Vom Nachttisch geräumt

George Steiners irreale Gegenwart

Von Arno Widmann
14.05.2019. Wie kaum ein anderer hält George Steiner fest an der Vorstellung, dass Wissenschaft und Literatur, dass Kunst und Mathematik, dass Musik und Physik alles Wege sind, uns in der Welt zurechtzufinden. Zu seinem neunzigsten Geburtstag.
Am 23. April wurde George Steiner neunzig Jahre alt. Seit er vor dreißig Jahren "Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?" vorlegte, hat er die Kritik gegen sich. Aus sehr niedrigen Beweggründen. Steiner ging damals von der Feststellung aus, dass nur wenige Künstler und Schriftsteller von ihrer Arbeit leben können, dass aber der Autor, der Künstler, ganzen Generationen von Kritikern und Wissenschaftlern ihren Lebensunterhalt sichern kann. Die Kritik, die längst keine mehr ist, lebt gut von einer Kunst, die auch immer weniger eine ist. Das Missverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung derer, die sich mit Kunst beschäftigen, und derer, denen wir sie verdanken, empört Steiner. Das verzieh ihm die Kritik nie. Steiner, dessen Aufsätze über Texte und Gedanken, über Kunst und Wissenschaft zum Besten zählen, was die Kritik des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte, hielt ihren grundsätzlich sekundären Charakter fest und sah in ihrer immer noch zunehmenden Übermacht das Zeichen eines Verfalls, dem man sich nicht hingeben, sondern dem man entgegentreten sollte.

Die Kritiker fühlten sich beleidigt und kündigten dem mit einem Male gestrig gewordenen George Steiner die Verehrung. Dabei hat keiner von uns auch nur einmal einen Aufsatz geschrieben, der es an Konzentration und Klarsichtigkeit mit den Arbeiten des 1974-1994 in Genf lehrenden vergleichenden Literaturwissenschaftlers aufnehmen konnte. Steiner weiß nicht nur sehr viel, er weiß es auch noch im richtigen Moment. Weit voneinander entfernte Gedanken fügt er zusammen. Der Leser ist manchmal nicht einmal verblüfft. Die Realpräsenz des einen im anderen erscheint ihm vertraut, selbstverständlich manchmal. Dann aber, wenn Steiner das Selbstverständliche entfaltet, dann beginnt der Leser das Ungeheuerliche zu ahnen, das Steiner ihm zeigt.

Die Erfahrung der realen Gegenwart, die man in einem Gedicht, in einer Erzählung, angesichts eines Gemäldes machen kann, ist, so Steiner, das Echo eines Gottesgedankens, der Vorstellung also, dass Gott sich in einem irdischen Geschehen zeigt, real präsent ist. Dazu gehörte auch die Auffassung, dass dies nicht nur ein Gedanke war, den die Menschen über Gott hatten, sondern einer, den Gott über sie und mit und in ihnen hatte. Wie ist Kunst möglich nach dem Tode Gottes? Das sind ketzerische Gedanken in einem sich aufgeklärt gebenden Milieu. Ich habe bei Steiner freilich keine Auferstehungssehnsucht gefunden. Nirgends plädiert er für die Vorstellung gegen die eigene Überzeugung doch wieder an den lebendigen Gott zu glauben. Er weist nur hin auf die in seinen Augen unübersehbare Schwierigkeit, Realpräsenzen ohne Gott zu schaffen.

Man kann Steiners Lesart dessen, was Kunst ausmacht, freilich auch umdrehen. Dann wäre nicht das Gottesverhältnis das Modell der Kunstproduktion, sondern die Fähigkeit der Künstler, Werke - und sei es auch nur Sätze - lebendig erscheinen zu lassen, hätte die Vorstellung geweckt, so etwas müsste auch für das Große und Ganze funktionieren. Herodot schrieb im fünften Jahrhundert v.u.Z.: "Hesiod und Homer haben den Hellenen Entstehung und Stammbaum der Götter geschaffen und den Göttern die Beinamen gegeben und ihre Ämter und Fertigkeiten gesondert und ihre Gestalten deutlich gemacht." Sie benannten, was hinter dem ist, was wir sehen, wie später Ovid in hunderten Geschichten erzählte, dass alles, was ist, hervorgegangen ist aus etwas, das es nicht ist. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem. So wie es in dieser unendlichen Folge von Metamorphosen zwar Millionen Anfänge, aber keinen Anfang von allem gibt, so gibt es auch Millionen Enden, ohne dass das Ganze jemals eins hätte.

Man könnte sagen, dass die Geschichte von einem Gott, der die Welt geschaffen hat, um sie am Ende einem Weltgericht zu unterwerfen, jedem Erzähler, von den Autoren des Gilgamesch-Epos bis zu denen von "The Good Wife", als Modell dient. Oder aber das Märchen vom Schöpfer Himmels und der Erde ist der Storchenschnabel, mit dessen Hilfe die Erfinder kleiner Geschichten sich zu Giganten machen, die die Welt in Gang halten.

Ich habe aufgehört von George Steiner zu erzählen. Habe ich das? Wie kaum ein anderer hält er fest an der Vorstellung, dass Wissenschaft und Literatur, dass Kunst und Mathematik, dass Musik und Physik alles Wege sind, uns in der Welt zurechtzufinden, dass wir uns dumm machen, wenn wir auf einen dieser Zugänge verzichten. Wo sie einander widersprechen, da weisen sie uns hin auf die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit selbst, von der wir ja ein Teil sind.

Wir haben keine Ahnung davon, wie ein Denken ohne Sprache beschaffen sein könnte, aber wir ahnen, dass es das gibt. Wir wissen, dass es immer wieder die Sehnsucht danach gegeben hat. In den letzten Jahrzehnten haben wir, haben Wissenschaftler, entdeckt, dass fast alles mit einander spricht. Nichts, das nicht auch als Signal genutzt werden könnte. So viel kann zur Sprache werden. Ist Mathematik eine Sprache, ist es Musik? Es sind Zeichensysteme, die über sich hinausweisen. Sie transportieren Welt. Sie sind Körper, in denen sich andere zeigen. Die reale Gegenwart von Konstellationen und Gemütsbewegungen der wirklichen Welt, ausgedrückt in Handlungen, die nichts mit ihnen zu tun haben. Auch hier ist unklar, was wessen reale Gegenwart ist? Die Übersetzbarkeit von allem in alles, dieser niemals endende Kontertanz von Wirklichkeit und dem Bild, das wir uns von ihr machen. Er verwirrt uns. Aber wir dürfen uns nicht irre machen lassen von ihm. Immer wieder gilt es neu anzusetzen, um das Knäuel zu entwirren. Davon hängt, nach all der Lust an den Labyrinthen der Übersetzungen, dann doch alles ab. Wissenschaft und Dichtung liebäugeln beide mit der Schönheit, aber leben tun sie - wie wir - von der Wahrheit.

Wir Leser sind untreue Gesellen: Wir beuten die Bücher der anderen aus, stehlen ihre Gedanken, verunstalten sie dabei. Seit Jahrzehnten misshandele ich die Gedanken George Steiners. So auch diesmal. Anlässlich seines 90. Geburtstages ist das etwas von seiner irrealen Gegenwart in meinen Gedanken.

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Die Übersetzbarkeit von allem in alles probte auch Björk in "Tabula rasa":


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