9punkt - Die Debattenrundschau

Das ruft nach Shakespeare'schen Adjektiven

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2020. In HVG appelliert ein fast verzweifelter Gáspár Miklós Tamás an die Vernunft der ungarischen Politiker - in dem Moment, in dem Viktor Orban mit dem Vorwand der Corona-Krise das Parlament abschalten will. Die Demokratien müssen jetzt entscheiden zwischen  "totalitärer Überwachung und republikanischer Ermächtigung der Bürger", schreibt Yuval Noah Harari in der NZZ. Anne Applebaum fürchtet, dass die Regierungen sich jetzt Kompetenzen aneignen, die sie nachher nicht aufgeben wollen. Und schuld daran ist der Kapitalismus, der jetzt gezähmt gehört, ruft Eva Illouz in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Das Cover des neuen New Yorker - des ersten Hefts in 95 Jahren, das komplett in Abwesenheit der Redaktion fertiggestellt wurde. Mehr Hintergrundartikel, auch zur Corona-Krise, ab heute Mittag in der Magazinrundschau des Perlentauchers! 
Die ungarische Regierung reichte unter dem Vorwand der Corona-Krise einen Gesetzentwurf ein, wonach die Regierungsarbeit künftig per Dekret erfolgen soll und das Parlament auf unbestimmte Zeit aufgehoben werden soll. Das Gesetz wird auf Ungarisch (in der wortwörtlichen Übersetzung) als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet. Kritiker sehen darin nicht nur de facto sondern auch de jure das Ende der parlamentarischen Demokratie in Ungarn. So ruft der Philosoph Gáspár Miklós Tamás im ungarischen Magazin HVG dazu auf, das Gesetz nach der ersten Lesung zurückzuweisen, zur Verabschiedung wäre eine Vierfünftel-Mehrheit im Parlament nötig. Nach einer zweiten Lesung, die bereits durch die Regierung im Falle eines Scheiterns angekündigt wurde, würde allerdings eine Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments genügen, über die die Regierungspartei verfügt. Das Gesetz sieht unter anderem vor, die Pressefreiheit massiv einzuschränken. Kritische Berichterstattung könnte wegen "Behinderung der Krisenbewältigung" mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Wenn die Abgeordneten der Aussetzung des Parlaments zustimmen, "können die ungarische Staatsbürger denken, dass es nicht schade um dieses Parlament ist", warnt Tamas. "Inmitten der Krise die verfassungsrechtliche Ordnung zu zerschlagen: das ruft nach Shakespeare'schen Adjektiven!" Tamas hofft, dass die ungarische Politik noch zu Vernunft kommt: "Die bisherige Verfassung ist aufgrund zahlreicher Mängel und Fehler nicht wirklich populär, auch vor 2010 war sie es nicht. Es ist wie in der Weimarer Republik. Sind wir bereit etwas Unvollkommenes zu verteidigen, um das Schlimmste, die wahre Katastrophe verhindern? Gibt es noch einige wahre Menschen in Sodom?" Auf Zeit online nimmt Ulrich Krökel die Lage in Osteuropa genauer in den Blick.

Auch  Anne Applebaum sieht in Atlantic die Gefahr, dass sich Regierungen in der Krise Kompetenzen anmaßen, die sie nach der Krise nicht mehr werden aufgeben wollen. Schon die Reisebeschränkungen in Europa hält sie für kontraproduktiv und aktionistisch. "Keine dieser harten, dramatischen Maßnahmen hat das Virus in Polen gestoppt. Die Epidemie hatte bereits einige Wochen zuvor begonnen, sich auszubreiten und breitet sich immer noch aus. Aber trotz des Chaos - vielleicht sogar wegen des Chaos - ist das hartes Durchgreifen an den Grenzen immens populär. Der Staat unternimmt etwas. Und das könnte ein Vorbote dessen sein, was noch kommen wird."

Springer-Chef Mathias Döpfner formuliert einige Einwände zu den zu Corona zu hörenden Diskursen: "Ich bin wütend, dass es ernst zu nehmende Menschen gibt, die China als Vorbild in der Seuchenbekämpfung sehen... Aber Corona, sagen immer mehr und viel zu viele, haben sie doch irgendwie sehr gut gemanagt. Dass Journalisten, die die Wahrheit recherchieren wollen, des Landes verwiesen werden, wird verdrängt. Dass man der chinesischen Informationspolitik nicht trauen kann, wir eventuell kalt belogen werden, ebenfalls. Ist dieses Modell unsere Zukunft? Soll China zu unserem Vorbild werden, weil es die Corona-Krise so totalitär gemeistert hat?"

