Efeu - Die Kulturrundschau

Ein eifriger SA-Mann

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2020. Die Berlinale ist schockiert: Ihr erster Leiter Alfred Bauer war ein Nazi, musste sie aus der Zeit erfahren. Die NZZ begutachtet die Stümpfe von Zürich rund um den Hauptbahnhof, die vielleicht aber auch eine Uferpromenade am Gleismeer sind. Die FAZ hegt den Wolf als mythisches Tier, die Zeit blickt lieber Jan van Eycks Lamm in die menschlichen Augen. Die taz lernt am Beispiel des iranischen Rappers Amir Tataloo, dass Kooperation mit einer Diktatur auch nicht schützt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2020 finden Sie hier

Film

Während der Berlinale wird in der Deutschen Kinemathek Rolf Aurichs Biografie Alfred Bauers vorgestellt. Bauer war erster Leiter der Berlinale, wird heute noch mit einem großen, nach ihm benannten Preis geehrt und war - ein ausgemachter Nazi, was der Band freundlich verschweigt. Bauer selbst gab sich nach dem Krieg große Mühe, sich nur als kleiner Mitläufer darzustellen. Tatsächlich war er SA- und NSDAP-Mitglied sowie leitender Funktionär in Goebbels' 1942 eingerichteter Reichsfilmintendanz, dem "Steuerungsorgan der nationalsozialistischen Filmpolitik", schreibt in der Zeit Katja Nicodemus, die sich von dem pensionierten Diplom-Wirt und Filmhistoriker Uwe Hähnel auf die Spur Bauers setzen ließ. "Ulrich Hähnel schickt mehrere Mails mit kopierten Dokumenten aus dem Bundesarchiv. Schon bei flüchtiger Sichtung fällt ein Schreiben vom 27. Mai 1942 ins Auge. Offenbar hat es die Reichsfilmintendanz wegen Bauers Anstellung als Gesinnungszeugnis angefordert. Aktenzeichen BAB, R 9361-II/47386, Briefkopf: Gauleitung Mainfranken, Kreisleitung Würzburg, Ortsgruppe Würzburg-Süd. Betreff: Gutachten über den Pg. Dr. Alfred Bauer, Würzburg, Ludwigkai 28, geb. 18. 11. 1911 (...). Darin heißt es unter anderem: 'Die Familienverhältnisse des Angefragten sind in Ordnung. Er ist ein bescheidener anspruchsloser Mensch, das sittliche und moralische Verhalten war einwandfrei. Dr. Bauer war vor seiner Einberufung ein eifriger SA-Mann. Der Besuch der Versammlungen war stets ein guter. Seine politische Einstellung ist einwandfrei, und [es] wird auch weiterhin von ihm sein voller Einsatz für Staat und Bewegung erwartet. Heil Hitler!' In der Betreffzeile wird Bauer zudem als Mitglied folgender Organisationen ausgewiesen: NSDAP, SA, Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund. Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt." Auch in Aurichs Buch wird dieses Schreiben zitiert. Allerdings nur der Teil, in dem von Bauers Bescheidenheit und seinem "moralischen Verhalten" die Rede ist. Den Teil mit der SA hat Aurich - wie noch einiges andere - weggelassen.

Die Berlinale hat bereits auf den Artikel reagiert und per Facebook mitgeteilt, dass sie die nach Alfred Bauer benannte Auszeichnung mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres aussetze und die Festival-Frühgeschichte mithilfe externer Experten genauer untersuchen wolle. Beim Dlf kann man ein Gespräch mit Nicodemus zum Thema nachlesen oder hören.

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Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, die neue Doppelspitze der Berlinale, haben gestern ihr erstes Festivalprogramm vorgestellt (hier das Video der Pressekonferenz in voller Länge). Der Bruch mit dem unter Dieter Kosslick etablierten Sound des Festivals wird schon im Gestus des Auftritts spürbar, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: Die Pressekonferenz war "unaufgeregt, emphatischer im Reden über das Kino, weniger interessiert an einer thematischen Programmatik als an neuen filmischen Ausdrucksformen", was sich auch im fokussierteren Wettbewerb zeige: Kein Hollywood, dafür mit "Sally Potter, Kelly Reichardt, Christian Petzold, Philippe Garrel, Hong Sangsoo, Abel Ferrara, Tsai Ming-Liang und Rithy Panh etablierte Namen im Weltkino." Auch die neue Sektion "Encounters", eine Art Neben-Wettbewerb für kleinere, experimentellere Arbeiten, sei im Vergleich zum Wettbewerb nun hinreichend profiliert. Kein programmatisches Motto wurde ausgerufen, stattdessen wolle das Festival "eine Verbindung schaffen zwischen Besuchern und Fachpublikum, Avantgarde-Filmkunst und dem Charakter als Publikumsfestival", notiert Philipp Stadelmaier in der SZ.

