Efeu - Die Kulturrundschau

Der Ausnahmezustand ist Alltag

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29.01.2020. Die Auswahl zum Berliner Theatertreffen steht, und die Kritiker reiben sich die Augen: Sechzig Prozent Frauen gehen nicht zu Lasten der Qualität! Die FAZ erlebt in Santiago de Chile, wie mit der "Flauta Mágica" Fassaden zum Einstürzen gebracht werden.  Die NZZ erkundet im Museum Rietberg die Kluft zwischen Kunst und Magie des Kongo. Hyperallergic meldet: Man kann geraubte Kunst auch von sich aus zurückgeben, ganz ohne Regierungsauftrag. Tagesspiegel und Filmbulletin gewahren echte Gottestreue in Terrence Malicks Film "Ein verborgenes Leben".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Hilaire Balu Kuyangiko: Nkisi numérique, Kongo, 2017. © Rainer Wolfsberger, Museum Rietberg 

Das Zürcher Museum Rietberg zeigt in seiner Ausstellung "Fiktion Kongo" die Schenkung des Ethnologen und Sammlers Hans Himmelheber. Die Objekte sind nicht geraubt, aber doch unter sehr ungleichen Bedingungen erstanden worden, weswegen Maria Becker es zu schätzen weiß, dass das Museum junge Künstler aus dem Kongo eingeladen hat, sich zu der Sammlung in Bezug zu setzen. Dennoch bleibt für sie ein unüberwindlicher Graben: "Es ist gut, diesem zeitgenössischen Blick in der Ausstellung zu begegnen. Die Künstler reflektieren das moderne Kongo, die exzentrische Selbstinszenierung der jungen Avantgardeszene und der Stammes-Chiefs von heute, die schwierigen gesellschaftlichen Zustände, die Trauer um die Zerstörung durch Gewalt und Ausbeutung. Doch die Werke verbinden sich kaum mit der historischen Präsentation. Ungleich stärker sprechen die Fotos von Himmelheber und die ihrem rituellen Kontext enthobenen Objekte. Eine Kluft zwischen damals und heute tut sich auf. Darüber täuscht auch die 'Fiktion', was eigentlich Kongo heute verkörpern mag, nicht hinweg."

Auf Hyperallergic berichtet Valentina Di Liscia, dass 28 afrikanische Artefakte, deren Versteigerung voriges Jahr von Aktivisten verhindert worden war, von einer Gruppe Sammler erworben und einem von diesen auch gegründeten Museum in Benin gestiftet wurden: "Die Transaktion zeigt, welche Rolle Einzelne spielen können, wenn es darum geht, Europas Geschichte kolonialer Plünderung wieder gut zu machen, vor allem angesichts der eklatanten Untätigkeit von Regierungen. Aber sie enthüllt auch die inneren Mechanismen eines Systems, das es überhaupt erst ermöglicht, dass solche Objekte in privater Hand landen."

Besprochen wird die Edward-Hopper-Retrospektive in der Fondation Beyerle (FR).
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Bühne

FAZ-Kritikerin Elena Witzeck ist mit dem Heidelberger Theater nach Santiago de Chile gereist, wo Antú Romero Nunes mit einer internationalen Schauspielertruppe die "Flauta Mágica" gab, in der offenbar recht heutigen Version des chilenischen Autors Guillermo Calderón. In Santiagos Innenstadt toben noch immer die Proteste, erzählt Witzeck, die Aufführung wurde daher in ein Kulturzentrum in die Vorstadt verlegt, Eintritt frei: "Der Abend der wirklichen Premiere der 'Zauberflöte' in Santiago ist ein Freitag. Auf dem Platz der Würde brennen Tonnen, die Demonstranten stehen in den Seitengassen und wickeln sich Tücher um die Köpfe. Im angrenzenden Park sitzen Familien auf Picknickdecken. Der Ausnahmezustand ist Alltag geworden. Entlang der Avenida Merced schlagen Jugendliche Brocken aus den Bordsteinen und Treppenabsätzen. Die Gegend um den Platz sieht zerfressen aus. Für Guillermo Calderón gehört die Zerstörung zum Verwandlungsprozess, ist Teil der Identität eines Landes, in dem ohnehin nichts lange bestehe. Keine falschen Fassaden mehr. Die Anwohner, die Kioskverkäuferinnen und Rentner sehen das anders. Warum das zerstören, was das eigene Leben erträglich macht?"

Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer hatte dem Berliner Theatertreffen eine 50-prozentige Frauenquote verschrieben. Jetzt wurde die Auswahl bekannt gegeben, und siehe da, mit sechs Frauen unter zehn eingeladenen RegisseurInnen wurde die Quote sogar spielend übererfüllt (hier die Auswahl). Aus München werden drei Produktionen kommen. Christine Dössel fasst es in der SZ recht knapp zusammen: "Nichts vom Burgtheater unter Kušej, nichts vom Münchner Resi unter Andreas Beck. Kein Ulrich Rasche diesmal, kein Sebastian Hartman, kein Milo Rau. Bei den Frauen fällt auf, dass gehypte Jungregisseurinnen wie Leonie Böhm oder Pınar Karabulut nicht dabei sind. Dafür die verlässlich starke Katie Mitchell, die schon dreimal beim Theatertreffen war." Im Tagesspiegel bestätigt Patrick Wildermann, dass die Auswahl bei keiner einzigen Produktion den Verdacht nährt, Genderfragen hätten über Qualität gesiegt: "Was man der Auswahl definitiv vorhalten muss: dass sie kaum Steilvorlagen für die journalistische Lieblingsdisziplin 'Trend-Spotting' liefert." In der Berliner Zeitung verzeichnet Ulrich Seidler angesicht der Kürze der Stücke einen "Minimalrekord".

Weiteres: SZ-Kritikerin Dorion Weickmann erlebt bei Daniel Proiettos Choreografie "Rasa" mit dem Königlich Flandrischen Ballett in Antwerpen, wie die Ballettwelt dekolonialisiert werden kann: "Die Historisierung des Balletterbes tut not, seine Entsorgung wäre ein Frevel." Daniele Muscionico nimmt in der NZZ die "Generation Maybe" unter die Lupe, die gerade das Zürcher Schauspielhaus erobert, und stellt erleichtert fest, dass weder Alexander Giesche noch Wu Tsang oder Christopher Rüping Vertreter des Millennial-typischen "Wischiwaschis" sind.

Besprochen werden Christopher Rüpings Inszenierung von Brecht Frühwerk "Im Dickicht der Städte" an den Münchner Kammerspielen (SZ), Ute Kahmanns Puppentheaterstück "queer papa queer" an der Berliner Schaubude (taz), Paul Linckes "Frau Luna" am Staatstheater Darmstadt (FR) und Robert Wilsons Inszenierung von Händels "Messias" in Salzburg (die FAZ-Kritiker Florian Almort durchaus "Momente der Konträrfaszination" bescherte).
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Film

Wie eine Figur bei Robert Bresson: August Diehl in Terrence Malicks "Ein verborgenes Leben"

Der mit den Mitteln des Experimentalfilms eine Kinokathedrale nach der anderen errichtende Autorenfilmer Terrence Malick hat mit "Ein verborgenes Leben" die Geschichte des NS-Widerständlers Franz Jägerstätter verfilmt, der als guter Christ auf einer österreichischen Alm dem Hitlerkult widersteht. Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche, der in diesem Film einen weitere Etappe in Malicks filmischer Suche nach dem verlorenen Paradies sieht und sich darüber freut, dass Malick nach einer Reihe esoterisch anmutender Filme den Boden unter den Füßen wiedergefunden hat, ist dieser Franz Jagerstätter "die perfekte Malick-Figur: ein einfacher Mann im Einklang mit der Natur, ausgestattet mit einem untrüglichen moralischen Kompass. August Diehl spielt ihn mit der Bressonschen Teilnahmslosigkeit eines Gläubigen, der bei aller Unbill um sein Seelenheil weiß."

