Magazinrundschau - Archiv

The New York Review of Books

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Magazinrundschau vom 04.07.2023 - New York Review of Books

Gabriella Torres-Ferrer: Untitled (Valora tu mentira americana), 2018. Foto: Whitney Museum

Warum sind die Strände, mit denen uns die Karibik verheißen wird, eigentlich immer leer? Und warum wiegen sich dort sanft die Kokospalmen im Wind, obwohl diese Bäume in der Karibik überhaupt nicht heimisch sind? Carolina Miranda hatte in diesem Frühjahr gleich in drei Ausstellungen in New York, Chicago und San Juan Gelegenheit, Klischees der Karibik zu hinterfragen. Alle drei zeigen der betroffenen Kritikerin aber auch, dass in der karibischen Wahrnehmung die Tropenstürme inzwischen an die dritte Stelle der historischen Verheerungen gerückt sind, nach Sklaverei und Kolonialismus. Der Hurrikan Maria verwüstete 2017 Puerto Rico und kostete dreitausend Menschen das Leben. Er deckte aber auch auf, in welch miserablem Zustand die Insel bereits war, wie sie leider erst zum Ende der drei Schauen schreibt: "Die Verwendung des Hurrikans Maria als Grundlage für die Ausstellung 'No existe un mundo poshuracán' im Whitney Museum birgt das Risiko, das Ruinöse gegenüber dem Möglichen überzubetonen. Einige, die an der Ausstellung beteiligt sind, bewerten die dann auch ambivalent. 'Viele meiner puertoricanischen Künstlerfreunde auf dem Archipel und in der Diaspora stört es, dass uns ausgerechnet der Katastrophenkapitalismus in kulturellen Institutionen wieder sichtbar macht, einschließlich dem Whitney', schreibt die Essayistin Carina del Valle Schorske im Katalog. 'Wie die Katastrophe uns auch ein wenig berühmt gemacht, wie sie uns um ein bisschen Veränderung gebracht hat'. Der Titel der Ausstellung nach einem Gedicht der puertoricanischen Schriftstellerin Raquel Salas Rivera scheint dieses Unbehagen anzuerkennen ... Die Ausstellung, die eine ganze Etage des Whitney-Gebäudes einnahm, brachte - wie Salas Riveras Gedicht - Ausdrucksformen von Trauer, Wut und Widerstand auf genau die Insel (Manhattan), auf der die ruinösen Schulden Puerto Ricos entstanden sind. Die Besucher wurden von einem zerbrochenen hölzernen Laternenpfahl begrüßt, den die Künstlerin Gabriella Torres-Ferrer aus den Trümmern von Maria geborgen hatte. Der Mast trug noch ein Plakat für eines der halbjährlichen Referenden über den politischen Status der Insel, Inszenierungen der Demokratie, die in keiner Weise verbindlich sind. Darauf steht: 'Valora tu Ciudadanía Americana' (Wertschätzen Sie Ihre amerikanische Staatsbürgerschaft), ein Plädoyer für die Staatsbürgerschaft gegenüber der Unabhängigkeit. Das Jahr des Hurrikans markierte ironischerweise auch den hundertsten Jahrestag des Jones-Shafroth-Gesetzes, das den Puertoricanern die amerikanische Staatsbürgerschaft verlieh - wenn auch nicht das Recht, an Bundeswahlen teilzunehmen. Auf Englisch trägt Torres-Ferrers Beitrag den Untertitel 'Value Your American Lie'."

