Vom Nachttisch geräumt

Was bedeutet das überhaupt: Unabhängigkeit

Von Arno Widmann
23.10.2017. Über Schottland nachdenken heißt, über Katalonien nachdenken. Ein kurzer Gedanke John Burnsides zur Unabhängigkeit.
An etwas entlegener Stelle stoße ich auf folgende Ausführungen des 1955 geborenen schottischen Schriftstellers John Burnside. Sie seien, einschließlich des von ihm zitierten mexikanischen Lyrikers José Emilio Pacheco (1939 -2014), ausführlich zitiert:

"'Ich liebe mein Vaterland nicht. Sein abstrakter Glanz ist ungreifbar./ Aber ich würde (obwohl es schlecht klingt) mein Leben geben/ für zehn seiner Orte, für bestimmte Leute, /Häfen, Pinienwälder, Festungen, / für eine zerstörte, raue, monströse Stadt,/ für einige Gestalten seiner Geschichte, / für Berge/ (und drei oder vier seiner Flüsse).' Dieses Gedicht kam mir immer wieder in den Sinn, während Schottland sich auf ein von der Scottish National Party eingebrachtes separatistisches Referendum vorbereitete, und als ich, der ich seit Jahren dazu geneigt war, meine Stimme für die Unabhängigkeit abzugeben, plötzlich zu mir kam und mich fragte: Was bedeutet das überhaupt? Unabhängigkeit wovon? Zu wessen Gunsten? Das Referendum war von einer nationalistischen Regierung ausgelöst worden, die die Pinienwälder, Berge und Flüsse Schottlands (auch seine Bevölkerung) an einen amerikanischen Milliardär verraten hatte, der auf einem 'Gebiet von besonderem wirtschaftlichen Interesse' einen Golfplatz bauen wollte. ((Der betreffende Gentleman war natürlich Donald Trump.)) Es war ebenfalls klar, dass diese angeblich so unabhängige Regierung weiterhin eine Business-as-usual-Politik beabsichtigte und zwar auf jedem Handlungsfeld von der Energiepolitik bis zu Fragen des Grundbesitzes und der Landnutzung. (Was den Bodenbesitz in diesem zweitfeudalsten aller europäischen Länder betrifft, hatte man sich zwar für einige symbolische Veränderungen erklärt, doch wurden die unheilbringenden Entwicklungen im Agrarbusiness-Sektor oder andere Umweltmissstände nirgendwo erwähnt.) Wie sollte man also 'für die Unabhängigkeit stimmen', wenn Unabhängigkeit nicht zur Wahl stand? Ich wollte für die Pinien und Flüsse stimmen, aber das hätte ein ganz anderes Regierungssystem erfordert - das hatte ich von verschiedenen Dichtern gelernt. Genau das ist es auch, was uns Pacheco in seinem Gedicht sagt…"

Vielleicht ist man in Barcelona dabei, sich Burnsides Fragen zu stellen.

John Burnside: 'Wo die Exekutive ihre Finger einzieht'? - Wie die Poesie im Zeitalter des Kultur-Totalitarismus überdauert, Berliner Rede zur Poesie, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, Deutsch und Englisch, Übersetzung: Iain Galbraith, 84 Seiten, 13,90 Euro.