Außer Atem: Das Berlinale Blog

Rücksichtslos sichtbar: Takahisa Zezes 'Heaven's Story'

Von Lukas Foerster
12.02.2011.


Ein sanftes, zerbrechliches Monstrum von einem Film. 278 Minuten dauert Takahisa Zezes "Heaven's Story" und doch bekommt man das Ding nie wirklich zu fassen. Irgendwo zwischen hysterischem Charakterdrama, blutigem Rachethriller und Erzählexperiment, lyrisch, naiv, stellenweise wunderschön, stellenweise enervierend setzt es sich zwischen alle Stühle. Nahe liegt ein Vergleich mit einem anderen, fast genauso langen und ungleich lauteren, grelleren japanischen Monstrum, Sion Sonos "Love Exposure", vor zwei Jahren im Forum zu sehen und längst zum Kultfilm avanciert. "Heaven's Story" wird, obwohl handwerklich der bessere Film, derartige Reaktionen wohl eher nicht hervorrufen.

Takahisa Zeze galt in Japan einst als einer von vier "Heavenly Kings of Pink". In den neunziger Jahren drehte er Dutzende Softpornos, sogenannte "Pinku eigas", eine Filmform, die trotz Fließbandproduktion und thematischer Redundanz seit den sechziger Jahren eine Spielwiese für experimentierfreudige junge Regisseure darstellt. Schon mit außergewöhnlichen Erotikfilmen wie "Tokyo X Erotica" deutete Zeze an, dass er sich in den Beschränkungen der Form nicht so ganz wohl fühlt, seit einigen Jahren nun ist er im Mainstream angekommen. "Heaven's Story" ist zweifellos das bislang ambitionierteste Projekt in einer bereits recht langen Filmografie.

Über neun Jahre erstreckt sich die Handlung, an ihrem Anfang steht die fixe Idee eines kleinen Mädchens: Ein Mörder soll die Schuld eines anderen auf sich nehmen. Den eigenen Verlust kann Sato nicht rächen: Ihre Eltern und ihre Schwester wurden von einem Psychopathen getötet, der anschließend Selbstmord beging. Zufällig sieht sie eines Tages im Fernsehen, wie Tomoki, ein Mann mittleren Alters, schwört, den Mörder seiner Frau und seiner Tochter nach dessen Haftentlassung umzubringen. Jahre später taucht Sato in Tomokis Leben auf: Der Mörder ist frei und die jetzt Sechzehnjährige erinnert den inzwischen wieder glücklich Verheirateten an sein Versprechen.

Dass "Heaven's Story" kein geradliniger Rachefilm sein will, erkennt man schnell. Die Verbrechen stehen nicht am Anfang, sie werden nachgereicht, ihre Chronik bleibt, wie so vieles im Film, lückenhaft. Mitsuo, der Mörder, trägt die Schildkappe so tief, dass man seine Augen nicht sieht, wenn er die Mordwaffe, einen blutbeschmierten Stein, in der Hand hält. Dann verschwindet er erst einmal für ein paar Stunden aus dem Film, wenn er wieder auftaucht, lautet seine Botschaft an die Welt: "Ich möchte, dass auch die Ungeborenen sich an mich erinnern". Statt dessen tauchen zunächst andere Figuren auf, ein Polizist, der nebenbei als Auftragskiller arbeitet, eine Rockmusikerin mit problematischem Privatleben, es gibt mysteriöse Berührungspunkte zwischen den einzelnen Strängen, aber diese Berührungspunkte spielen erst einmal keine große Rolle. Der Film lässt seinen Figuren - zumindest vorläufig - ihre Geheimnisse. Nicht um die Feinarchitektur der vielsträngigen Erzählung geht es, sondern um Momente der intimen Selbstoffenbarung. "Heaven's Story" steuert immer wieder auf solche Szenen zu: weinende Gesichter in Großaufnahme, verzweifelte Umarmungen, Schreianfälle.

Die Narration greift weit aus, aber die Welt des Films ist im Grunde überschaubar. Große Teile spielen in einem neu errichteten Hochhauskomplex, von dem aus man einen Blick gen Horizont werfen kann. Man sieht dann allerdings nur ein ewiges Häusermeer. An mehreren neuralgischen Punkten aber springt der Film in eine verlassene Industriestadt im Norden Japans, die wie das verdängte Gegenstück zu den modernen Appartments der Großstadt wirkt. Dort, wo sich verzweifelte Männer auf den Dächern gewaltiger, halb verfallener Industrieanlagen gegenseitig an die Gurgel gehen, ist der Film ganz bei sich.

Vor allem in den ersten zwei, drei Stunden findet "Heaven's Story" beeindruckende Bilder leicht neben der Norm. Entweder rückt die nervöse Handkamera den Figuren und ihren Emotionen ganz nah auf den Leib, hebt jede Distanz auf und lässt jede Schwäche, jede Träne rücksichtslos sichtbar werden, oder sie geht sehr weit auf Distanz, so dass die winzigen Menschenkörper durch ihre Umgebung erdrückt zu werden scheinen. Alles dazwischen, die klassischen mittleren Einstellungsgrößen vor allem, die den Menschen einerseits im Raum verankern, ihm andererseits aber auch erlauben, dort als handelndes Subjekt aufzutreten, sich die Welt in Tat und Bewegung anzueignen, kommt kaum vor in diesem Film. Die Menschen werden getrieben von Kräften, die größer sind als sie. Und erst, wenn der Film eine Idee davon entwickelt, was es mit diesen Kräften genauer auf sich hat, bekommt er ein Problem.

Schwer zu entscheiden ist, inwieweit der Film in seiner letzten Stunde sich und seine tollen Bilder selbst wieder durchstreicht. Die verschiedenen Erzählstränge laufen mehr oder weniger elegant unter metaphysischen Vorzeichen zusammen. Statt den Traumata sozusagen phänomenologisch nachzuspüren, gibt es eine himmlische Erlösung vom Trauma, eine Erlösung, auf die man zwar keine christlichen Transzendenzideen projizieren sollte, die dem Film aber dennoch nicht guttut. Der Film und seine Figuren verlieren den Halt in der sozialen Welt, es drängt beide zur mystisch aufgeladenen Natur. Wahrscheinlich aber kann ein von Anfang an überlebensgroßer, wahnwitziger Film wie "Heaven's Story" gar nicht zu einem vollständig befriedigenden Ende finden, wahrscheinlich hat der Film von Anfang an etwas Unabschließbares. Und man muss ihm nicht auf allen seinen Pfaden bis ans Ende folgen, um an Takahisa Zezes Monster seine Freude zu haben.

"Heaven's Story". Regie: Zeze Takahisa. Darsteller: Tsuruoka Moeki, Hasegawa Tomoharu, Oshinari Shugo, Murakami Jun, Yamasaki Hako u.a., Japan 2010, 278 Minuten (Forum, Vorführtermine)