Aber was ist eigentlich ein "Publikumsfestival", fragt Rüdiger Suchsland auf Artechock. Doch sicher nicht, "dass man dem Publikum nach dem Mund redet, seinen Geschmack bestätigt und verfestigt - ein Geschmack, der sowieso immer nur ein angenommener und vermeintlicher Geschmack ist. Publikumsfestival muss auch heißen, dass man das Publikum verunsichert, irritiert, verstört, provoziert." Der angekündigte Wettbewerb präsentiert sich ihm derweil als eine Mischung aus Hochkarätern des Weltkinos, wie man sie derart nah beisammen in der jüngeren Geschichte des Festivals nicht erlebt hat, und "Nachwuchs-Festival oder einer Nebenreihe in Cannes oder Venedig." Intellectures wirft derweil einen detaillierten Blick ins Programm.

Weiteres: Lory Roebuck berichtet in der NZZ vom Verlauf der Solothurner Filmtage. Philipp Stadelmaier (SZ) und Dietmar Dath (FAZ) gratulieren Gene Hackman zum 90. Geburtstag. Natürlich unvergessen: die unter haarsträubende, ohne Rücksicht auf Verluste gedrehte Verfolgungsjagd aus William Friedkins "French Connection", bei der Hackman alles gibt.



Besprochen werden Terrence Malicks "Ein verborgenes Leben" (Perlentaucher, FR, taz, Presse, mehr dazu bereits hier), Greta Gerwigs "Little Women" (FR, SZ, FAZ, mehr dazu bereits hier und dort), Ken Loachs Alterswerk "Sorry We Missed You" (taz, SZ) und die Memoiren des Schauspielers Michael Caine (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Asli Erdogan lebt seit ihrer Haft in der Türkei in Deutschland. Der Prozess gegen sie wurde lange verschleppt, ist aber immer noch anhängig. Nun droht ihr ein Urteil von neun Jahren Gefängnis - für literarische Werke, schreibt Axel Weidemann in der FAZ: Dazu zähle laut einer Mitteilung von Erdogan "auch ihr Text 'Faschismustagebuch: Heute', erschienen in ihrer Essaysammlung 'Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch'. Sie beschreibt darin auf abstrakte Weise den seelischen Zerfall des Individuums unter der Geißel eines Unterdrückungsapparates, verstärkt durch die Bürde, 'Zeuge zu sein'."

Weiteres: Im Feuilletonaufmacher der FAZ legt Wiebke Hüster den Wolf, wie er einem in der jüngeren Literatur etwa bei Olga Tokarczuk und Daniel Kehlmann, aber auch in den Forschungen der sich mittlerweile auch sehr für Tiere interessierenden Kulturwissenschaften entgegen tritt, an die Kontroversen um die tatsächliche Rückkehr des Wolfs in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren an und kommt zu dem Schluss, dass es mit der realistischen Einschätzung so eine Sache ist. "Der Wolf bleibt selbst im 21. Jahrhundert ein mythisches Tier." Für die FR spricht Sebastian Borger mit dem britischen Autor Jonathan Coe, der mit "Middle England" einen Brexit-Roman geschrieben hat und laut eigenem Bauchgefühlt der Ansicht ist, "dass der Kern der Brexit-Bewegung faulig war." Außerdem präsentieren Dlf Kultur und die Zeit die besten Sachbücher des Monats.

Besprochen werden Kübra Gümüşays "Sprache und Sein" (ZeitOnline), Philipp Lenhards Biografie über Friedrich Pollock (NZZ), Max Webers "Reisebriefe 1877-1914" (FAZ) und das Romandebüt "Utopia" des Literaturkritikers James Wood (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Das mystische Lamm von Jan van Eycks Genter Altar


Fahren Sie nach Gent, ruft Christof Siemes in der Zeit. Dort wurde Jan van Eycks Altar, der sonst in einem Glaskäfig steht, im Museum der Schönen Künste öffentlich renoviert. Die Alltags-Außenseiten kann man noch im Museum bewundern, neben zwanzig weiteren Werken des Künstlers. "Kein Wunder, dass der Altar 1566 vor calvinistischen Bilderstürmern versteckt werden musste", meint Siemes. "Ein derartiger Realismus beinhaltet schon die Anmaßung, es Gott gleichtun und selbst etwas Einzigartiges schaffen zu wollen. So erklärt sich vielleicht auch ein Teil der vielfältigen Übermalungen, die im Zuge der Restaurierung entdeckt wurden; an manchen Stellen überdeckten sie bis zu 70 Prozent der Originalsubstanz. Die ist nun wieder freigelegt, und der milde Honigton, in den das Werk seit Jahrhunderten getaucht schien, ist einer metallisch leuchtenden Klarheit gewichen. Auch hat das mystische Lamm im Zentrum der gesamten Komposition nicht mehr die verstörenden vier Ohren, sondern ein geradezu menschliches Antlitz mit einem derart durchdringenden Blick, dass die Restauratoren sogar von einem 'Schock' sprechen."