Magazinrundschau vom 13.06.2023 - New York Review of Books

Ganz so pragmatisch wie Hassan Abbas es in "The Return of the Taliban" vorschlägt, würde Steve Coll zwar nicht mit den Herrschern in Kabul umgehen wollen, aber in dem gut informierten Buch lernt er gleichwohl, dass die internationale Kritik an der Unterwerfung der Frauen den Taliban herzlich egal ist. Die Macht ihres Emirs Mullah Hibatullah Akhundzada können höchstens die machthungrigen jungen Wölfe gefährden, etwa Innenminister Sirajuddin Haqqani, dessen Familie enge Beziehungen zu Saudi-Arabien, dem pakistanischen Geheimdienst und Al Quaida hat. "Ein weiterer vermeintlicher Jungtürke im Taliban-Kabinett ist der Verteidigungsminister Mullah Jakub Mudschahid, der Anfang dreißig und ein Sohn von Mullah Omar ist. Gegenüber Steve Inskeep von NPR sagte er letztes Jahr, es sei 'offensichtlich', dass er bessere Beziehungen zu den USA wolle. Als aufstrebender Spross einer bekannten Familie gehört er zu einer Klasse von dynastischen Politikern, die in ganz Südasien bekannt sind. Bei einem offiziellen Besuch in Katar im vergangenen Jahr wurde er fotografiert und wirkte an Bord seines Regierungsjets und bei Gesprächen mit katarischen Führern sehr entspannt. Zu Beginn dieses Jahres machte auch Yakub Bemerkungen, die als indirekte Kritik an Hibatullah angesehen wurden. Abbas vertritt die Auffassung, dass die 'Kampflinien' zwischen den 'relativ pragmatischen Taliban in Kabul und ihren äußerst konservativen Kollegen' in Kandahar gezogen sind. Bisher hätten die Spaltungen allerdings nur zu einer 'politischen Lähmung' geführt."

Magazinrundschau vom 14.03.2023 - New York Review of Books

Charles Glass hat ein Visum für Syrien ergattert, allerdings nur eines für Touristen, deswegen konnte er nur begrenzt recherchieren. In Damaskus erlebt er nichts als Resignation und Bitterkeit. Die amerikanischen Sanktionen treffen die Bevölkerung hart, aber nicht alle müssen unter ihnen leiden, wie ihm unter anderem ein neues Vier-Sterne-Hotel zeigt: "Neben den heruntergekommenen Wohnungen und Häuser der Armen, die sie sich Essen und Heizung nicht mehr leisten können, gibt es die neonbeleuchteten Restaurants, Cafés und Nachtclubs der wohlhabenden Viertel Abu Rummaneh und Malki. Verschlimmert wird das Unglück dadurch, dass sich Syrien in einen 'Narkostaat' verwandelt hat, wie ihn der Economist nennt, der zusammen mit libanesischen, jordanischen und saudischen Schmugglern illegale, süchtig machende, amphetaminähnliche Captagon-Pillen im Wert von Milliarden von Dollar produziert und exportiert. So mancher Ferrari und Maserati, der vor teuren Restaurants parkt, wurde mit Drogengeldern gekauft. Nachkommen alter, aber jetzt verarmter Handelsfamilien haben nur Spott für die Neureichen übrig, die ihr Vermögen im Krieg gemacht haben und es durch Umgehung der Sanktionen noch vergrößern. 'Das Regime ist immer noch da, aber das Volk leidet', sagt ein Diplomat. 'Wiederaufbau' ist ein verbotenes Wort, denn internationale Organisationen dürfen nur tröpfchenweise humanitäre Hilfe leisten, aber keine Mittel für den Wiederaufbau stellen. Das Caesar-Gesetz droht, jeden zu bestrafen, der sich am Wiederaufbau der durch den jahrelangen Krieg zerstörten syrischen Infrastruktur beteiligt. Das ist die Logik der Sanktionen."
Stichwörter: Syrien, Assad-Regime, Damaskus, Ferrari

