Efeu - Die Kulturrundschau

Gedankenreiche Paradoxie

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17.10.2023. Tonio Schachinger erhält für "Echtzeitalter" den Deutschen Buchpreis 2023. ZeitOnline ist begeistert, die übrigen Kritiker zürnen zumindest nicht. Ein gutes Buch zur falschen Zeit, findet die Welt. Im Freitag spricht der slowenische Schriftsteller Drago Jančar darüber, warum in seinen Romanen zwar der Zweite Weltkrieg eine Rolle spielt, aber nicht der Zerfall Jugoslawiens. Bei dem am Samstag ermordet aufgefundenen iranischen Regisseur Dariusch Mehrdschui sind zuletzt offenbar Morddrohungen eingegangen, schreiben taz und FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.10.2023 finden Sie hier

Literatur

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Der Deutsche Buchpreis geht 2023 an den österreichischen Schriftsteller Tonio Schachinger für seinen Internatsroman "Echtzeitalter" über einen Gamer, der sich besser im Spiel "Age of Empires" als in der Wirklichkeit zurechtfindet. "Nicht jedes gute Buch ist für jeden Moment das richtige", kommentiert Mara Delius in der Welt mit Blick auf die Ereignisse der letzten Tage. "Auch wenn 'Echtzeitalter' ein herausragender Roman ist, wäre heute nicht Necati Öziris 'Vatermal' eine interessante, Anne Rabes 'Die Möglichkeit von Glück' die beste Wahl gewesen - und zwar nicht etwa aus außerliterarischen, sondern aus literarischen Gründen? ...  Als ahnte er selbst die latente Diskrepanz zwischen Welt und Literatur, die die Auszeichnung am Montagabend auch begleitete, endete Tonio Schachinger seine sympathisch halbspontane Dankesrede mit den Worten: 'Wir wissen alle, dass das hier nicht das wichtigste ist'." Schachingers Dankesrede könnte man vielleicht mit dem Schlagwort "Jewish Lives Matter" zusammenfassen.

Auch Marie Schmidt und Felix Stephan danken in der SZ dem Autor für die vorsichtigen, taumelnden Worte: Er "begab sich ernst, nüchtern und leise in die Widersprüche dieses Jahres." Zwar "hörte man das alles gerne, aber im Gedächtnis bleiben wird es nicht", meint derweil Andreas Platthaus auf FAZ.net, der mit der Juryentscheidung "einigermaßen" leben kann. Immerhin hat der Roman "das Zeug dazu, jung und alt zu begeistern". Schachinger ist eine "kleine Dialektik der Danksagung" gelungen, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Den Roman selbst findet er zwar "sympathisch", aber auch etwas lau: Der "ist fraglos ein gut lesbarer, aber kein erzählerisch herausragender. 'Echtzeitalter' wirkt bei aller subtilen Ironie und mancher Lustigkeit passagenweise mitunter ein wenig schlicht, bleibt harmlos und dem Genre des Internatsromans doch arg verhaftet." Ganz anders klingt das bei Adam Soboczynski auf ZeitOnline: Die Jury "hat ein Werk gewürdigt, das sich letztlich wenig um den Zeitgeist schert, dafür erzählerisch reif, unterhaltsam und ausnehmend humorvoll ist. Schachinger hat jenen Witz im alten Doppelsinn, der die scharfe Beobachtung, den Esprit, die gedankenreiche Paradoxie einschließt." Dlf Kultur hat mit Schachinger nach der Verleihung gesprochen. Hier Schachingers Auftritt:



Heute Abend wird die Frankfurter Buchmesse eröffnet: "Es wird, so viel ist klar, keine leichte, keine vollkommen fröhliche Messe", schreiben Dirk Knipphals und Tania Martini in der taz unter dem Eindruck der Eskalation im Nahen Osten und des anhaltenden Kriegs in der Ukraine. Doris Akrap (taz) und Paul Ingendaay (FAZ) erzählen von ihren Reisen nach Slowenien, dem diesjährigen Gastland der Buchmesse. Lothar Müller empfiehlt in der SZ zahlreiche slowenische Bücher.

Für den Freitag spricht Norbert Mappes-Niediek aus diesem Anlass auch mit Drago Jančar, der zu den bedeutendsten slowenischen Schriftstellern zählt. Seine Romane kreisen meist um den Zweiten Weltkrieg, der Zerfall Jugoslawiens spielt hingegen nur in seinen Essays eine Rolle. Für ihn selber war es kein großer Einschnitt, "so wichtig das auch war. Ich habe meine Kontakte behalten. Schließlich habe ich den größten Teil meines Lebens in diesem Land zugebracht, schlecht und recht - mehr schlecht als recht, vieles, was damals geschah, könnte heute nicht mehr passieren. Aber nicht Jugoslawien war schuld, es war das System. Ich habe diese nationale Mischung gemocht - angefangen bei den Albanern im Süden, über das biblische Mazedonien, die Serben mit ihrem schwarzen politischen Humor, der manchmal auch gefährlich sein kann, die kroatische Pathetik ... Ich habe die Heuchelei gehasst, die rote Bourgeoisie im angeblichen Arbeiterstaat, die Verhaftungen. Aber ich bin unbedingt dafür, dass wir kulturell auf allen Ebenen zusammenarbeiten und dass alle Ex-Jugoslawen in die Europäische Union kommen."

