Efeu - Die Kulturrundschau

Luftschlösser zum Einstürzen bringen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2020. Die SZ fragt angesichts fortschreitender Bildoptimierung, wer eigentlich definiert, wie die Welt aussehen soll. taz und Berliner Zeitung lernen wieder die Kunst am Bau zu schätzen. Die Nachtkritik verfolgt in München Christopher Rüpings Kampf gegen die Misanthropie in elf Runden. Die Zeit bewundert die Zärtlichkeit in Greta Gerwigs Neuverfilmung des Klassikers "Vier Schwestern". Im Standard plaudert Rammstein-Musiker Flake über seine seligen Ostberliner Punkzeiten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Josep Renau: Wandmosaik Erfurt, 2009. Foto: SpreeTom

In der taz berichtet Brigitte Werneburg von einem Symposium zur Kunst am Bau in der DDR und bemerkt, dass die Ostmoderne wieder angesagt ist: "Wichtigste Kunstform zur Darstellung des glücklichen Alltags der Werktätigen und Bauern, zur Feier von Frieden und Völkerverständigung wie der Beschwörung des technischen Fortschritts war das Wandgemälde, das bei Max Lingner oder Josep Renau schon in den 1950er Jahren wie eine Spielart der kommenden Popart wirkt. Das späte Wandbild Renaus 'Beziehung der Menschen zu Natur und Technik' (1984), erst im Oktober 2019 mithilfe der Wüstenrot Stiftung restauriert, wurde wieder am Moskauer Platz in Erfurt installiert." Nikolaus Bernau weiß in der Berliner Zeitung zu erzählen: "Je länger die DDR dauerte, desto mehr wanderte die Kunst am Bau von den Fassaden in das Innere der Häuser, während gleichzeitig die städtischen Räume immer mehr künstlerisch gestaltet wurden - bis hin zu den grandiosen Wasserspielen etwa vor dem Berliner Fernsehturm oder auf der Prager Straße in Dresden."

Bilder wurden schon immer bearbeitet, weiß Adrian Lobe in der SZ. Aber dass die Programme der Smartphones inzwischen jedes Bild automatisch optimieren, verändert doch noch einmal etwas, findet er: "Wer definiert die Grenzen des Sichtbaren oder Vorzeigbaren? Wer separiert das Rauschen von der Information? Werden dicke Menschen etwas schlanker gemacht, damit sie 'vorzeigbarer' sind? Werden nackte Brüste oder urheberrechtlich geschützte Logos verpixelt? Zeigt man den Obdachlosen mit den fehlenden Zähnen in voller Schärfe im Hintergrund? Oder macht man ihn (und damit das Problem) unscharf? Einer computerisierten Berechnung, wie die Welt aussehen könnte, wohnt ja auch die normative Setzung dessen inne, wie die Welt aussehen sollte."

In der FAZ erhebt Patrick Bahners Einwände gegen das neue Pathos, das sich seiner Ansicht nach in das Holocaust-Gedenken einschleicht und das er auch in der Austellung "Survivors" des Fotografen Martin Schoeller findet, der vor imposanter Industriekulisse der Essener Zeche Zollverein Gesichter von Überlebenden zeigt (unser Resümee): "Porträts laden zu einer physiognomischen Lektüre ein, die in der Gestalt das Wesen sucht. Im Versprechen einer solchen Ähnlichkeit liegt das Risiko der Form des Porträts. Schoellers Naturalismus übertreibt und unterläuft das Versprechen. Darüber kann man diskutieren. Doch nicht in diesem Fall. Denn die Frage, wie sich das Schicksal der Porträtierten in den Gesichtern abzeichnet, ob Leidensspuren und Alterserscheinungen unterschieden werden könnten, verbietet sich von vornherein. Sie wäre obszön."