Ähnlich sieht das in der NZZ der israelische Historiker Yuval Noah Harari: Wir müssten uns entscheiden zwischen "totalitärer Überwachung und republikanischer Ermächtigung der Bürger", zwischen "nationalistischer Isolation und globaler Solidarität". Vor allem sollten wir jenen nicht glauben, die behaupten, es gebe nur die Wahl zwischen Gesundheit und Privatheit: "Denn es ist eine falsche Wahl. Wir können und sollten sowohl Privatheit als auch Gesundheit genießen. Wir können unsere Gesundheit schützen und die Epidemie stoppen, indem wir den Bürgern nicht ein totalitäres Überwachungsregime aufzwingen, sondern sie ermächtigen. Einige der erfolgreichsten Anstrengungen, die Corona-Epidemie einzudämmen, wurden in den letzten Wochen von Südkorea, Taiwan und Singapur orchestriert. Diese Staaten setzten zwar auch auf einige Tracking-Apps, vor allem aber auf aufwendiges Testen, auf ehrliches Reporting und auf die willige Kooperation einer wohlinformierten Bevölkerung."

Eva Illouz hat dagegen nicht das geringste Vertrauen in westliche Regierungen: Der Kapitalismus habe versagt, er sei mit seinem ausbeuterischen Verhalten schuld an Corona und anderen Pandemien, die in der Zukunft stattfinden würden. Auf der anderen Seite hätten neoliberale Regierungen in Europa unser Gesundheitssystem kaputt gespart und darauf gesetzt, dass halt die Alten sterben und die Jungen überleben, behauptet die israelische Soziologin in der SZ. Sie setzt zur Bekämpfung der Krise auf die "heroische Arbeit von Ärztinnen und Pflegern", danach aber müssten die Unternehmen in die Pflicht genommen werden: "Die Pandemie wird unermesslichen wirtschaftlichen Schaden anrichten, zu Arbeitslosigkeit, langsamerem oder negativem Wachstum führen und weltweite Auswirkungen haben. (Dabei könnten die asiatischen Wirtschaften noch als die stärkeren aus der Krise hervorgehen.) Banken, Konzerne und Finanzunternehmen werden zusammen mit dem Staat die Last der Überwindung dieser Krise tragen und künftig Partner in der Sorge um die kollektive Gesundheit sein müssen. Sie werden zur Forschung, zur Vorbereitung auf nationale Notstände und zur Schaffung von Arbeitsplätzen nach der Krise beitragen müssen, auch um den Preis geringerer Profite."

Auch der polnisch-britische Politikwissenschaftler Jan Zielonka kritisiert, dass die Gesundheitsversorgung im Westen privatisiert wurde, er legt aber großen Wert auf globale Kooperationen von Staaten und Wirtschaft, wie er auf Zeit online erklärt: "Es ist nichts Falsches daran, italienische oder belgische Hygienehandschuhe oder Schutzmasken herzustellen, anstatt in einer Krise um chinesische zu betteln. Die Erfindung und Herstellung modernster antiviraler und antibakterieller Arzneimittel erfordert jedoch sowohl ein globales als auch ein regionales Mitwirken. Wirtschaftliche Autarkie fördert keine Innovation und Krisenprävention. ... All dies bedeutet, dass der öffentliche Sektor rehabilitiert wird, und eben nicht, dass die Nationalstaaten zu ihrem früheren Ruhm zurückkehren würden. Das sind nicht nur schlechte Nachrichten für Nationalisten, sondern auch für Sozialisten der alten Schule, die den Nationalstaat als den einzigen lebensfähigen Anbieter öffentlicher Güter betrachten."

Moralphilosphisch ist es ein Skandal, dass in Italien Patienten "triagiert" werden, während in deutschen Krankenhäusern noch Kapazitäten frei sind. Deutsche Krankenhäuser müssten also italienische Corona-Patienten aufnehmen, schreibt der Philosoph Bernward Gesang in der taz: "Aber wir sind nun mal national organisiert und deutsche Kassenpatienten haben vielleicht vorrangig Anspruch auf deutsche Betten. Zudem ist ein konsequenter Universalismus weder durchsetzbar noch durchhaltbar, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. Es führt also kein Weg an einem Kompromiss vorbei, der aber internationaler gedacht sein muss als es unser jetziges Denken ist. Daher sollten wir gegebenenfalls nicht völlig an die Grenzen gehen und eine gewisse Anzahl an Betten oder Maschinen als Notfallreserve zurückhalten."

