen Seiten fragt sich Siegmund Ginzberg, wie lange China Nordkorea noch unterstützen wird. Giuseppe Garibaldi, der Held des italienischen Risorgimento, und Aureliano Buendia aus Gabriel Garcia Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf, behauptet Nicola Fano in seinem Geburtstagsartikel für ersteren. Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft von Sant'Egidio, setzt in Sachen spiritueller Erneuerung des Westens große Hoffnungen auf Benedikt XVI.
New York Times (USA), 15.10.2006
Als echten Unsympath schildert Daniel Mendelsohn in der New York Times Book Review den Autor Jonathan Franzen in seiner Besprechung von Franzens autobiografischen Essays "The Discomfort Zone" (Auszug). Franzen sei eine tragische Figur, die ihren Sturz in der Publikumsgunst selbst zu verantworten habe (zur Erinnerung: Franzen fand seinen Bestseller "Die Korrekturen" zu genial für Oprah Winfreys populären Buchclub): "Wie dieses unappetitliche Buch zeigt, hat Franzen, anders als Ödipus oder Hippolytus, nichts dazu gelernt. Die während der Oprah-Affäre zur Schau gestellte selbstgefällige Cleverness einerseits, die entwaffnende, manchmal unangebrachte Offenheit andererseits, Egozentrik, Altklugheit und die von Unreife zeugende Unfähigkeit, die Wirkung seiner Brillanz auf andere zu ermessen - sie bestimmen nicht nur Franzens Karriere, sondern den Mann selbst." Darum, meint Mendelsohn, habe sich Franzen als Kind auch nicht mit dem Loser Charlie Brown identifiziert, sondern mit Snoopy, "der zu ichbezogen ist, um zu merken, dass er kein Mensch ist".
Weiteres: Douglas Brinkley lobt das entmythisierende Potential in Michael Streissguths Biografie "Johnny Cash". Elissa Schappell bedauert das überstürzte Ende in Joyce Carol Oates' neuem Roman "Black Girl / White Girl". Und Megan Marshall schätzt an Antonia Frasers populärgeschichtlichem Werk über König Ludwig XIV. und die Frauen ("Love and Louis XIV") nicht zuletzt die kuschelige Schlafzimmer-Atmosphäre.