Weiteres Artikel: Carmela Thiele verfolgt in der taz, wie sich Inés de Castro, Leiterin des Stuttgarter ethnologischen Linden-Museums, um eine neue fortschrittliche Konzeption bemüht und dabei auch nach Paris, Brüssel und Köln blickt. Besprochen werden die Schau "Werden, das ist die Losung!" zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs in Hamburg (FAZ), die Edward-Hopper-Schau in der Fondation Beyerle (Tsp).
Archiv: Kunst

Film

Verblüffend aktuell: "Little Women" von Greta Gerwig

Louisa May Alcotts Roman "Little Women" aus dem Jahr 1868 ist ein Evergreen der immer wieder fürs Kino adaptierten Literatur. Jetzt hat Greta Gerwig eine Variante der Geschichte um Jo March (Saoirse Ronan) und ihrer drei Schwerstern auf die Leinwand gebracht und springt dabei gleich mitten ins Geschehen, statt die Geschichte chronologisch zu erzählen, schreibt Carolin Würfel in der Zeit. Und "anders als die bisherigen Verfilmungen nähert sich Gerwig den vier March-Schwestern und ihrem Schicksal (Ehe) mit spielerischer Zärtlichkeit. Oder anders gesagt: Sie nimmt die Frauen und ihre Ambitionen ernst. Natürlich muss auch sie Luftschlösser zum Einstürzen bringen, aber sie tut es voller Respekt." Gerwigs unchronologische Erzwählweise ist essenziel für ihr Vorhaben, hält Dominik Kamalzadeh im Standard fest: "Der Film blickt beständig in die Zukunft voraus, um in etwas dunkleren Tönen zu zeigen, wie sich Wünsche und Vorstellungen an realen Möglichkeiten reiben. Nicht das Ergebnis ist so wichtig, sondern der Weg dorthin: die Frage, an welchen Schnittstellen sich etwas entscheidet."

Weitere Artikel: Dlf Kultur bringt eine Sondersendung vom Filmfestival Max Ophüls Preis, das mit einer Auszeichnung für Johannes Maria Schmitts "Neubau" als bester Film zu Ende gegangen ist (hier alle prämierten Filme im Überblick). Lory Roebueck berichtet für die NZZ von den Solothurner Filmtagen.

Besprochen werden Casey Afflecks auf DVD erschienene Dystopie "Light of My Life" (SZ) und Ladj Lys "Les Misérables" (FAZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Bühne

Brechts "Im Dickicht der Städte" an den Münchner Kammerspielen Foto: Julian Baumann

Als Kampf gegen Misanthropie und Vereinzelung erlebt Nachtkritikerin Cornelia Fiedler Christopher Rüpings Inszenierung von Bertolt Brechts Frühwerk "Im Dickicht der Städte". Der Abend achtet zu wenig auf seine Deckung, meint Fiedler, hat aber seine Momente. Etwa in Runde fünf: "Die schiere Fassungslosigkeit Gargas stößt beim Zuschauen eine assoziative Abschweifung an, zu Steven Spielbergs Frühwerk 'Das Duell'. Auf einem staubigen Highway durch Kalifornien stellt Dennis Weaver alias David Mann völlig entgeistert fest, dass ein LKW-Fahrer die Jagd auf ihn eröffnet hat. Unerbittlich, stundenlang, potenziell tödlich - und absolut ohne Grund. Das ist ähnlich irre wie hier in Brechts Frühwerk. Ein Mann beginnt einen erbarmungslosen Kampf gegen einen Fremden. Dieser wird mit dem gleichen Vernichtungswillen darauf einsteigen, ohne nach dem Grund zu fragen. Ein brutaler Tiefschlag für jedes restoptimistische Menschenbild." SZ-Kritikerin Christine Dössel ist das zu harmlos: "Es fehlt die Härte, der Haken, der entscheidende Hieb."

In der SZ betrachtet Joseph Hanimann, wie sich der Streik in Frankreich auf die Bühnen auswirkt, wo seit Wochen Balletttänzer, Musiker, Chorsänger und Bühnentechniker den Betrieb lahmlegen: "Dabei sind die Gewerkschaften des Kultursektors gar nicht die rührigsten Gegner der Rentenreform. Anders als im Bereich etwa des Verkehrs scheinen die Künstlergewerkschaften ihrer aufgebrachten Basis eher hinterherzulaufen. Das erklärt sich aus den prekären Lebensbedingungen vieler französischer Schauspieler, Musiker, Tänzer und Bühnentechniker."

