9punkt - Die Debattenrundschau

Das Brennglas, durch das die Welt sehen kann

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2023. Die neue Regierung in Algerien unterdrückt die Presse, überhaupt sitzen im Maghreb die Autoritären wieder fest im Sattel, berichtet der algerische Journalist Drareni in der taz. Derweil verbietet Peking den Hongkongern die Erinnerung an die Freiheitsbewegung von 2019, schreibt Alexander Görlach in der Welt. Wagenknecht, gründe endlich deine angekündigte Partei, ruft die taz in der Hoffnung, die AfD würde Stimmen verlieren. Im Tagesspiegel wirft der Schriftsteller Hans Christoph Buch dem Haus der Kulturen der Welt vor, Geschichte und Gegenwart Haitis zu verfälschen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2023 finden Sie hier

Politik

Die Hirak-Protestbewegung in Algerien hatte 2020/21 Hoffnungen auf Demokratie geweckt. Erfüllt hat sich kaum etwas. Der greise Präsident Bouteflika verzichtete zwar auf eine erneute Amtszeit, aber auch die neue Regierung unterdrückt die Presse, erzählt im Interview mit der taz der algerische Journalist Drareni. Überhaupt sitzen im Maghreb die Autoritären wieder fest im Sattel: "Die Lage der Presse in der ganzen Region ist sehr besorgniserregend. In Algerien wurden Zeitungen eingestellt oder aufgrund von Finanzproblemen bestreikt. Andere Journalist*innen haben Probleme mit der Justiz. In Tunesien und Marokko finden wir nahezu identische Probleme. In Marokko sitzen mit Omar Radi, Soulaiman Raissouni und Tawfik Bouachrine drei Journalisten im Gefängnis. Es wird weiter für ihre Freilassung gekämpft. In Tunesien ist die Lage ebenso besorgniserregend. Erst kürzlich wurde der Journalist Khalifa Guesmi zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er seine Quellen nicht offenlegen wollte. Dies ist die höchste Haftstrafe für einen Journalisten in Tunesien seit der Unabhängigkeit 1956. Aber er sitzt nicht im Gefängnis, sondern lebt im Untergrund. Wir erleben gerade, wie alle Errungenschaften der tunesischen Revolution von 2011 wieder demontiert werden."

"Hongkong bleibt das Brennglas, durch das die Welt sehen kann, was die Kommunistische Partei Chinas tut, wenn sie die Möglichkeit dazu hat", schreibt der China-Experte Alexander Görlach, der in der Welt skizziert, mit welchem "Furor" Peking versucht, die Hongkonger zu unterdrücken: Zum dritten Mal in Folge ist das Gedenken an das Massaker von 1989 in Hongkong verboten und nun soll "auch die Erinnerung an die Freiheitsbewegung von 2019 aus dem Gedächtnis der Stadt getilgt werden. Dafür muss, so Peking, zuerst 'Glory to Hongkong' aus den Herzen und von den Lippen der Menschen verschwinden. Auf das Singen oder Hören des Liedes stehen nunmehr heftige Strafen. Streaming-Dienste sollen unter dem 'Sicherheitsgesetz' verpflichtet werden, das Lied aus ihrem Angebot zu nehmen. Tun sie das nicht, droht Peking Unternehmen wie Google und Spotify damit, ihre Mitarbeiter in Hongkong zu inhaftierten. Das Erpressungspotential, mit dem der Unrechtsstaat China hier operiert, ist immens und muss überall auf der Welt hellhörig machen, da Peking für sich in Anspruch nimmt, überall seinen Willen durchzusetzen. Was derzeit in Hongkong geschieht, sollte auch der Bundesregierung genug Anschauungsmaterial geben, welche Gefahr China wirklich für die Freiheit und Sicherheit der demokratischen Welt darstellt."



