Redaktionsblog - Im Ententeich

Warum ich die Krautreporter unterstütze

Von Thierry Chervel
03.06.2014. Da es keine Ökonomie der Information mehr gibt, muss sich Öffentlichkeit selbst organisieren. Möglich ist das nur in einem offenen Netz.
Gerade habe ich die 60 Euro für die Krautreporter überwiesen. Über 5.000 künftige Premiumnutzer haben das bereits getan. Wir dürfen uns darauf freuen, die Artikel "unserer" Reporter künftig kommentieren zu können. Die 15.000 zahlenden Leser werden die Krautreporter auch noch erreichen – und hoffentlich mehr! Damit wäre (mit der klitzekleinen Ausnahme des Perlentauchers) das erste wirkliche Online-Medium in Deutschland entstanden. Ich meine damit ein Medium im Feld allgemeiner Information, das sich - wie auch immer - aus eigener Kraft finanziert und das nicht Ableger eines größeres Medienhauses ist.

Vier Einsichten der letzten 15 Jahre bewegen mich, die Krautreporter zu abonnieren:

1. Das Internet ist die Öffentlichkeit
2. Es gibt keine Ökonomie der Information
3. Es geht um die Zukunft der Öffentlichkeit, nicht des Journalismus
4. Wir müssen über die Öffentlich-Rechtlichen reden

Zu 1: Verschiedene Ereignisse haben in den letzten Monaten bewiesen, dass es keine Öffentlichkeit jenseits des Internets gibt. Die Geheimdienstaffäre ist eines davon: Hätten nur Zeitungen als Anlaufpunkt für Edward Snowdens Informationen gedient, wäre die Affäre möglicherweise überhaupt nicht herausgekommen. Zeitungen haben in den USA in den letzten Jahren immer wieder nach Intervention von Behörden Informationen zurückgehalten. Der neue Chefredakteur der New York Times etwa, Dean Baquet, hat in der Los Angeles Times die Informationen eines AT & T-Angestellten nicht gebracht - laut ABCNews (unser Resümee) war das der größte Leak vor Snowden. Auch die New York Times hat zur Zeit der Bush-Regierung Informationen aus Patriotismus zurückgehalten. Deutschen Zeitungen ist so ein Verhalten nicht fremd: Die taz wurde seinerzeit gegründet, weil sich die übrigen Zeitungen zur Zeit der RAF-Anschläge der Nachrichtensperre des "Großen Krisentstabs" beugten. Ja, der Guardian spielte in der Geheimdienstaffäre eine Hauptrolle. Der Guardian ist aber auch diejenige Zeitung in der Welt, die den Medienwandel am radikalsten gestaltet.


Auf dem Weg zu freier Aussicht. Thomas Leuthards Foto wurde unter CC-Lizenz bei Flickr publiziert. Hier Leuthards Flickr-Seite.

Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gegen Google zeigt, dass selbst die traditionelle Öffentlichkeit, zu der Richter ganz sicher gehören, inzwischen das Netz als die Öffentlichkeit betrachten. Ob eine Information in Zeitungsarchiven verschimmelt – so ihre übrigens trügerische und falsche Meinung (mehr hier) – ist letztlich irrelevant. Erst Google stellt die Öffentlichkeit her. Zeitungen, die sich mit Paywalls vom Netz abwenden, kehren der Öffentlichkeit den Rücken. Viele Zeitungen haben das Google-Urteil bejubelt. Sie bejubeln den Verfall ihres Status.

Stefan Niggemeier hat in seinem Blog begründet, warum die Krautreporter, anders als Mediapart in Frankreich oder De Correspondent in den Niederlanden, keine Paywall aufrichten. Mag sein, dass sie den einen oder anderen "Longread" in Zukunft absperren. Aber das Wesentliche kostenlos herzugeben, ist richtig, denn ohne das wäre es nicht öffentlich. Hätten die Krautreporter systematisch mit Paywall agiert, hätte ich sie wohl nicht unterstützt.

