Vom Nachttisch geräumt

Mundartstücke waren Hits

Von Arno Widmann
14.05.2019. Welche Wirklichkeit? Der Theaterlektor Karlheinz Braun blickt zurück auf 60 Jahre Theatergeschichte.
Karlheinz Braun, geboren 1932 in Frankfurt am Main, leitete von 1959 an den Theaterverlag Suhrkamp. 1969 war er Mitbegründer des Verlags der Autoren. Zusammen mit dem Kulturredakteur der Frankfurter Rundschau Peter Iden gründete er 1966 das Frankfurter Theaterfestival Experimenta. 1976-1979 war er Geschäftsführender Direktor von Schauspiel Frankfurt. Im Laufe seines Lebens arbeitete er mit nahezu allen deutschsprachigen Theaterautoren zusammen. Es gibt wohl kein Stück, das er nicht gesehen hat und nur wenige Inszenierungen, die er nicht kennt.

Ich bin 1946 in Frankfurt am Main geboren und war die ersten 25 Jahre meines Lebens ein großer Theaterenthusiast. Die ersten dreihundert Seiten der Erinnerungen von Karlheinz Braun sind ein begeisternder Trip in eine längst vergessen geglaubte Jugend. Braun erzählt von den großen Ereignissen, von Max Frischs "Andorra", von dem ganz und gar unerwarteten Welterfolg des "Marat" von Peter Weiss, von Handkes "Publikumsbeschimpfung" usw. usw. Martin Walser, Marieluise Fleisser,  Fassbinder, Heiner Müller, Botho Strauss, F.K. Waechter usw. usw. Das wäre nichts als ein schreckliches Namedropping. Aber es sind 600 Seiten. Die Schilderungen persönlicher Begegnungen wird immer wieder unterbrochen von Vorträgen und Aufsätzen, die Braun damals schrieb. Auf die Weise wird immer auch wieder zusammengefasst, was jeweils geschah, Schneisen geschlagen durch den Dschungel der Erinnerungen.

Immer wieder auch das ganz große Thema und seine Variationen: Wie viel Wirklichkeit verträgt das Theater? Und welche Wirklichkeit? Und wie weit reicht die action des action theatre? Ganze Abschnitte rufen einem in Erinnerung, dass Edgar Reitz' 1981 begonnenes Mammutwerk "Heimat" nicht am Anfang einer linken Auseinandersetzung mit "Heimat" stand, sondern dass ihm viele Theaterstücke und Filme schon vorgearbeitet hatten. Mundartstücke waren Hits auf vielen Bühnen der Bundesrepublik. Womit wir es heute zu tun haben, ist nichts als der Versuch, der Linken "Heimat" wieder wegzunehmen.


Deutscher Theaterklassiker aus den 60ern: die Uraufführung von Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" 1966 in der Inszenierung von Claus Peymann im Frankfurter Theater am Turm

Brauns Rückblick ist sein Rückblick. Er erzählt, was er erlebt. Er erzählt es so, wie er heute erzählen möchte. Es gibt wahrscheinlich kein einziges Erlebnis, über das die, die es mit ihm erlebten, so berichten würden, wie er es tat. Braun erliegt auch der Lektorenillusion, er erst habe aus den Texten, die die Autoren ihm brachten, etwas wirklich Brauchbares gemacht. Ich bezweifle auch, dass Alice Schwarzer Brauns Behauptung bestätigt, Emma als Name ihrer Zeitschrift sei seine Idee gewesen. Womöglich gibt es keine Seite, gegen die sich nicht Gegenstimmen auftreiben ließen. Aber diese Vermutung ändert nichts daran, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte, bis ich das Ende erreicht hatte. Es hat wieder meine Theaterbegeisterung entfacht.

Ich habe jetzt Brauns Hinweis folgend Heinar Kipphardts (1922-1982) Stück "Die Nacht, in der der Chef geschlachtet wurde" gelesen. Es wurde am 13. Mai 1967 uraufgeführt. Der Rowohlt-Theaterverlag weist auf das Stück so hin: "Eine Komödie, die zeigt, was als latentes Gewaltpotential im Kleinbürger steckt. Der Bankangestellte Oskar Buksch, soeben bei einer Beförderung übergangen, hat eine unruhige Nacht - Realszenen im Ehebett wechseln mit bruchstückhaften Traumbildern von Machtrausch und Herrenmenschentum, in denen Buksch als Gangsterboss und Diktator in exotischen Interieurs agiert und brutal Rache an den Menschen seines Alltagslebens nimmt. Kipphardt: "Wenn ich unsere Wirklichkeit beobachte, bin ich beunruhigt, wie dünn die Firnis einer formalen Demokratie über Autoritätssehnsüchten liegt, wie schroff antidemokratisch sich ein gewisses Unbehagen am eigenen Dasein artikuliert."

Das klingt beängstigend brauchbar für 2019. Wer den Titel liest, denkt freilich daran, dass im Mai 1967 die Kommune 1 auf dem Campus der Freien Universität in Berlin Flugblätter verteilte, die zur Kaufhausbrandstiftung aufforderten. Kluge Literaturwissenschaftler erklärten das damals für surrealistische Prosa. Weniger kluge Literaturstudenten nahmen es im April 1968 wörtlich. Brauns Buch bringt Theatergeschichte und ist damit, weil das Theater es einmal war, Zeitgeschichte.

Karlheinz Braun: Herzstücke. Leben mit Autoren, Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2019, 680 Seiten, 32 Euro