Margaret Laurence
Margaret Laurence ist die große Unbekannte der kanadischen Literatur - jedenfalls bei uns. Dabei kann sie sich neben Alice Munro und Margaret Atwood durchaus behaupten. Angela Schader stellt in ihrem Vorwort Laurences fünfbändigen Manawaka-Zyklus vor, der ihre facettenreiche Auseinandersetzung mit einem sich wandelnden Frauenbild nachzeichnet: "Was heißt: sich freischreiben? Geht es darum, vom Autobiografischen loszukommen, oder im Gegenteil ums Durchleuchten und Ergründen dessen, was im eigenen, realen Leben unlösbar scheint? Liegen die Parameter ganz woanders, nämlich im Vordringen zu einem innovativen Umgang mit Sprache und Form? Unter all diesen Aspekten ließe sich das Schaffen der Kanadierin Margaret Laurence betrachten. Und wäre die erste der genannten Optionen die richtige Antwort, dann hätte die 1926 geborene Schriftstellerin ihre Karriere quasi auf dem Gipfelpunkt begonnen.

Weitere Artikel: Zahlreiche Schriftsteller protestieren dagegen, dass die Auszeichnung für Adania Shibli für ihren Roman "Eine Nebensache" nun auf einen Termin nach der Buchmesse verschoben wird, meldet Niklas Maak in der FAZ. Auch Thomas Hummitzsch kann diesem Protest im Freitag nur voll und ganz beipflichten: Bei dem Roman "von einer einseitigen, gar dämonisierenden Darstellung Israels oder der Israelis zu sprechen, entbehrt jeder Tatsache". Heinz Andrea (Standard) und Paul Jandl (NZZ) erinnern an Ingeborg Bachmann, die heute vor 50 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Margaret Laurence' "Das Glutnest" (Perlentaucher), Terézia Moras "Muna oder Die Hälfte des Lebens" (Welt), Thomas Meyers Biografie über Hannah Arendt (Zeit), Peter Sloterdijks neue Tagebücher (SZ, aber online nachgereicht vom Tages-Anzeiger), Georgi Demidows "Fone Kwas oder Der Idiot" (FAZ), eine Neuausgabe von Jan Petersens 1933 verfasstem Roman "Unsere Straße" (Tsp) und Björn Kuhligks Langgedicht "An einem Morgen im März" (FAZ).

Außerdem bringt die taz heute ihre Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse. Darin besprochen werden unter anderem Dana Vowinckels Debütroman "Gewässer im Ziplock" (taz), Thomas von Steinaeckers "Die Privilegierten" (taz), Kathrin Rögglas "Laufendes Verfahren" (taz) und Navid Kermanis "Das Alphabet bis S" (taz). Unsere Resümees zu den Literaturbeiligen zur Frankfurter Buchmesse finden Sie hier.
Archiv: Literatur

Film

Omid Rezaee schreibt in der taz zum Tod des iranischen Filmemachers Dariusch Mehrdschui, der am vergangenen Samstag mit seiner Ehefrau Wahideh Mohammadifar ermordet aufgefunden worden war. Mehrdschuis Leben stand unter dem Eindruck mehrfacher Exilbewegungen. Als er von seinem Studium aus den USA zurückkehrte, "schuf er den Film 'Die Kuh', basierend auf einer Kurzgeschichte des Autors Gholam Hossein Saedi. Obwohl die Zensurbehörde des Schah-Regimes dem Film zunächst die Genehmigung verweigerte, wurde 'Die Kuh' zu einem bahnbrechenden Erfolg für Mehrdschui und etablierte ihn als Pionier, der (...) die Neue Welle des iranischen Kinos prägte. ...  Im März 2022, als sein letzter Film, 'La Minor', keine Genehmigung erhielt, richtete Mehrdschui in einer Videobotschaft an den Kulturminister die Worte: 'Kommt und tötet mich.' ... Einen Tag vor dem Mord veröffentlichte die Tageszeitung Etemad ein Interview mit Mohammadifar, in dem sie von Bedrohungen und einem Einbruch in ihr Haus sprach."

Die Ermittlungen in dem Mord laufen, entnimmt Maria Wiesner von der FAZ dem Branchenblatt Variety. "Politische Motive und Umstände sind nicht unwahrscheinlich, politisch-kulturelle Wirkungen des Verbrechens auf die von Unterdrückung und Gewalt geprägte iranische Gesellschaft sind sogar unvermeidlich."

