Außer Atem: Das Berlinale Blog

In der Krabbenhölle: 'Kanikosen' von Hiroyuki Tanaka aka Sabu (Forum)

Von Lukas Foerster
12.02.2010.
Eine Klappe öffnet sich, ein Mann schaut heraus, blickt nach oben. Der Himmel verdunkelt sich. Dunkle Wolken mit Greifzangen an beiden Seiten fliegen auf ihn zu. Er schließt den Verschlag wieder. Mit diesem Mini-Prolog beginnt "Kanikosen", der neue Film des japanischen Regisseurs Hiroyuki Tanaka. Hiroyuki Tanaka aka Sabu, der bis Anfang des Jahrzehnts in schneller Folge eine Serie kleiner, kreativer Genrefilme vorgelegt hatte und durch sie mindestens zum Geheimtipp unter den jungen japanischen Regisseuren avanciert war, hatte vor diesem Film eine kreative Pause eingelegt. Nun ist er zurück, mit einem ziemlich sonderbaren Film.



"Kanikosen" basiert auf dem gleichnamigen Roman des marxistischen Autors Takiji Kobayashis aus dem Jahr 1929. Kobayashis Aufruf zur Revolution hat in seinem Heimatland eine vielschichtige Rezeptionsgeschichte, wurde 1953 schon einmal verfilmt, 2006 als Manga adaptiert und machte, wie Mark Shilling in The Japan Times zu berichten weiß, zuletzt 2008 aufgrund eines Werbeplakats von sich reden, das Motive der Erzählung aufgriff. Sabus Film ist wahrscheinlich mit dem Begriff "Literaturverfilmung" nicht ganz richtig beschrieben. Eher schreibt der Regisseur in sein Werk die gesamte Rezeptionsgeschichte des sozialrevolutionären Klassikers ein; das Ergebnis ist eine spielerische, mangaaffine, halbironisch-abstrahierte Wiederaneignung, die die Distanz zwischen 1929 und dem Enstehungsjahr des Films 2009 für keinen Moment vergessen lässt.

Es geht im Roman wie im Film um eine Gruppe von Arbeitern, die während des russisch-japanischen Kriegs (1904/05) auf einem Krabbendampfer arbeiten. Im Bauch des Schiffes leben sie zusammengedrängt, gezwängt in schwarz glänzende Latexanzüge, die eine alptraumhafte Dimension in den Film eintragen. Sie schlafen in engen, übereinander geschichteten Röhren, werden von Aufsehern gedemütigt und träumen von einem glücklicheren Schicksal. Der Film verdoppelt die Klaustrophobie, die sie erfahren, noch einmal: in den wenigen Szenen, die nicht im Inneren des Schiffs, sondern an Deck spielen, ist der Himmel meist von dichtem Nebel verdeckt, selbst wenn er sich einmal lichtet, bleibt ein Horizont - oder auch nur irgendein Außerhalb des Schiffs und der Parabel, die sich auf ihm vollzieht - außer Sicht. Ein minimalistischer Versuchsaufbau, der sich über weite Strecken auf zwei Räume zusammenzieht: Zum einen auf den Arbeitsraum samt ineinander greifenden Zahnrädern, aufsteigendem Dampf und Peitsche schwingendem Aufseher, den Sabu an einer Stelle mit einer traditionellen Höllendarstellung überblendet. Zum anderen auf den Schlafraum, in dem trotz Erschöpfung und Indoktrination Pläne geschmiedet werden: erst falsche von Selbstmord (der auf tragikomische Art und Weise misslingt) und Wiedergeburt, dann langsam aber sicher die richtigen, nämlich die von einer Veränderung der Verhältnisse im Diesseits.



Aber davor müssen zunächst zwei der Arbeiter ausbrechen und von einem russischen Kriegsschiff aufgegriffen werden. Die vielleicht seltsamste Szene des Films spielt hier, auf dem feindlichen Schiff: Die beiden verängstigten Japaner treffen auf eine absurde Miniatur des vorrevolutionäre Russlands, werden von freundlichen, ständig lächelnden hellhaarigen jungen Männern (die nach vielem aussehen, aber ganz sicher nach russischen Soldaten aus dem ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts) verköstigt und zum Tanz aufgefordert. Ein bunt kostümierter Chinese, der einer Shaw-Brothers-Produktion der Siebziger Jahre entsprungen sein könnte, fungiert als Übersetzer und hält einen Monolog, der später in umgewandelter Form im Aufstand der japanischen Arbeiter gegen ihre Unterdrücker wieder auftaucht. Ausgerechnet diese Szene, in der nicht nur die Figuren, sondern der Film selbst von einer fast existentiellen Verwirrung befallen wird, produziert revolutionäres Bewusstsein. Freilich: Wie genau das passiert, dazu hat der Film nicht wirklich eine Position. Denkbar weit entfernt ist der Film aber in jedem Fall nicht nur hier vom Pastiche aufwändiger Historienfilme, die historische Differenz zugunsten einer falschen historiografischen Authentizität, hinter lebensechter Ausstattung und pittoresken Details verschwinden lassen. In "Kanikosen" bleibt die Kulisse stets als Kulisse präsent, die Ausstattung ist mehr oder weniger zeitlos und statt in die Tiefe des historisierten Illussionsraums streben die Bilder zur Flächigkeit und Abstraktion des Comics. Auch die utopisch überbelichteten Fantasiebilder, in die sich die Arbeiter flüchten, um der Enge ihrer Kojen zu entkommen, erinnern an das Comic.

Man weiß bei weitem nicht immer, wo Sabu mit seinem bei alledem oft ziemlich bedrückenden Film hin will. Nicht ganz falsch liegt man den auch mit dem Vorwurf, dass seine Version von "Kanikosen" am Ende doch etwas unentschieden zwischen Brecht und Postmoderne stecken bleibt. Aber er wagt auf dem Weg dahin einiges. Und wie der Film am Ende die Wendung zum dann plötzlich völlig ironiefreien Agitprop-Film hinbekommt, das sollte man dann doch gesehen haben.

Sabu: Kanikosen. Mit Ryuhei Matsuda, Hidetoshi Nishijima, Kengo Kora, Hirofumi Arai, Tokio Emoto und anderen. Japan 2009, 109 Minuten (Vorführtermine)