Boris Johnson wurde heftig dafür kritisiert, dass er zu Beginn der Corona-Krise auf Herdenimmunität durch die Ansteckung möglichst vieler Menschen mit dem Virus setzte. Aber darüber sollte man nochmal nachdenken, schlägt der Ökonom Reiner Eichenberger in der NZZ vor. Denn sobald die Regierungen die Restriktionen lockern, würden die Ansteckungszahlen eh wieder hochgehen. Eichenberger plädiert für eine "strategische Lenkung" der Infizierungen: "Es ist klar, dass gelenkte Immunisierungen auf freiwilliger Basis und unter strenger ärztlicher Aufsicht sowie mit gut organisierter Quarantäne erfolgen müssen. Gelenkte Infektionen sind für die Betroffenen und die Gesellschaft mit weniger Risiken verbunden als die ungeplanten Infektionen unter der Verzögerungsstrategie."

Die großen Internetkonzerne sind gerade dabei, in großem Stil Verschwörungstheorien und Fake news über Corona und seine Bekämpfung aus dem Netz zu entfernen. Und dann geben sie auch Millionen Dollar für die Suche nach Test- und Impfstoffen aus. In der SZ ist Bernd Graff entsetzt: Die übernehmen öffentliche Aufgaben. "Das ist nicht nur eine gute Nachricht: Unternehmen sind nie demokratisch legitimiert, sie unterliegen keinerlei Kontrolle außer der durch ihre Aufsichtsratsgremien. Philanthropie und Gemeinwohl fördern börsennotierte Konzerne gern, solange es dem eigenen Aktienkurs nützt."
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Medien

Jan Feddersen gratuliert in der taz dem "wichtigsten 'Kulturmagazin' im Online-Bereich" zum 20. Geburtstag, dem Perlentaucher - "aber was heißt hier 'das wichtigste': Es gibt ja kein anderes." (Wir erröten sanft über die schmeichelhafte Übertreibung!)
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Stichwörter: Perlentaucher

Kulturmarkt

Die Corona-Krise trifft auch kleine Buchhandlungen und Verlage hart. Die Verlegerin Britta Jürgs von der Kurt Wolff Stiftung skizziert im Gespräch mit Jens Uthoff die Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre, die sich nun noch verschärfen: "Viele Buchhandlungen sind in dieser Zeit weggebrochen, gerade die, die sich für unabhängige Verlage starkgemacht haben. Es gab einerseits eine Entwicklung hin zu größeren Buchhandelsketten und zu den Onlineversendern, andererseits ist jedoch zunehmend eine Gegenbewegung entstanden, kleinere Verlage haben sich zusammengeschlossen. Wir tun heute mehr dafür, das Bewusstsein dafür herzustellen, dass es einen Unterschied macht, ob Bücher aus einem Konzernverlag kommen oder aus einem unabhängigen Verlag."
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Politik

Melanie Götz liest für die Jungle World das Buch "Eine zornige Frau - Brief aus Algier an die in Europa lebenden Gleichgültigen" der algerischen Feministin Wassyla Tamzali, das sich nebenbei sicher als eine Antwort auf Kübra Gümüsays viel gefeiertes Buch "Sprache und Sein" verstehen ließe: "Tamzali richtet sich gegen linkes Fraternisieren mit dem sich 'gemäßigt' gebenden Islamismus, der in Europa die 'aberwitzige Bewegung' eines islamischen Feminismus mit seiner rhetorischen Instrumentalisierung von Frauenrechtskämpfen hervorgebracht habe, um die mit der 'Würde' der Muslimin abgespeiste Frau in einer untergeordneten Position zu halten. Dem Schlagwort von der 'Sichtbarkeit' verschleierter Frauen setzt Tamzali in einem zentralen Kapitel ('Der muslimische Eros') ihre Analyse der shariaimmanenten Logik sexualisierter Gewaltförmigkeit und des Zusammenhangs zwischen Hijab und unsublimierter islamischer Sexualmoral entgegen."
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Kulturpolitik

Im Interview mit der FR erklärt Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Milliardenhilfen für Soloselbständige und Kleinunternehmer, setzt aber auch auf das Prinzip Hoffnung: "Zunächst einmal hoffe ich, dass doch alle überleben - egal ob der Sologeiger, die Malerin oder der Schriftsteller, die Kinobetreiber, Musikclubs, Buchhändler, Galeristen und Verleger. Ich denke, dass manche schöpferische Kraft in dieser Situation sogar neuen Schwung bekommen kann. Überdies haben digitale Vermittlungsformen gerade richtig Konjunktur. Diese vielen neuen Ideen im Netz hätten wir mit noch so schlauen Programmen gar nicht stimulieren können. Und schließlich habe ich den Eindruck, dass jetzt sehr viele den Stellenwert von Kultur unmittelbar begriffen haben. Sie ist eben kein Standortfaktor und kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leistet."
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