Weitere Artikel: Der israelische Filmemacher Yahav Winner wurde bei den Angriffen der Hamas auf Israel getötet, meldet der Tagesspiegel. Fabian Tietke resümiert in der taz das Festival DOK.Leipzig. Bert Rebhandl empfiehlt im Standard die dem Regisseur Raúl Ruiz gewidmete Viennale-Retrospektive: "Man sollte ihr bis in die hintersten Winkel des Labyrinthischen folgen." Jürgen Kaube gratuliert in der FAZ dem Synchronsprecher Christian Brückner (die deutsche Stimme von Robert de Niro) zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Ausstellung zum Deutschen Film in der Völklinger Hütte (Filmdienst, mehr dazu hier), Margarete von Trottas Film "Reise in die Wüste" über Ingeborg Bachmann (Tsp), eine Doku über David Beckham (ZeitOnline), Denis Côtés auf der Viennale gezeigter Film "Mademoiselle Kenopsia" (Standard) und die Netflix-Serie "Infamia" über eine Roma-Familie in Polen (taz).
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Bühne

Es hat geradezu etwas "Gespenstisches", wie die deutsche Kulturwelt nach den Angriffen der Hamas auf Israel einfach weitermacht, konstatiert Peter Laudenbach in der SZ. Zwar gibt es Solidaritätsbekundungen, doch in weiten Teilen zeigen die Theater-und Opernhäuser eine "erstaunliche Unfähigkeit zur Empathie", so der Kritiker. Die Reaktion des Gorki-Theaters, die Aufführung von Yael Ronens "The Situation" (unser Resümee) abzusagen, sieht Laudenbach da noch als eine der sinnvollsten Maßnahmen an: "Die Aufführung nicht zu zeigen, bedeutet in dieser Situation nicht einfach einen Abend ohne Theater. Die Nicht-Vorstellung markiert eine Leerstelle und ein notwendiges Innehalten."

Weitere Artikel: Torben Ibs stellt in der taz den Regisseur Nuran David Calis vor, der für das Schauspiel Leipzig Brechts "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" inszeniert hat. Bei der Nachtkritik ist die Hamburger Poetikvorlesung der Schauspielerin Julia Riedel zu lesen und zu sehen. Alle spielen Wagners "Der Ring des Nibelungen", stellt Welt-Kritiker Manuel Brug fest und gibt einen Überblick. Dabei fällt auf: auch kleine Theater trauen sich an Inszenierungen heran und in der Schweiz liegt gerade ein "wagnerisches 'Ring'-Epizentrum".

Besprochen werden Christoph Marthalers Inszenierung von "Im Namen der Brise" mit Texten von Emily Dickinson am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (SZ), Sebastian Baumgartens Inszenierung von Henryk Ibsens "Peer Gynt" am Münchner Residenztheater (FAZ), Lev Puglieses Inszenierung von Alberto Franchettis musikalische Komödie "Don Buonaparte" am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz (nmz) und Michael Dissmeiers Inszenierung von Albert Lortzings "Der Wildschütz" am Theater Altenburg Gera (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Besprochen werden das neue Album von The Streets (SZ), ein Auftritt von Wolfgang Muthspiel in Wien (Standard), Simon Reynolds' Buch "Futuromania" über die Zukunft im Pop der Vergangenheit (NZZ) und das neue Album von Joy Denalane ("außergewöhnlich grandios", schwärmt Andrian Kreye in der SZ).

Archiv: Musik

Kunst

Philip Guston, If this be not I. © The estate of Philip Guston, courtesy Hauser and Wirth.

Im Tagesspiegel-Interview mit Susanne Kippenberger spricht Musa Mayer über ihren Vater, den Maler Philip Guston, dem die Tate Modern zur Zeit eine Retrospektive widmet. Diese Wanderausstellung sollte eigentlich schon 2020 beginnen, wurde jedoch zunächst wegen der Pandemie verschoben, dann aus Sorge um die politische Situation zunächst auf das Jahr 2024. Nach dem George-Floyd-Attentat fürchtete man, das Gustons provokante Kunst, die Rassismus anprangert, in dem sie unter anderem den Ku-Klux-Klan comichaft zeigt, Anstoß erregen könnte. Mayer hielt das für das falsche Signal: "Meine größte Angst war, dass er fortan nur noch bekannt wäre als der Maler der Ku Klux Klan-Männer. Ich wurde damals gefragt, was mein Vater wohl getan hätte. Ich zweifle keinen Moment, dass er sich aus der Ausstellung herausgezogen hätte. Diese Art von Aufmerksamkeit hätte er nicht gewollt. Aber meine Rolle ist eine andere. Das Kontroverse in seiner Arbeit ist etwas, was man nicht fürchten sollte, sondern feiern. Ich war überzeugt, wenn die Bilder richtig gezeigt werden, dass wir diese ganze Debatte hinter uns lassen, das ganze Werk erfassen können." Umso besser, dass die Ausstellung dann doch früher gezeigt wurde, denn "die gesellschaftspolitische Thematik ist heute so relevant wie zur Zeit der Entstehung. Viele Probleme, die meinen Vater beschäftigt haben, sind immer noch nicht gelöst.""

Weiteres: In der FAZ gratuliert Patrick Bahners dem Comic-Künstler Johan de Moor zum Siebzigsten.

Besprochen wird die Ausstellung "Dix und die Gegenwart" in den Deichtorhallen in Hamburg (SZ).
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