Magazinrundschau vom 13.09.2022 - New York Review of Books

Dass Russland jetzt Weizentransporte aus der Ukraine passieren lässt, wird die Ernährungslage in den nordafrikanischen Ländern verbessern. Nicht verändern wird sich die Lage in Jemen, Südsudan und Äthiopien, wo das Aushungern der Zivilbevölkerung zur Taktik der kriegführenden Parteien gehört, mahnt Alex de Waal: "Hunger ist in einem Krieg die beliebteste Waffe:einfach, billig, still und grauenhaft effektiv." Aber de Waal betont auch, dass nicht nur Russland oder China die Verurteilung derartiger Verbrechen verhindern, auch die USA und Großbritannien halten an einem Recht auf See- und Handelsblockaden fest. "Die saudische Luftwaffe stützt sich auf amerikanische Ausrüstung, und die US-Navy hilft Saudi-Arabien dabei, die Blockade des Jemen im Roten Meer durchzusetzen. Der Jemen, das ärmste Land der arabischen Welt, war bereits von Nahrungsimporten abhängig und von ernster Wasserknappheit betroffen, bevor die Blockade verhängt wurde. In diesem Jahr muss das Welternährungsprogramm dreizehn Million Jemeniten versorgen, das ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung, aber nur ein Teil der Bedürftigen. Die UN beißen sich auf die Zunge, weil sie nicht die Länder kritisieren wollen, die ihre humanitären Programme finanzieren. Im Dezember 2020 schätzten sie, dass seit Beginn des Krieges 131.000 Jemeniten an 'indirekten Gründen' gestorben seien - ein Euphemismus für Hunger und Mangel an Medikamenten. Die Zahl wurde bisher nicht aktualisiert. Keine der kriegführenden Parteien lässt internationale Agenturen Untersuchungen durchführen, die das wahre Ausmaß der Krise erkennen lassen würden. Sie haben gute Gründe, die Zahlen zu fürchten... Im vergangenen Juni war Mark Lowcock, damals der Chef der UN-Nothilfe, kurz davor, eine Hungersnot in Tigray auszurufen. Aber das UN-System als Ganzes umging das Problem mit seinen Euphemismen wie 'Gefahr einer Hungersnot' oder 'am Rande einer Hungersnot', weil niemand die Zahlen hatte, um zu beweisen, dass die Tigrayer bereits an Hunger starben. Neun Monate nach Lowcocks Versuch, bei den UN Empörung und Taten auszulösen - er verließ einen Monat später seinen Posten -, schätzte ein belgisches Forscherteam, dass bereits 265.000 Tigrayer verhungert seien. Die Zahlen dürften mittlerweile höher liegen. Das Welternährungsprogramm veröffentlichte kürzlich eine Untersuchung, derzufolge ein Drittel aller Kinder in Tigray unterernährt seien, doch die äthiopische Regierung unter Abiy Ahmed hat den Mitarbeitern anscheinend nicht erlaubt, Zahlen zu den toten Kindern zu erfassen. Ohne diese Zahlen, sagte eine Sprecherin des WEP, kann keine Hungersnot ausgerufen werden. 'Wir wissen es ja nicht genau', sagte sie."

Magazinrundschau vom 12.07.2022 - New York Review of Books

Seit der indische Schriftsteller Amitav Ghosh 2016 mit seinem Buch "Die große Verblendung" die Debatte um den Klimawandel in der Literatur entfacht hat, steht die Frage im Raum, welche Verantwortung die Literatur und Kritik im Angesicht des Klimawandels tragen. Seitdem haben etliche Autoren an der Frage weitergearbeitet, Gosh selbst natürlich, aber auch Martin Puchner in "Literature for a Changing Planet" oder Michael Rawson in "The Nature of Tomorrow". Aaron Matz liest diese Neuerscheinungen, aber beruhigen können sie ihn nicht: "Wenn man Literaturkritik über den Klimanotstand liest, bekommt man das ungute Gefühl, dass wir alles falsch gemacht haben. Worauf haben wir die ganze Zeit geachtet? Wir mögen uns sicher sein, dass wir zwischen bleibenden und vergänglichen Büchern unterscheiden können. Wir wissen vielleicht, welche Romane wir in unsere Lehrpläne aufnehmen müssen und warum. Aber wenn der Kataklysmus auch nur halb so schlimm wird wie erwartet, dann ist unsere Urteilssicherheit vielleicht nicht mehr von Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass literarischer Wert aus prognostischer Kraft resultiert. Doch eine Zukunft mit einer Erwärmung um 2,5 Grad wird unsere Vorstellungen von der Welt so durcheinander bringen, dass eine Literatur, die uns veraltet oder indifferent erscheint, vielleicht auch unlesbar wird. Wird diese Zukunft auch die Literaturwissenschaft antiquiert erscheinen lassen? Heute werden jedes Jahr zahlreiche Romane über den Notstand veröffentlicht, viel mehr als zu der Zeit, als Ghosh vor sechs Jahren sagte, dass es kaum welche gäbe, und es gibt inzwischen zahlreiche kritische Werke, die sich mit ihnen beschäftigen. Aber diese Arbeiten schwanken zwischen der Bewertung vergangener literarischer Leistungen und der Befürchtung über den zukünftigen Zustand der Kritik und des Planeten. Die Warnung der Kritiker an die Romanautoren lautete, dass nachlässige Bücher von heute die Schuld von morgen beweisen werden; vielleicht fürchten wir Kritiker nun selbst das gleiche Schicksal."

