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Nicht die Karikaturen sind gefährlicher Unsinn

Von Rüdiger Wischenbart
20.09.2012. Weder ein amerikanischer Präsident noch die Kanzlerin sollen sich einmischen, wenn irgendjemand irgendwo einen Film macht oder eine Karikatur zeichnet. Abwiegelung ist keine Technik der Deeskalation und die Kunstfreiheit wichtiger als Tagespolitik.
Ich plädiere für die Aufführung des Films "Innocence of Muslims" in Europa, ersuche allerdings alle - alle - Leute, die anderer Meinung sind, erst einmal diesen Artikel zu Ende zu lesen, bevor sie zu meiner Einstellung Stellung beziehen. (Abbrechen aus anderen Gründen ist natürlich ungern gesehen, aber erlaubt!)

Mein Argument ist simpel: In einer hochgradig vernetzten, und entsprechend auch fragmentierten Welt mit Myriaden von Partikularismen ist universelle Verantwortlichkeit eines jeden für jedes schlichter, letztlich auch gefährlicher Unsinn. Das allerdings hat ebenso komplizierte wie handfeste Konsequenzen, kulturell, politisch, letztlich auch religiös.

Ich besuche immer wieder Buchmessen in arabischen Ländern. Neben vielem anderen gibt es auch jeweils eine Menge Bücher zu den wildesten Verschwörungstheorien von Zionisten und Amerikanern gegen Muslime. Meist fehlen auch nicht die Klassiker der antisemitischen Literatur wie die gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion". Ob dies zulässig ist, ist Sache der lokalen Veranstalter, und ich erinnere mich nicht, dass sich der Börsenverein des deutschen Buchhandels oder gar ein europäischer Regierungspolitiker je dafür zuständig oder auch nur übermäßig interessiert gezeigt hätte. Und das ist natürlich gut so.

Als umgekehrt solche Literatur auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert werden sollte, vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, also kurz vor und nach 9/11, war ich dafür teilzuständig als Kommunikationschef der Buchmesse. Unsere einmütige Haltung war, dass wir selbstverständlich Ausstellern nicht erlauben würden, derlei Werke auszustellen, aber dass wir Aussteller nicht einfach auf der Grundlage von Vermutungen über ihre Treue (zur deutschen) Verfassung ausschließen würden. Umgekehrt konnte ich ein sexuell recht drastisches Anzeigenmotiv im Hauptkatalog einem deutschen Aussteller- mit starker Vernetzung in der US-Freiheit-der-Kunst und Freedom-of-Speech Szene - ausreden mit dem Argument, dass ein iranischer Verleger, der diesen Katalog nach Hause bringt, in erhebliche Probleme kommen könnte.

Die Linien lassen sich also in der Praxis erstaunlich klar ziehen.

Ich kenne und liebe das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo seit mehr als drei Jahrzehnten, und wollte nicht verzichten auf die Unmengen an Zeichnungen, in denen neben Sexualität gerade auch Religion, mit immer wieder herausfordernden Darstellungen der Vertreterinnen und Vertreter aller Weltreligionen, gut erkennbar und drastisch zum Grundbestand der Satire gehören und aufregen.

Bitte warum soll Charlie Hebdo jetzt davon abrücken, nur weil - nach derzeitigem Nachrichtenstand - ein paar christliche Fundamentalisten in Kalifornien einen Film gedreht haben, der zu ausufernden Reaktionen in einigen islamischen Ländern Anlass gab? Vor allem: Weshalb muss der Sprecher des amerikanischen Präsidenten Obama diese Zeichnungen von Charlie Hebdo politisch einordnen und bewerten? Weshalb will die deutsche Bundeskanzlerin Position beziehen, ob man den kalifornischen Film, der zwei Monate lang unbemerkt auf Youtube geschlummert hatte, in Deutschland in einem Kino vorführen dürfen soll?

Wie bitte? Hat globale Politik im September 2012 keine anderen Themen, um Profil zu entwickeln? Offenbar nicht, weil die Eskalation - nach der Hysterisierung der arabischen Straße nun in der Kommentierung durch die Global Leaders - ihre bizarren Kaskaden produziert.

Das vermeintliche Dilemma könnte allerdings auch ganz andere Optionen eröffnen.

Pakistans Innenminister Rehman Malik hat diesen kommenden Freitag zum Feiertag erklärt, und "alle Menschen" aufgerufen "friedlich zu protestieren" gegen die Verunglimpfung des Propheten (mehr hier).

Deutlicher kann eine Regierung nicht eine Haftungsübernahme für allfällige Nebenkosten aus einer möglichen Randale übernehmen. Und Pakistan ist selbstverständlich auf anderen, pragmatischen und diplomatischen Ebenen bemüht, neben allen möglichen militärisch-strategischen Geldern auch irgendwie ins internationale Netzwerk aus Verträgen und Verpflichtungen eingebunden zu bleiben, trotz Osama bin Laden und trotz eines Regierungschefs mit nicht ganz eindeutig weißer Weste in Sachen Korruption.