Weiteres: Im Tagesspiegel-Interview erzählt Christian Stückl, Leiter der nur alle zehn Jahre stattfinden Passionspiele in Oberammergau, wie sich der Blick der beteiligten Laien immer wieder ändert: "Vor 20 Jahren haben meine Schauspieler dort noch theologische Fragen gestellt: Sind wir durch Jesus von unseren Sünden erlöst? Das ist den jungen Menschen heute völlig wurscht. Sie erinnert Jesus eher an Sophie Scholl." Ziemlich abgedroschen findet Michael Stallknecht das Mozart-Bild, das Rolando Villazón bei der Mozart-Woche in Salzburg verbreitet. Auch Reinhard Brembeck in der SZ erscheint Bob Wilsons dortige Inszenierung von Händels "Messias" reichlich verstaubt.

Besprochen werden Heiner Müllers "Quartett" am Frankfurter Schauspiel (FR, FAZ), das Stück "Die Wahrheiten" von Lutz Hübner und Sarah Nemitz am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik), Dušan David Pařízeks Adaption von David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (Nachtkritik), eine Wiederaufnahme von Pina Bauschs Ballett "Blaubart" in Wuppertal (FAZ), Barrie Koskys Inszenierung von Jaromir Weinbergers "Frühlingsstürmen" an der Komischen Oper Berlin (Tsp).
Archiv: Bühne

Literatur

Nach Florian Illies' Flucht aus dem Rowohlt Verlag zeichnet sich für FAS-Autorin Julia Encke vor allem ein katastrophales Bild auf Ebene der Holtzbrinck-Konzernleitung ab: "Wie sehr das Holtzbrinck-Management sich mit seinen Plänen verzockt hat, liegt auf der Hand und wird auch von einigen Autoren des Verlags so empfunden. 'Es geht jetzt nicht darum, Florian Illies' 'persönliche Gründe' zu bewerten', sagte der Schriftsteller Daniel Kehlmann am Freitagabend im Gespräch mit der F.A.S. 'Das würde die Aufmerksamkeit nur wieder einmal von den eigentlich Verantwortlichen für das Chaos, den Managern der Holtzbrinck-Gruppe, ablenken, die einer erfolgreichen und erfahrenen Verlegerin kündigten, ohne je einen Grund dafür zu nennen, nur um sie durch einen bedeutenden, aber im Verlagsgeschäft unerfahrenen Schriftsteller zu ersetzen. Auf Nachfrage hieß es damals immer nur, wir Autoren sollten doch abwarten und der Weisheit der Manager vertrauen. Das ist das Resultat.'"

Die "Freitext"-Reihe auf ZeitOnline bringt eine epische Meditation der Schriftstellerin Sandra Gugić, die sich samt Partner und zehn Monate altem Kind bei der Auszeit am Meer mit Fragen beschäftigt, wie sich die Arbeit als Schriftstellerin, das Leben als Mutter und das Zusammensein als Familie unter einen Hut bringen lassen. Es geht ihr um die "Belastung, die soziale Aufgaben auf der einen und künstlerische Arbeit auf der anderen Seite bedeuten, und die immensen Benachteiligungen, die sich für Frauen daraus ergeben."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Gunda Bartels die Schauspielerin und Romandebütantin Marina Frenk getroffen. Auf 54books schreibt Dirk Uwe Hansen einen Nachruf auf die Dichterin und Übersetzerin Katerina Angelaki-Rooke.

Besprochen werden unter anderem Bov Bjergs "Serpentinen" (Tagesspiegel), die Wiederveröffentlichung von Aras Örens "Berliner Trilogie" (Freitag), Rolf Erdorfs Neuübersetzung von Theo Thijssens niederländischem Klassiker "Ein Junge wie Kees" (Tagesspiegel), Ali Smiths "Herbst" (54books), Jan Peter Bremers "Der junge Doktorand" (Tell-Review), Philipp Lenhards Biografie Friedrich Pollocks (Jungle World), Bernd-Peter Langes "Georg Benjamin. Ein bürgerlicher Revolutionär im roten Wedding" (Freitag), neue Bücher von Botho Strauß (online nachgereicht von der FAZ), Paul Celans "Etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970" (SZ) und neue Kinderbücher, darunter Tomi Ungerers "Dies und das" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Lorenz Jäger über Martin Heideggers "Fernes Land":

"Ich liebe jene abendliche Weile,
da Silbermondlicht mir durchs Fenster
Zwerge, Elfen, Nix, Gespenster
..."