Bei den Ruhrbaronen zeigt Thomas Wessel am Beispiel der tunesischen Musikerin Emel Mathlouthi, Stimme der Jasmin-Revolution 2010/11 in Tunesien und erklärte BDS-Anhängerin, wie wenig BDS mit der Antiapartheidbewegung in Südafrika zu tun hat. Mathlouthi tritt - wie auch einige andere Künstler - auch an bestimmten Orten in Israel auf, die sie als  "Palestinian Territory, Occupied" bezeichnet, zum Beispiel eine palästinensisch geführte Bar, wo sie für ein palästinensiches Publikum spielt. Seitdem wird sie vom BDS boykottiert: "Wer anfängt, independent Palestinian cultural spaces zu schaffen, wird auf der Stelle boykottiert, weil sich solche Räume unabhängig machten von BDS. Bekanntlich ist die Kampagne eng an Terror-Organisationen gebunden, deren größte die inzwischen vom Iran finanzierte Hamas: Alle Kultur, heißt es in deren Charta, 'Bücher, Artikel, Flugblätter, Predigten, Botschaften, verschiedenste Arten der volkstümlichen und klassischen Dichtung, Dramen und anderes mehr', alles diene der 'geistigen Mobilisierung', alles sei 'Kultur im Befreiungskampf' gegen den 'Weltzionismus', und wer aus diesem 'Kampf mit den Juden' ausscheide, begehe 'Hochverrat'. BDS ist keine Alternative zum Terror, sondern dessen Bedingung. Was BDS und den Kulturboykott gegen Südafrika von Grund auf unterscheidet, ist das Beharren auf einer totalen, einer kompomisslosen Position und die vollkommen fraglose Verzweckung von Kultur für Terror: BDS hat nie die Gewaltfrage gestellt, in der Südafrika-Solidarität wurde gerade diese Frage lange und heftig debattiert, und der ANC hat sich immer darauf verpflichtet, keine Zivilisten ins Visier zu nehmen. Hamas & Co legen es genau hierauf an: 'Tod Israel', 'Tod den Juden'."
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Europa

Wagenknecht, gründe endlich deine angekündigte Partei, ruft in der taz Jan Feddersen. Die Linkspartei würde dann zwar vollends marginalisiert, aber - und darauf kommt es Feddersen an - auch die AfD würde kräftig Stimmen verlieren: "Wagenknecht ist quasi, auf Frankreich übertragen, nicht der Front National von Marine Le Pen, sondern La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon - eine linke Populistin, die das bürgerlich-liberale System hasst, weil es immer nur die ohnehin Arrivierten, bis in die woken Mittelschichten, schützt und den Proleten kaum Luft zum Atmen lässt. Materiell nicht, weil die Kluft ihrer Lebenswelten zu den erfolgverheißenden Milieus zu groß ist; moralisch nicht, weil sie schon nicht über das kulturelle Kapital verfügen (können), zu diesen anschlussfähig zu werden. Wagenknecht weiß das genau, ihre Analysen bergen verblüffend viel Anschauungsmaterial für die Unbegabtheit vieler Linker, die materiellen Interessen von Abgehängten wenigstens zu erkennen."

Jenen, die hierzulande "Frieden um jeden Preis" in der Ukraine fordern, wirft Slavoj Zizek in der Welt vor, dass ihre Haltung, nur eine "Maske für schlimmsten ethnischen Egoismus und Ignoranz gegenüber dem Leiden der anderen" sei. Vor allem aber macht er sich Sorgen um einige Entwicklungen in der Ukraine: In den Truppen herrsche Antifeminismus, außerdem würden Linke und nicht-nationalistische Liberale, auch wenn sie an der Front gegen Russland kämpfen, schikaniert: "Da diese Linken sich dem aggressiven konservativen Nationalismus mit seinen verrückten kontraproduktiven Maßnahmen widersetzen (man denke nur an das Verbot, die Werke russischer Komponisten öffentlich aufzuführen), werden sie in der Regel von den Behörden ins Abseits gestellt und sogar verdächtigt, Sympathien für Russland zu hegen."
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Kulturpolitik

Der Schriftsteller Hans Christoph Buch setzt sich immer wieder in verschiedenen Essays mit Haiti auseinander. Im Tagesspiegel wirft er dem Haus der Kulturen der Welt, das sich unter anderem mit einem Haiti-Festival der Geschichte der Sklaverei widmet, Geschichtsverzerrung aus der "Woke-Ecke" vor - so werde etwa nicht erwähnt, dass "die Anführer des Sklavenaufstands, Toussaint Louverture, Dessalines und Christophe den Voodoo bekämpften". Und auch die politische Gegenwart werde verfälscht: "Das von Krisen gebeutelte Haiti erlebt zur Zeit das schwierigste, seit langem blutigste Kapitel seiner wechselvollen Geschichte. Der demokratisch gewählte Präsident wurde im Bett erschossen, Hintermänner und Auftraggeber des Komplotts nie dingfest gemacht. Port-au-Prince ist eine No-Go-Area, die Regierung hat die Herrschaft an Kriminelle abgetreten und kontrolliert nur 20 Prozent des Territoriums. Auf Befragen stellt sich heraus, dass die Hauptredner der Eröffnung, zwei prominente Autoren, in der Diaspora leben und Haiti aus Sicherheitsgründen nicht mehr betreten, während der Botschafter meint, das im Elend lebende Volk habe das Singen und Tanzen nicht verlernt."
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Gesellschaft

