Vom Nachttisch geräumt

Laster und Leistung

Von Arno Widmann
17.10.2016. Wer unter siebzig weiß heute noch, wie groß selbst die Ruine Rudolf Augstein noch war? Irma Nelles ist in ihren Erinnerungen zu nah dran, um es zu zeigen.
Keine Ahnung, ob ich das Buch empfehlen soll. Es zeigt Rudolf Augstein, den Gründer des Spiegels, in den letzten Jahren seines Lebens, aus der Sicht einer nahen Begleiterin, seiner Assistentin und Büroleiterin, die Wert darauf legt, seinen sexuellen Annäherungsversuchen nicht nachgegeben zu haben. Sie schildert, wie er vor Bittstellern flieht und wie er anderen, die nicht damit rechneten, schnell mal einen Scheck über zehntausend Mark in die Hand drückt. Sie zeigt Augsteins Launen, seine Fluchten, seine Prä- und seine Impotenz, seine Unzuverlässigkeit und seine Verlässlichkeit und die Unmöglichkeit vorauszusagen, wann er sich für welche dieser Möglichkeiten entscheiden würde.

Mit anderen Worten, sie zeigt den Augstein, der so ist wie wir alle. Er aber hatte Geld, viel Geld und das macht nicht glücklich, aber es ändert - fast - alles. Es gibt Augenblicke, da macht Geld einen charmanten Menschen noch mal so charmant, und andere, da nimmt es ihm den Zauber. Irma Nelles erzählt Anekdoten. Das ist der Stoff, aus dem Heilige Texte entstehen, aber nur, wenn es eine Nachwelt gibt, die aus einfachen Menschen Heilige macht. Fehlt diese Nachwelt, dann gibt es nur die heute Siebzigjährigen, die den Klatsch über die Halbgötter ihrer Jugend, die mal schnell im Privatjet eine Schreibkraft von Hamburg an die Cote d'Azur transportieren, gerne lesen. Aber werden auch die, für die Augstein und der Spiegel niemals ein Bollwerk der Demokratie war - die Ungnade der späten Geburt -, sich für das Buch interessieren? Wo kein Mythos ist, kann man auf Entmythologisierung verzichten. Wen wundert es, dass es bei Menschen menschelt? Wen interessiert, wie viel Alkohol ein Unbekannter konsumiert?

Die Frage, die sich einem seit Pennälertagen stellt, seit man zu zweifeln begann an dem von den Lehrern behaupteten klaren Zusammenhang von Tugend und Leistung. Die Frage also nach dem Verhältnis von Laster und Leistung, stellt sich die Autorin nicht. Sie will einfach nur aufschreiben, woran sie sich erinnert. Sie erinnert sich an eine vor ihren Augen immer baufälliger werdende Ruine. Der Leser weiß nicht, wie groß der Bau einmal war, er weiß noch nicht einmal, wie groß selbst die Ruine noch war im Vergleich zu den anderen Bauten in der journalistischen Landschaft der Bundesrepublik oder Europas. Diese Schilderung ist zu nahe am Objekt. Man kann kaum etwas erkennen.

Aber dieses kaum hat natürlich auch seinen Reiz. Im November 1995 ist Krupp-Manager Berthold Beitz zu einem Spiegel-Gespräch mit dem Wirtschaftsressortchef des Blattes bereit. Unter der Voraussetzung, dass Augstein dabei ist. Das Gespräch findet in Augsteins Haus auf Sylt statt. Am Ende will niemand aufstehen. Im Kühlschrank ist nur noch Augsteins Lieblingsleberwurstsorte. Die Haushälterin ist weg. Der Nachwelt überliefert die Autorin diesen Dialog: "Ich könne ein paar Schwarzbrote mit Leberwurst herrichten, schlug ich daher vor. Sehr schön, rief Berthold Beitz erfreut, die schmecken doch besser als jedes Kaviarbuffet." Das ist aber nur der Übergang zu einer Passage, in der Beitz schildert, wie es ihm möglich gewesen war, jüdische Zwangsarbeiter zu retten. Man kann das inzwischen deutlich valider nachlesen. Aber dieses Buch über Augstein ist auch ein Buch über die Autorin, die durch ihren Beruf immer wieder zu Korrekturen an ihrem Weltbild gezwungen wird. Glücklich, wem das widerfährt! Ein Personenregister hilft dem Anekdotenjäger. Den Rekord hält dort Gisela Stelly Augstein.

Irma Nelles: Der Herausgeber - Erinnerungen an Rudolf Augstein, Aufbau Verlag, Berlin 2016, 320 Seiten, 22,95 Euro.