Magazinrundschau vom 12.04.2022 - New York Review of Books

In ihrer feministischen Geschichte "When Women Ruled the World" porträtiert Maureen Quilligan die vier Renaissance-Herrscherinnen Maria Tudor, Maria Stuart, Elisabeth I. und Katharina von Medici. Dass Quilligan dabei mit vielen Vorurteilen und Stereotypen aufräumt, findet die britische Historikerin Erin Maglaque sehr lobenswert, aber hier eine insgeheime friedliebende Schwesternschaft zu beschwören, die sich mithilfe wunderbarer Geschenke gegen männliche Intrigen und Kriegsführung behauptete, geht ihr zu weit: "Selbst wenn Frauen eher dem Frieden zuneigten, war dies eine angeborene Tugend ihres Geschlechts oder eine Folge der zeitgenössischen geschlechtsspezifischen Erwartungen an königliche Herrschaft? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Sicherlich wollten die Königinnen als friedliebend wahrgenommen werden; Elisabeth bemühte sich sehr darum, ihren weiblichen Wunsch nach Frieden auszustellen. Am Ende huldigt Quilligan der Königin geradezu, wenn sie schreibt, dass diese die Loyalität ihrer Untertanen durch ihre 'Beständigkeit, durch ihre Tapferkeit, ihre Intelligenz und offen gesagt durch den schönen Vortrag, den Witz, die Einfachheit und Ehrlichkeit von Good Queen Bess sowie den erhebenden Stil ihrer Reden' gewann. Es ist wahr, dass sie wusste, wie man eine ausgezeichnete Rede hält. Dieselbe Good Queen Bess ließ 1569 nach einem Aufstand katholischer Aristokraten, der Grafen von Westmorland und Northumberland, siebenhundert Bürger im Norden töten, obwohl die Grafen keine Unterstützung in der Bevölkerung erhalten hatten. Königinnen wie Elisabeth werden in der feministischen Geschichte und Populärkultur verehrt, weil sie Macht besaßen, ein seltenes weibliches Gut. Aber Macht hat ihre eigene Geschichte. Die vom liberalen Feminismus des 21. Jahrhunderts geliebte Handlungsmacht ist aber nicht dasselbe wie die Souveränität des 16. Jahrhunderts. Die Souveränität, die einem Herrscher durch Geburt verliehen war, wurde ebenso durch Zustimmung wie durch staatlich autorisierte Gewalt aufrechterhalten. Quilligan gibt sich alle Mühe, diese Gewalt wegzuerklären: Die von Elisabeth angeordnete Hinrichtung Maria Stuarts war etwa beklagenswerte Folge der Machtkämpfe von Männern. Die Königinnen glaubten an religiöse Toleranz, es sei denn, sie taten es nicht, und dann waren es die männlichen Figuren der patriarchalischen Reformation, die dafür verantwortlich waren, dass die friedlichen Instinkte der Königinnen gestört wurden. Und doch können wir das Töten nicht wegdiskutieren, denn es war für die Bedeutung von Souveränität in der frühen Neuzeit von grundlegender Bedeutung - selbst wenn Frauen die Haftbefehle unterzeichneten."