"Warum werden völlig unterschiedliche Kategorien und Lebensrealitäten in einen Topf geworfen?", fragt sich die Biologin und Schriftstellerin Gertraud Klemm, die in einem Essay im Standard klar zwischen biologischen Frauen und Transpersonen unterschieden wissen will: "Warum werden keine eigenen Ressourcen (Quoten, Gefängniszellen, Fördergelder, Sportwettbewerbe, Klos) für Transpersonen angedacht? Warum sind es immer Frauen, die gerne teilen müssen? Wie beim Straßenverkehr sollen sich immer mehr, immer verschiedenere TeilnehmerInnen den immergleichen Streifen teilen, während der Autoverkehr in Relation unangetastet bleibt. Was ist mit den Ressourcen der Non-Women? Wir müssen über die Öffnung von Schutzräumen nachdenken dürfen, ohne uns einschüchtern zu lassen. Wir dürfen uns den Diskurs von despotischen Influencerinnen nicht auf ein paar wenige elitenfeministische Glaubensbekenntnisse herunterbrechen lassen, die nachzubeten wir angehalten werden."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Julian Nida-Rümelin empfiehlt in der FAZ, wir sollten mehr Demokratie wagen. Und uns nicht vor KI oder ChatGPT fürchten: "Wir haben gegenwärtig keinen massiven Produktivitätsfortschritt wie bei Einführung der Dampfmaschine, der Elektrizität, des PC und des Internets in den neunziger Jahren. Es ist ziemlich bescheiden, was Künstliche Intelligenz bislang an Produktivitätsfortschritten hervorgebracht hat. Da sollten wir uns fragen: Warum bringt das ökonomisch so wenig? Deutschland hängt in der Digitalisierung hinterher und ist dennoch eines der produktivsten Länder der Welt. Wie kann das denn sein?"

Außerdem: Dietmar Dath hat ein Buch über KI gelesen, Keith L. Downings "Gradient Expectations: Structure, Origins, and Synthesis of Predictive Neural Networks", über das er auf einer Seite in der FAZ mäandert.
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Internet

Google plant eine sogenannte "Web Environment Integrity", eine Schnittstelle, mit der Betreiber von Webseiten überprüfen könnten, mit welchem Webbrowser die Seite angesteuert wird, berichtet Jana Ballweber in der FR: Netzaktivisten und Fachleute warnen vor einem "Generalangriff auf das freie Internet": "Bei der Nutzung von Browsern fallen Unmengen an Daten an. Von welchem Gerät wird gesurft? Wo ist der Rechner mit dem Internet verbunden? Welche Webseiten werden angesteuert und was wird dort unternommen? Einige dieser Daten sind unabdingbar, wenn der Zugang zum Netz funktionieren soll. Doch Konzerne wie Google oder Microsoft haben ein wirtschaftliches Interesse an viel mehr Daten - darunter auch solche, die nicht unbedingt für das Funktionieren des Browsers nötig sind. Mit diesen Daten können sie Menschen eindeutig identifizieren, Werbeanzeigen zielgerichteter und damit teurer ans Zielpublikum ausspielen, sie können die Daten weiterverkaufen oder im eigenen Haus ihre KI-Anwendungen trainieren.  Für viele Menschen gibt es gute Gründe, das nicht zu wollen. Wer in einer Autokratie lebt, surft vielleicht gerne unerkannt auf ausländischen Nachrichtenseiten oder Foren der Opposition. Wer in einer Demokratie allzu sehr auf die Nerven geht, Klimaaktivist:innen, Journalist:innen, die geheime Dokumente veröffentlichen, Whistleblower, Asylsuchende, hat vielleicht auch ein anderes Bedürfnis nach Privatsphäre."
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Religion

Bei hpd berichtet Werner Koch, wie die Katholische Kirche - hier die Diözese Rottenburg-Stuttgart - mit staatlichen Mitteln eine Islamberatung auf die Beine stellt und versucht, muslimischen Gruppen einen ähnlichen Zugang auf kommunaler Ebene zu ermöglichen, wie sie selbst ihn hat. Das hat durchaus auch Vorteile für die Katholiken: "Durch die Islamberatung trägt die katholische Kirche offensichtlich zur Stärkung der Religiosität bei. Ein Ziel, das auch dem Ministerpräsident von Baden-Württemberg am Herzen liegt, der besorgt ist über die Entkirchlichung und Säkularisierung der Gesellschaft. Die Gleichstellung der islamischen Gruppen mit den Kirchen ist im Interesse der Kirchen. Deshalb treten sie dafür ein, den islamischen Religionsunterricht zu etablieren und Staatsverträge zu ermöglichen - sie wollen nicht, dass der Religionsunterricht abgeschafft wird oder Staatsverträge mit Religionsgemeinschaften in Frage gestellt werden." Ein großer Teil der Muslime wird jedoch bei den Beratungen ausgegrenzt, kritisiert Koch: "Dass ein Großteil der Muslime, ebenso ein Teil der Geflüchteten, keine religiösen Muslime sind, wird nicht angesprochen."
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