Im Filmbulletin verteidigt Patrick Holzapfel Malicks werkübergreifend filmisches Projekt einer romantischen Suche nach Wahrheit und dem reinen Gefühl vor dem "intellektuellen Überlegenheitsgestus" seiner Kritiker: "Die Beharrlichkeit, mit der dieses Ideal, das Gottestreue und Natur ins Zentrum stellt, verfolgt wird, ist Kern der großen emotionalen, manchmal kitschigen Kraft des Films. Diese liegt jedoch nicht im durchaus hinterfragten Stolz von Franz, sondern in der hingebungsvollen Selbstaufgabe von Fani (Valerie Pachner). Sie ist die wahre Heldin des Films, weil ihr Ideal sich nicht gegen etwas richtet (sei es noch so verwerflich), sondern weil sie affirmativ aus Liebe handelt. Auch das mag anachronistisch erscheinen, aber letztlich wird ihre Liebe - als eine von wenigen Dingen im Film - nicht als gottgegeben hingestellt." Wobei sich Holzapfel beim Einsatz der Sprache im Film durchaus manchmal die Zehennägel nach oben rollen. Im Standard liefert Bert Rebhandl einige Hintergründe zu Franz Jägerstätter und hat außerdem mit den beiden Hauptdarstellern gesprochen.

Auf der Suche nach dem Einen oder doch lieber zur nächsten Fete? Saoirse Ronan in "Little Women"

Greta Gerwigs "Little Women", eine Neuverfilmung von Louisa May Alcotts schon oft verfilmtem gleichnamigen Roman, wurde von den ersten Kritiken ziemlich gefeiert (unser Resümee). tazlerin Jenni Zylka hält heute dagegen: Der Film ziele mit seiner geleckten Ästhetik ab auf "die homogen-weiße juvenile Clique von Social-Media-Romantikerinnen, die Lust auf Retroästhetik hat und zwischen der Suche nach 'dem Einen' und der Lust am Feiern hin und her tänzelt" und falle deutlich hinter vorangegangene Adaptionen zurück. "So ist das Vergnügen, den Schauspielerinnen zuzuschauen, wie sie sich zu Dallmayr-Prodomo-Werbemusik bunte Schürzen an- und ausziehen, recht vergänglich."

Besprochen werden Johannes Holzhausens Dokumentarfilm "The Royal Train" über die Zugfahrten von Prinzessin Margarita von Rumänien (Standard, Presse) und die neue Staffel "Bad Banks" (Presse).
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Literatur

Erhebliche Probleme hat SZ-Kritiker Cornelius Dieckmann damit, wie der zuletzt dank Neuübersetzungen wiederentdeckte norwegische Autor Agnar Mykle in seinen beiden in den fünfziger Jahren erschienenen Romanen "Liebe ist eine einsame Sache" und "Das Lied vom roten Rubin" über de facto Vergewaltigungen schreibt - für Dieckmann eine Verbündung mit dem Protagonisten und Täter, "dessen Handeln als bloßer Auswuchs zwischenmenschlicher Komplexität" abgetan wird. "Beide Romane beschreiben eine Welt, in der Frauen schuld sind, weil sie sexuell promisk sind, weil Männer sie nicht haben können, weil sie schwanger werden - eine Welt, in der männliche Melancholie fast immer schwerer wiegt als weibliches Leid."