Magazinrundschau vom 29.03.2022 - New York Review of Books

Eric Berkowitz' rekapituliert in seinem Buch "Dangerous Ideas" die Weltgeschichte der Zensur, mit der unliebsame Schriften unterdrückt werden, seit Athen die Schriften des Sophisten Protagoras verbrennen ließ. Der chilenisch-amerikanische Schriftsteller Ariel Dorfman verschlingt das Buch geradezu, doch aus eigener Erfahrung ist er nicht einverstanden mit der eindeutigen Gegenüberstellung von zynischen Zensoren und heroischen Autoren: "Zensoren selbst glauben oft gar nicht, als Handlanger von Politikern, Oligarchen oder religiösen Potentaten zu dienen, sondern ihr Land und seine verletzlichen Gruppen - Frauen, Kinder, Arme - väterlich vor Verderbnis zu schützen. Das Verhältnis von Zensoren und denen, die sie unterdrücken, kann komplex sein, wie eine Begegnung illustriert, die ich selbst mit einem dieser Wächter in den späten siebziger Jahren hatte, als ich in Holland im Exil lebte. Eine Sammlung meiner Erzählungen sollte im Aufbau Verlag erscheinen, weswegen meine Frau und ich nach Ost-Berlin fuhren, um letzte Fragen zu klären. Beim Mittagessen erklärte mir der Verleger, dass er eine Geschichte nicht mit in die Sammlung aufnehmen würde. Bevor er sie beim Namen nannte, wusste ich, dass es 'Der Leser' sein würde. Ihr Protagonist Don Alfonso, ein Zensor mit Adleraugen in einer lateinamerikanischen Diktatur, erhält ein Manuskript, dessen Hauptfigur auf ihm selbst basiert und seine geheimsten Wünsche offenbart. Anstatt die Geschichte zu unterdrücken - und damit sein eigenes Spiegelbild zu ersticken -, erlaubt er sie und bringt damit sich selbst in Gefahr. Auch wenn es vielleicht naiv von mir war zu glauben, dass eine solche Erzählung unter einem Regime veröffentlicht werden würde, das die freie Rede im Namen des siegreichen Proletariers unterdrückte, verließ ich mich darauf, dass mein Verleger einen Weg finden würde. Schließlich fehlte es ihm nicht an Mut, er hatte für die Spanische Republik und gegen Hitler gefochten, und ich wusste, dass er auch Literatur respektierte, die nicht die typisch sozialrealistisch war. Aber als ich ihn fragte, was mit der Geschichte nicht stimmte, führte er ästhetische Argumente an: Stilistisch sei sie etwas seltsam, nicht wirklich gut konstruiert. Warum sollte ich ihn beschämen, indem ich behauptete, dass der wahre Grund hinter seiner Entscheidung politisch sei? Er hatte die 'Schere im Kopf' - wie Berkowitz die Phrase über die ostdeutsche Zensur zitiert. Ich zog meine gekappte Sammlung nicht tapfer zurück. Ich wählte den Kompromiss anstelle der Konfrontation, ich entschied mich, nicht den Rest meiner Geschichten einzubüßen, indem ich eine verteidigte. Auch diese Art der Rechnung gehört zur Geschichte der Zensur."

Howard French liest in Padraic Scanlans "Slave Empire" und Sathnam Sangheras "Empireland" nach, wie grundlegend der Sklavenhandel für den modernen britischen Kapitalismus war. Wenn Wirtschaftshistoriker dies lange bestritten, dann, schreibt French, weil sie allein die direkten Profite aus dem Menschenhandel in Rechnung stellten, nicht jedoch die der Plantagenwirtschaft insgesamt.