Das World Wide Web existiert seit zwanzig Jahren. Niemand hat mir in dieser Zeit vorgeführt, dass sich Journalismus refinanzieren kann, jedenfalls nicht im Sinne eines profitablen Geschäftsmodells. Die jüngsten Diskussionen in der New York Times, die als globales Medium eine sogar erfolgreiche Paywall hat, machen deutlich, dass auch hier das ökonomische Problem noch längst nicht gelöst ist (Marcel Weiß und Johannes Kleske diskutieren hier über dieses Thema). Mag sein, dass einige englischsprachige Medien mit ihrem Vorteil der globalen lingua franca ökonomisch irgendwie überleben werden. In kleineren Sprachen wird das nicht funktionieren.


Zu 2: Also ja, wir müssen es einsehen. Es gibt keine Ökonomie der Information.

Und es hat sie wahrscheinlich nie so recht gegeben. Zeitungen transportierten Information eine Zeitlang huckepack. Eigentlich waren sie die Googles und Ebays ihrer Zeit, die mit Rubrikenanzeigen ihre lokalen Märkte organisierten. Manche dieser Zeitungen hatte sich einem Informationsauftrag verschrieben, andere verstanden sich als Unterhaltungsmedien. Die große Zeit der "freien Presse" mit entsprechendem Selbstverständnis reichte von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Entstehung des Internets. Zuvor waren die Zeitungen zwar Leitmedium, aber sehr häufig weltanschaulich oder organisatorisch gebunden, nicht "frei": Sie waren katholisch, evangelisch, gewerkschaftlich oder kommunistisch und finanzierten sich über Mitgliedschaften und Zwangsabos. Das ist nicht das, was man heute als jene von Habermas besungene Öffentlichkeit versteht.

Magazine wiederum profitierten davon, dass Werbetreibende Kontakte suchten. Wie sollte Mercedes sonst mitteilen, dass es ein neues Modell gibt? Die Magazine hatten eine Rente aus ihren TKPs – den Preisen, die Werbetreibende für tausend Kontakte bezahlten. Der Spiegel hatte eine Million Auflage. Der TKP für eine Seite lag bei 50 Euro. Preis für eine ganzseitige Anzeige: 50.000 Euro. Das ist vorbei. Private Fernseh- und Radiosender spielen für die von mir hier fokussierte demokratische Öffentlichkeit keine Rolle. Sie sind nicht in erster Linie journalistische Medien. Das wenige, das sie an journalistischer Information bieten, ist ihnen nicht selten durch irgendwelche Staatsverträge aufgezwungen.

Das Internet hat diesen Konstruktionsfehler der demokratischen Öffentlichkeit bloßgelegt, weil es die hochprofitablen Bündel, mit denen Information transportiert wurde, aufgelöst hat.


Zu 3: Aber natürlich brauchen moderne Gesellschaften Information und die freie Zirkulation von Information. Demokratische Gesellschaften können sich nur per Öffentlichkeit fit halten und entwickeln.

Die Geheimdienstaffäre zeigte wie gesagt, dass diese Öffentlichkeit längst nicht mehr nur durch die etablierten Medien hergestellt wird. Sie sind ein wichtiger Akteur, aber einer von vielen. Es sind zugleich übermächtige Konzerne herangewachsen, durch die sich die klassischen Medien gefährdet sehen - Google, Facebook et cetera -, andererseits gibt es immer noch das offene Netz und sein gefährdetes Demokratieversprechen: Noch ist es tatsächlich so, dass jeder sein Blog gründen und im Konzert der Stimmen mitmischen kann. Das Demokratieversprechen des Internets sollte nicht aus Defätismus und Leichtfertigkeit ad acta gelegt werden, im Gegenteil.

Repräsentanten des alten Systems wie Frank Schirrmacher oder Mathias Döpfner malen gern die dunklen Seiten des Netzes aus und bekennen ihre Angst vor Google, aber sie handeln in ihrem eigenen Interesse, das sie gern als das der Allgemeinheit verkleiden. Über die Idee des offenen Netzes haben sie noch nie ein Wort verloren, im Gegenteil, ihnen geht es um Exklusivität und die eigene Präzeptorenrolle.