Archiv: Literatur

Musik

Nach Igor Levit hat nun auch Fazil Say die gesammelten Beethoven-Klaviersonaten eingespielt - und beide scheitern am Moderato-Beginn von op.110, meint SZ-Kritiker Helmut Mauró. Es geht in diesen Noten "nicht um die Reihung grimmiger Donnerschläge und anschließender Pianissimo-Mystifizierung. Beethoven war kein Esoteriker. Fazil Say aber spielt in erschütternder Naivität die Noten ab. Diese klägliche, aber für wahre Sympathie noch nicht hinreichend unbeholfene Version des Maestoso lässt den gespannten Hörer kurzfristig zusammenbrechen, Levits Variante völliger Gleichgültigkeit hilft ihm aber auch nicht wieder auf. Was bleibt? Man muss diese Klaviersonaten immer wieder aufführen - bis sie und ihr Publikum sich auf einen neuen aktuellen Erkenntnisstandpunkt in Sachen Beethoven einig werden können."

Im Standard-Gespräch plaudert Rammstein-Keyboarder Flake über die alten Ostberliner Punkzeiten, in denen man mit kaum etwas Geld in der Tasche locker überleben konnte und die Stasi-Unterwanderung der Szene mitunter sogar eine Bestandsgarantie darstellte: "Das Leben war absurd billig", da "kam man mit einem Konzert über einen Monat. Also konnte man die Musik machen, die man machen wollte." Und eingeschleuste IM-Spitzel "haben durch ihren IM-Status oft erst ermöglicht, dass die Bands überhaupt existieren konnten. Die Stasi hat ja nicht ihre eigenen Leute eingesperrt. Bestes Beispiel dafür ist die DDR-Band Die Firma. Die wurde von IM-Spitzeln gegründet. Der Gag bestand darin, dass "die Firma" eigentlich ein Synonym für 'Stasi' war. Von der Stasi gedeckt, haben die dann staatsfeindliche Texte gesungen."

Anlässlich von Nicolas Godins zweitem Soloalbum, das sich konzeptionell um Architektur dreht, schlendert Dirk Peitz für ZeitOnline mit dem ansonsten hauptberuflich bei Air tätigem Musiker über die Sanierungs-Baustelle der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Auf ein neues Air-Album sollte derzeit freilich niemand groß hoffen, erfahren wir: "Beim letzten Mal, als wir es probiert haben, hatte ich das Gefühl, dass etwas verloren gegangen ist. Das ist vielleicht das große Verhängnis jeder Band: Nach fünf oder sechs Alben werden sie schlechter." Immerhin: So wahnsinnig anders klingt seine eigene Musik auch nicht.



Weiteres: Im Tagesspiegel rät Gerrit Bartels dazu, das Berliner Clubsterben mit etwas mehr Gelassenheit zu sehen und vor allem nicht mithilfe staatlicher Mittel zu überwintern: "Umso institutionalisierter die Clubkultur, desto bescheidener der Spaß." Außerdem sind in der vergangenen Nacht die Grammys verliehen worden: Billie Eilish hat wie zu erwarten in allen wichtigen Kategorien die Auszeichnungen gewonnen - hier alle Gewinner im Überblick.

Besprochen werden ein Mahler-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Brugs Klassiker), ein Beethoven-Abend in Frankfurt mit dem London Symphony Orchestra unter Simon Rattle (FR), das neue Pet-Shop-Boys-Album "Hotspot" (taz), Eminems neues Album "Music To Be Murdered By" (online nachgereicht von der FAZ) und eine von András Schiff dirigierte, konzertante Aufführung von Mozarts "Le nozze di Figaro" in Salzburg, die FAZ-Kritiker Florian Amort allerdings nur wenig überzeugte: "Ausgerechnet Schiff, einer der feinsinnigsten Pianisten seiner Generation, scheint mit den Seccorezitativen überfordert."
Archiv: Musik