Magazinrundschau vom 08.03.2022 - New York Review of Books

Madeleine Schwartz fragt sich, wieso die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildago als Präsidentschaftskandidatin nicht so recht in die Gänge kommt. Von ihrer Partei wird sie unterstützt wie ein Gehängter von seinem Seil, lästerte L'Obs. Fataler aber noch dürfte ihre Progrramtik sein, Paris zu einer grünen Stadt umzubauen, wofür sie nicht nur außerhalb, sonder auch in der Stadt selbst angefeindet wird: "Paris ist eine Stadt geworden, die sich nur die Wohlhabenden leisten können. Sogar die zum Verkauf stehenden Lebensmittel haben sich hat sich verändert: Zwischen 2014 und 2017 ist die Zahl der der Bioläden um 47 Prozent zugenommen Prozent." Auch die geleckten Tech-Hubs machen sich in der Stadt breit, wie Schwartz bei einem Treffen mit dem Stadtgeografen Aurélien Delpirou erfährt: "Wir uns in einem italienischen Restaurant im Bahnhof F, einem ehemaligen Güterbahnhof, der 2017 als 'weltgrößter Start-up-Campus' mit etwa eintausend Möchtegern-Einhörnern wiedereröffnet wurde. Ich beobachtete die Menschenmassen, die ihr Mittagessen per App bestellten. Eine Frau hatte eine Tragetasche mit dem Bild eines großen Hahns und einem Logo mit der Aufschrift 'French Tech'. Ich fragte mich, warum Delpirou, der nicht den polierten Glanz eines Start-up-Mitarbeiters versprüht, dieses Restaurant gewählt hat. Als er ankam, erklärte er mir, dass es illustriere, was mit dem heutigen Paris nicht stimmt: technikorientiert, teuer, homogen. Sogar das Essen, fügte er hinzu, sei 'nicht sehr gut. Es ist mittelprächtig. Es ist viel zu teuer.... Ich finde den Ort eigentlich ziemlich unausstehlich.'"

Tim Flannery trauert um die Korallenriffe, deren Zerstörung rasend schnell fortschreitet: "Der sichtbarste Schaden ist das Ausbleichen durch die Klimaerwärmung. Juli Berwald erklärt (in ihrem Buch 'Life on the Rocks'), wie es dazu kommt. Korallenriffe entstehen aufgrund einer Symbiose zwischen der Koralle und einzelligen Algen. Beide Partner profitieren davon, die Algen erhalten Schutz und das CO2, das sie zum Wachsen benötigen, während der Korallenpolyp Nahrung in Form von Zucker erhält, der von den Algen während der Photosynthese produziert wird. Die Partnerschaft ist so stark, dass sie die Nahrungsmittelproduktion verhundertfachen kann. Bleichen ist ein sichtbarer Beweis dafür, dass die Symbiose zerstört ist. Die Korallen selbst sind farblos - es sind die Algen, die dem Riff Farbe verleihen. Jede Koralle hat ihren eigenen Algenpartner, und einige Algenarten produzieren bei steigenden Temperaturen nicht genug Nahrung. Berwald schreibt, es sei nicht klar, ob die Koralle die Alge aktiv abstößt oder die Alge aus eigenem Antrieb verschwinde, doch sobald die Beziehung ende, verliere die Koralle den größten Teil ihrer Nahrungsversorgung."

Magazinrundschau vom 01.03.2022 - New York Review of Books

Die Philosophin Martha Nussbaum stellt eine Reihe neuer Bücher vor, die uns lehren, die eigene Ignoranz gegenüber der Tierwelt zu überdenken. Nicht nur Menschenaffen, auch andere Säugetiere und sogar Vögel besitzen komplexe Intelligenz, kommunizieren und interagieren, beeherrschen kulturelles Lernen und sie empfinden Angst, Trauer oder Neid. Carl Safina ("Becoming Wild), Frans De Waal ("Mama's Last Hug") oder Janet Mann ("Deep Thinkers") fordern uns auf, meint Nussbaum, kognitive Vorurteile zu überwinden: "Ein Hindernis ist auch, was man als den falschen Reiz der Sprache bezeichnen könnte, der Glaube, dass Menschen die einzigen Lebewesen mit Sprache sind und dass diese uns vom Rest des zu Empfindungen fähigen Lebens trennt. Dies ist ein gleich doppelter Fehlschluss. Zum einen überhöht er die Zentralität der Sprache im menschlichen Leben. Auch wenn uns Schriftsteller etwas anderes erzählen, leben wir den Großteil unseren täglichen Gedankenlebens nicht in Worten. Wir denken in Bildern oder Tönen, und wenn wir in Sprache denken, dann in verkürzten Fragmenten, nicht in der Prosa eines Henry James. Zu anderen übersieht er den immensen Reichtum jenes Systems, mit dem Tiere kommunizieren und das wir bisher noch kaum verstehen. Aber zumindest beginnen wir zu begreifen, wie unglaublich schön und komplex Walgesänge sind, dass sich im vokalen Repertoire von Meisen syntaktische Kombinationen finden, und dass Delfine mit ihrem charakteristischen Pfeiftönen uns in Individualität und Einzigartigkeit der Stimme weit übertreffen."