Diese Präzeptoren spielen ihre Hauptrolle in der aufgeklärten Öffentlichkeit mit immer weniger Überzeugungskraft. Die Hauptfrage ist nicht, wie sie suggerieren, ob der Journalismus eine Zukunft hat, sondern wie Gesellschaften sich eine freie und reichhaltige Information organisieren. Das offene Netz ist heute der einzige denkbare Ort einer breiten Öffentlichkeit. Hauptimpulse dafür sollten nicht von überkommenen Akteuren oder der Politik – sondern von den Bürgern selbst kommen.

Darum ist die Idee der Krautreporter richtig: Wenn es keine Ökonomie der Information gibt, dann müssen sich gesellschaftliche Gruppen und Akteure überlegen, wie sie Öffentlichkeit selbst herstellen. Eine der möglichen Formen ist, dass Journalisten sich ihre Finanzierung bei ihren Lesern suchen. Es gibt auch andere: Medien, die durch Stiftungen oder durch Mäzene finanziert werden, wie etwa propublica oder The Intercept.


ZU 4: Und natürlich muss auch die Idee einer durch die Öffentlichkeit finanzierten und dennoch unabhängigen Information neu erwogen werden.

Nichts gegen das Öffentlich-Rechtliche, aber in Zeiten des Medienwandels können Anstalten, die einst als Gegenbild der privaten Medien konzipiert wurden, nicht einfach per Zwangsgebühr als Anstalten zementiert werden.

In Zeiten fehlender Geschäftsmodelle für unabhängig finanzierte Medien fallen die über 200 Euro jährlich, die die Bürger für "Tatort" und "heute journal" obligatorisch hinblättern, zu sehr ins Gewicht. Sie beschneiden die Medienetats der Bürger und erschweren somit Innovation, wie sie die Krautreporter verkörpern. Das Spielgeld der Bürger für Neues ist zu gering. Acht Milliarden Euro – nicht viel weniger als für die Kirchen, genauso viel wie für das gesamte Kulturleben sämtlicher Bundesländer und Gemeinden – werden in einen Apparat gesteckt, der dem Medienwandel mühsam und lustlos hinterherhinkt.

Überdies stehen die Anstalten in ihrer künstlich genährten Wonneproppigkeit einem bröckelnden Print-Sektor gegenüber und teilen mit ihm eines der Hauptsymptome: Ihr Publikum altert, auch wenn es ihnen durch ihre verfassungsgerichtlich patentierte Endlosschleife nicht wegstirbt. Wie gesagt: Die Privatsender zählen hier nicht, weil sie für Information kaum erheblich sind.

Die Idee einer öffentlich-rechtlich geförderten Öffentlichkeit müsste also ganz neu formuliert werden. Der ursprüngliche Mangel, der die Anstalten legitimierte – die raren Frequenzen, die keinen neuen Hugenbergs ausgeliefert werden sollten – existiert nicht mehr. Die Gefahr lauert von anderer Seite: Zu schützen und zu entwickeln wäre vor allem die Idee des offenen Internets: freie Information, Open Access, Open Source.

Drei Kräfte bedrohen das offene Netz: die großen Internetkonzerne, die es sich am liebsten ganz unter den Nagel reißen würden, die etablierte Medien- und Kulturindustrie, die die Informationen und Werke als ihr "geistiges Eigentum" stets durch ihre eigenen Kanäle zirkulieren lassen will, und die Staaten, die ihren Souverän den Geheimdiensten ausliefern.

Die Piratenpartei hat leider auf ganzer Linie versagt. Aber die Fragen, die sie stellte, bleiben akut. Eine Frage wäre: Welche Modelle lassen sich finden, um auch Internetprojekte und -medien - etwa über Ausschreibungen - an der Entwicklung einer neuen Öffentlichkeit partizipieren zu lassen? Ein Teil der der bisherigen Rundfunkgebühren müsste hierfür umgewidmet werden.

Diese Fragen werden sich nur in Medien wie den Krautreportern stellen lassen. Öffentlich-rechtliche Anstalten, aber auch Printmedien werden schon die Diskussion mit allen Kräften abwehren.

Thierry Chervel

twitter.com/chervel