Die Mafia erschreibt sich ihre kulturhistorischen Wurzeln gerne mal selbst, erklärt Ulrich van Loyen in der SZ. Wo sie - wie im Fall der Camorra - über keine wenigstens dunkel überlieferten Wurzeln verfügt, wird einfach umso mehr Prosa geschrieben, um im Herbst des Lebens in bessere Kreise vorzurücken. "In diesem Sinne erpresste vor dreißig Jahren der Mafiaboss Lovigino Giuliano die wichtigste Buchhandlung der Stadt, seinen schwülstigen Gedichtband 'Die Kirschen des Schmerzes' vorzustellen, und kidnappte für die Präsentation gleich einen Literaturkritiker. Anschließend ließ sich der Autor mit einem Band von Friedrich Nietzsche fotografieren."

Unter dem Eindruck der Brände in Australien stellt sich das boomende Nature Writing für Ursula März neu dar: "Der Schatten des Verschwindens", lege sich darüber, schreibt sie in der Zeit. "Als mache es sich die Literatur zur Aufgabe, den Reichtum der Natur im letzten Moment abzubilden und zu archivieren, bevor es ihn demnächst vielleicht nicht mehr gibt. Als schaue die Literatur bereits zurück."

Weiteres: Paul Jandl schreibt in der NZZ über die Beziehung zwischen Franz Kafka und seiner Schwester. Saša Stanišić schreibt auf Twitter über seine Beziehung zu einem Blumenladen namens Pflanz Kafka.

Besprochen werden Hannah Arendts "Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966" (taz), Bov Bjergs "Serpentinen" (FR), Jan Erik Volds "Die Träumemacher" (NZZ), neue Hörbücher, darunter das SRF-Hörspiel von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" (SZ), Pascal Merciers "Das Gewicht der Worte" (SZ) und Christian Ahnsehls "Ofensetzer" (FAZ).
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Musik

Von den Wurzeln im Hardcore und im Metal ist bei den im internationalen Musikunderground seit vielen Jahren gefeierten Mülheimer SloMo-Jazzern Bohren & der Club of Gore schon lange nichts mehr zu spüren, längst bewegt sich die Band in einem ästhetischen Kosmos zwischen melancholischen Nachtbars, einsamen Autofahrten durch die Nacht und der Klangwelt von David Lynch, schreibt Jens Uthoff in der Jungle World anlässlich des neuen Albums "Patchouli Blue" der Band. Der Wiedererkennungseffekt ist hoch, doch besonders an diesen Stücken ist, "dass eine jeweils ganz eigene Klangästhetik entsteht, am deutlichsten zu hören in 'Deine Kusine', wenn Clöser klingt, als wolle er mit dem Saxophon Pop-Balladen aus den Achtzigern auseinandernehmen. Sowieso sind bei mehrmaligem Hören die Feinheiten beeindruckend: Kontrabass und Piano in 'Sollen es doch alle wissen' werden teilweise improvisiert gespielt, im Titeltrack scheint mit dem leichten Hall auf der Gitarre ein Hauch Morricone durch den Song zu wehen." Wir hören rein:



Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erinnert sich in der FAZ daran, im September 2001 unter den Eindrücken des Anschlags vom 11. September einem eindrücklichen Beethovenkonzert beigewohnt zu haben und feiert den Komponisten als einen Regelbrecher und Revolutionär seiner Zeit. Verglichen damit sei unsere Gegenwart ziemlich vergangenheitsselig: "Bei Konzerten die größten Erfolge mit Stücken zu feiern, die hundert Jahre und älter sind, wäre zu seiner Zeit undenkbar gewesen. Ich frage mich oft, warum wir in der klassischen Musik bei dem Gestrigen und Vorgestrigen verharren."

Weiteres: Steffen Greiner berichtet in der taz vom Stand der Dinge des gerade in Berlin stattfindenden Festivals Club Transmediale. Besprochen werden ein Auftritt von 070 Shake (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter Squarepushers Retro-Techno-Album "Be Up A Hello" ("superintelligenter Krach", meint dazu Quentin Lichtblau in der SZ).
Archiv: Musik