So bleibt es unverständlich, weshalb sich die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Außenminister nicht prononcierter äußern über die Verantwortung der Regierungen in Kairo oder Islamabad, die Sicherheit deutscher und europäischer Bürger und deren diplomatischer Vertretungen zu gewährleisten, und allenfalls die Abrechnungen für die Wiederherstellung von Botschaftsgebäuden zustellt.

In allen islamischen Ländern, in Ägypten sowieso, aber auch in Pakistan, spielen Internet und mobile digitale Kommunikation (per SMS, Facebook etc.) eine zentrale Rolle für das Entstehen von Zivilgesellschaft und individueller Autonomie. Dies nützt allerdings auch den Fundamentalisten, die ihre Predigten hochladen. Und selbst terroristischen Organisationen können deren Kommunikationsstrategie nicht umsetzen, die ohne das Internet weder die Anti-Muslim-Film Demonstrationen, noch ihre Infrastruktur organisieren erlaubte. Technologie, das ist eine alte Regel, ist in sich nicht gut oder böse.

Mir sind hier die Potenziale für die Zivilgesellschaft in den arabischen (beziehungsweise weiter gefasst: in den muslimischen) Ländern wichtiger. Ich bin gerade in Paris, um über Bücher wie ein professionelles, selbständig wie selbstbewusstes Verlagssystem in arabischen Ländern zu sprechen. Da ist vieles im Aufbruch, aber auch im Argen, und der arabische Frühling hat erst einmal - wie vor zwanzig Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs! - die Systemschwächen deutlich gemacht! Die Verbesserung braucht Zeit! Und die neuen Zeiten nutzen auch den Fundamentalisten - siehe heute in Ägypten, und gestern oder auch heute noch in Ungarn, Polen, der Slowakei.

Ich bin deshalb dafür, dass sich europäische Spitzenpolitiker nicht pointiert mit der Aufführungspraxis unsinniger Filme beschäftigen, sondern Filme abhängig vom Interesse des Publikums - also auch: der Bürger - gezeigt, diskutiert und allenfalls dann wieder aus dem Blickfeld verschwinden dürfen. Ich bin ganz strikt für die Trennung von a) Staat, b) Religion und c) Kultur und Kunst, und d) territorialer Zuständigkeiten.

Wenn internationale Politik irgendein steuerndes Gefüge aus Handlungsnormen hat, dann sollte klar sein, dass die privat organisierte Produktion eines Films in Kalifornien, die deutsche Integrationspolitik und der demokratische Respekt gegenüber Muslimen in Deutschland sowie die Straßen in Jemen unterschiedliche Territorien, mit unterschiedlicher politischer Zuständigkeit sind.

Gerade wenn überall in diesen Territorien Youtube und das Internet verfügbar sind, müssen Politiker endlich gewahr werden, dass das nicht alles eine homogen aufgeschlagene Soße ist, und sie aufgrund von Ausschreitungen weit außerhalb ihres Territoriums besser nicht Freiheitsrechte in ihrem genuinen Territorium einschränken sollten.

Ich bin kein Jurist, aber ich vermute, dass paradoxerweise gerade die Globalisierung - und damit das universelle Internet - hier Disziplin einfordern. Politiker, bleib bei Deinem - limitierten, lokalen - Leisten, und verlauf dich nicht als PhilosophIn der globalen Zufälligkeiten.

Ganz praktisch setzt hier auch der Hebel für eine wirksame De-Eskalationsstrategie an. Nichts ist politisch, aber auch medial absurder als sich derart der Vernetzung auszuliefern.

Da wird irgendwo in der Wüste ein Video produziert und irgendwo hochgeladen. Nix passiert. Dann werden Links rumgeschickt. Kapitel 01 virales Marketing. Immer noch nix. Dann gibt es einen Jahrestag, 9/11. Dann gibt es eine hit&run-Aktion, und ein unerwartet hochrangiges Ziel wird getroffen (in Bengasi, Libyen, wohl aufgrund absurder Fehler, wie sie eben passieren, Murphy's law, dass alles irgendwann passiert, was passieren kann). Und so weiter. Aber das ist doch Mythisierung. Nicht Internet. Nicht Politik. Und mit religiösen oder kulturellen Dingen hat dies nur um die Ecke, mit dem Ellenbogen übers Auge, zu tun.

Deshalb bin ich gegen die Beschneidung wichtiger Grundrechte, wie etwa einzuschränken, welche Filme gezeigt werden dürfen, und welche nicht. Und ich denke, es gibt gute politische und zivilgesellschaftliche Mittel, um unerwünschte Nebenwirkungen nicht wesentlich ausbrechen zu lassen.

Rüdiger Wischenbart