Eigentlich setzt der chilenisch-amerikanische Autor Ariel Dorfman große Hoffnungen in den demokratischen Aufbruch in Chile und den Konvent, der dem Land eine neue Verfassung geben soll, um die alte noch von Augusto Pinochet eingeführte zu ersetzen. Aber jetzt dringt Dorfman darauf, jetzt nicht vom Kurs abzukommen: "Der Konvent ergeht sich in Streitgkeiten. Eine laute Gruppe radikaler Delegierte besteht auf einer Reihe von Maximalforderungen - sie will den Präsidenten, den Kongress und die Gerichte durch eine vage definierte Nationalversammlung ersetzen - als wäre das Chile das revolutionäre Russland von 1917. Wenn die Delegierten in den grundlegendsten Reformen keinen Konsens erreichen, werden sie den Gegnern der neuen Verfassung Munition für die Abstimmung im Herbst liefern. Der Konvent versagt allerdings auch darin, seine bisher beträchtlichen Fortschritte zu vermitteln, immerhin hat er bereits mehr als tausend Änderungsvorschläge für die Magna Charta abgearbeitet. Das wird verschlimmert durch eine konzertierte Kampagne der Feindseligkeit von Rechtsaußen. Man stelle sich nur vor, die Väter der amerikanischen Verfassung hätten 1787 in Philadelphia ihre Gedanken im Angesicht permanenter und ätzender Desinformation auf Facebook und Twitter entwickeln müssen."

Magazinrundschau vom 14.12.2021 - New York Review of Books

Die USA können anderen Ländern keine Ratschläge mehr in Sachen Demokratie erteilen, erklärt der Jurist Lawrence Lessig in etwas überschießender Rhetorik, sie seien ja selbst schon ein failed state. All die Verfahrenstricks, mit denen sich die Republikaner die politische Oberhoheit sichern - parteiliche Wahlkreiszuschnitte, Wählerdiskriminierung, das Filibustern, das Electoral College, die korrumpierenden Wahlkampfspenden - machten Amerika zu einer Minderheitendemokratie: "Wie sonst nur segregationistische oder sektiererische Regimes, etwa das Südafrika der Apartheid, der Irak unter der sunnitischen Herrschaft der Baath-Partei oder Syrien unter den Alawiten ist die amerikanische Republik, die ursprünglich als repräsentative Mehrheitsdemokratie entworfen wurde, zu einem Minderheitenstaat geworden." Lessigs Rettungsaufrufe klingen dann auch eher verzweifel als konstruktiv: "Wir haben es heute mit einer republikanischen Partei zu tun, die im Grunde der Mehrheitsdemokratie den Krieg erklärt hat. Die Führung dieser Partei widersetzt sich auf allen Ebenen dem fundamentalen Prinzip der Mehrheitsherrschaft. Anstatt ihre Politik so auszurichten, dass sie wirklich eine Mehrheit der Amerikaner anspricht, haben sich die Republikaner auf eine Minderheitenstrategie verlegt, um faktisch eine parteiliche, quasi-ethnische Gruppe gegen mögliche demokratische Herausforderungen zu schützen. Sie manipulieren das System, damit die Mehrheit nicht herrschen kann. Angesichts dieser Bedrohung braucht Amerika, was Franklin Delano Roosevelt den Worten Arnold Hyatts zufolge war: Einen Staatsmann, der eine 'zögernde Nation dazu brachte, in den Krieg zu ziehen, um die Demokratie zu retten'. Besser noch wäre ein Winston Churchill, der eine abgelenkte Nation davon überzeugte, dass unsere Demokratie fundamental bedroht ist und dass wir einen Krieg führen müssen, um sie zu retten. Aber wir haben keinen Churchill, der uns durch diesen Kampf führen kann. Wir haben einen Chamberlain. Anstatt die Bedrohung beim Namen zu nennen und Amerika gegen sie in Stellung zu bringen, bemüht sich Präsident Joe Biden, die Differenzen in versöhnlichem Ton zu behandeln."