Vom Nachttisch geräumt

Die dritte Hand

Von Arno Widmann
23.10.2017. Wer gerade an Polen verzweifelt, nehme einen Gedichtband von Wisława Szymborska zur Hand. Dort findet er besseres als Trost: Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen.
Ich lese in diesen Tagen nur Schlimmes aus und über Polen. Also greife ich zu einem Gegengift und lese Gedichte von Wisława Szymborska (1923-2012). Ich mag ihre Gedichte schon seit ein paar Jahrzehnten, seit Karl Dedecius sie übersetzte. Ich griff jetzt wieder nach den Bänden, um auf eine andere polnische Stimme zu stoßen, um von ihr mir wieder ein wenig Hoffnung einimpfen zu lassen. Aber worauf ich jetzt stoße, das ist - ich wusste es doch! - nicht Trost, sondern Durchblick, Klarsichtigkeit.

In dem 1973 in der Edition Suhrkamp erschienenen Band "Salz. Gedichte", herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius, finde ich das Gedicht "Stimmen". Auf 34 Zeilen, wenn ich richtig gezählt habe, 24 Namen vergessener, von den Römern abgeschlachteter Völker. Sie stehen der Großmacht im Wege. Szymborska schreibt das anders. Sie setzt so ein: "Kaum bewegst du den Fuß, schon sprießen aus dem Boden/ vor dir die Aboringier, Marcus Emilius." Google schweigt sich aus über sie. Das Gedicht endet mit den Versen: "Bedauernswert sind die kleinen Völker./ Ihr Leichtsinn verlangt hinter jedem neuen Fluss/ nach Aufsicht, Aulus Janius./ Ich fühle mich bedroht von jeglichem Horizont./ So sehe ich das Problem, mein Hostius Melius./ Darauf sage ich, Hostius Melius, dir, mein Appius Papius:/ vorwärts. Irgendwo schließlich ist das Ende der Welt."

Das Gedicht wurde von der Autorin auf das Jahr 1972 datiert. Da war die Geschichte von Asterix und dem heldenhaften Widerstand eines kleinen Völkchens gegen das mächtige Rom bereits ein Welterfolg. Wisława Szymborska erinnert an die anderen, die untergegangenen, die überflüssigen, die überflüssig gemachten Völker. Sie erinnert daran als Bürgerin, naja Bewohnerin, des Saumes des sowjetischen Imperiums. Von Afghanistan war noch nicht die Rede damals, aber dass das Imperium keine Ruhe gibt, aus Angst vor den vielen, den unendlich vielen Kleinen, bis es das Ende der Welt erreicht hat, das ist wiederum die Befürchtung von Wisława Szymborska. Inzwischen wissen wir, dass auch unsere Freiheit in Afghanistan verteidigt werden muss. Und wie unfrei das uns macht.


Die große Wisława Szymborska 2009, drei Jahre vor ihrem Tod. Foto: Mariusz Kubik / Wikipedia unter cc-Lizenz

Gleich das nächste Gedicht in der Sammlung "Salz" kommt dem, wonach ich suchte, am nächsten. Es heißt "Eindrücke aus dem Theater" und beginnt mit den Sätzen: "Für mich ist der wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug:/ die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne,/ das Zupfen an den Perücken, Gewändern,/ das Entfernen des Dolchs aus der Brust,/ das Lösen der Schlinge vom Hals,/ der muntere Auftritt in einer Reihe/ mit dem Gesicht zum Parkett."

Das Happy End also. Nein. Das Ende der Geschichte mag so oder so ausgehen. Wisława Szymborska schätzt den Moment, da die Tragödie zu Ende ist. Wenn die Toten wieder aufstehen, sich verbeugen, den Applaus einstreichen dafür, dass sie so schön, so schrecklich gestorben sind, dass sie so überzeugend gemein und mordlustig waren. Oh, lesen Sie die letzten Verse: "Die wunderbare Rückkehr der spurlos Verschollnen./ Zu denken, dass sie geduldig hinter Kulissen warteten,/ immer noch kostümiert,/ ohne sich abzuschminken,/ rührt mich stärker als alle Tiraden des Dramas./ Wahrhaft erhaben aber ist das Fallen des Vorhangs/ und was man noch durch den unteren Spalt sieht:/ da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden,/ dort eine andre das liegengelassene Schwert./ Erst dann erfüllt die unsichtbare dritte/ ihre Verpflichtung: / sie schnürt mir die Kehle."

Man glaubt Zuschauer in einer Aufführung zu sein. Mit einem Mal merkt man, man steckt selbst mitten drin. So glauben wir auf Polen zu schauen…

(Hier kann man Wisława Szymborska einige ihre Gedichte lesen hören, eine deutsche Übersetzung ist auch beigegeben.)

Wisława Szymborska: Salz. Gedichte, herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973.