Walter Bosshard: Chinese Air Force, double exposure, around 1930 © Fotostiftung Schweiz / Archiv für Zeitgeschichte

Der Schweizer Pressefotograf Walter Bosshard lebte und arbeitete von 1930 bis 39 in China. Jetzt werden seine Fotos (zusammen mit Capas') im Kunstmuseum der Tsinghua-Universität in einer vom Direktor der Fotostiftung Schweiz, Peter Pfrunder, kuratierten Ausstellung gezeigt. Ganz frei war Pfrunder dabei nicht, berichtet Wei Zhang in der NZZ. "Das zuständige Zensurkomitee, bestehend aus Historikern und Spezialisten für die Geschichte der KP Chinas, kam in drei Sitzungen zur Entscheidung, sieben Bilder nicht zuzulassen. Dazu gehören Bosshards Porträts zweier hoher Offiziere der japanischen Besatzungstruppen, ein Bild eines kleinen chinesischen Jungen, der zum Einmarsch der japanischen Truppen ein Fähnchen mit der aufgehenden Sonne schwenkt ... Der Kurator Peter Pfrunder kann das paternalistische Bestreben der Zensurbehörde, das heimische Publikum vor gewissen Inhalten und Darstellungen zu schützen, nachvollziehen - zumal die Kernbotschaft der Ausstellung nicht beeinträchtigt worden sei, wie er meint."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Bunte Götter - Golden Edition" im Frankfurter Liebieghaus (FR, FAZ), die Schau "The Cindy Sherman Effect" im Bank-Austria-Kunstforum in Wien (Standard) und eine Gruppenausstellung der Preisträger des Neuköllner Kunstpreises in der Galerie im Saalbau (taz).
Archiv: Kunst

Architektur

In der NZZ führt uns Sabine von Fischer in einem recht lyrischen Text zum nebelumhüllten Zürcher Bahnhof, um die neue Bebauung zu bestaunen. Auf der Südseite Hochhäuser, auf der Nordseite baut man mehr in die Weite: "Wie abgeschnitten enden die riesigen Blöcke auf halber Höhe, weit unter den Wolken, sogar unter dem tiefliegenden Nebel. Wie wird man sie wohl in fünfzig Jahren nennen? Vielleicht: die Stümpfe von Zürich. Sie sind im Verhältnis zu ihrer Umgebung enorm, aber nicht hoch genug, um Manhattan zu sein. Wer eine Sehnsucht nach Wolkenkratzern hat, soll also lieber doch nicht hierherkommen. Wer das Meer vermisst: Es ist nun hier, ein Gleismeer mit Uferpromenade."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Zürich, Wolkenkratzer

Bühne

Im Standard unterhält sich Stefan Ender mit Amélie Niermeyer über ihre Inszenierung von Beethovens "Fidelio" an der Staatsoper Wien. Alexander Pereira erzählt im Gespräch mit Michael Stallknecht (NZZ), wie er die kriselnde Oper von Florenz und den Maggio Musicale Fiorentino neu beleben will. In der SZ stellt Alexander Menden den Theaterregisseur Walter Meierjohann vor, der wegen Brexit von England wieder nach Deutschland wechselt. In der FAZ berichtet Martin Halter von den Sarasin-Wochen am Theater Basel, die mit Ausstellungen und Podiumsdiskussionen das Erbe der auf Ceylon und Celebes reich gewordenen Handelsleute untersucht, die Basel auf Kosten ausgebeuteter Völker reich beschenkten. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners zur Sanierung des Düsseldorfer Schauspielhauses durch Christoph Ingenhoven.

Besprochen werden Giacomo Puccinis Oper "Turandot" in München mit einer fast perfekten Anna Netrebko in der Titelrolle (SZ), Carl Heinrich Grauns Oper "Montezuma", dessen von Friedrich II. höchst persönlich verfasstes Libretto - eine Hommage an den aufgeklärten Herrscher - Regisseur Ingo Kerkhof in Lübeck mit Heiner Müllers "Gräuelmärchen" gegenschnitt (nmz) und Richard Wagners "Parsifal" im Teatro Massimo in Palermo (nmz).
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Musik

Die Empörung über Eminems neues Album "Music To Be Murdered By", auf dem sich der Rapper mitunter in die Welt von Serienkillern hineindenkt, nimmt Ueli Bernays in der NZZ zum Anlass einer großen Ehrenrettung des Künstlers - immerhin gestatte es ein Skandalbrennpunkt ja gerade erst, "gesellschaftliche Bruchlinien" zu perspektivieren: "In Eminems Rap, der zwischen authentischen Lebenszeugnissen und den drastischen Gewaltphantasien Slim Shadys wechselt, gibt es überall Indizien einer traumatischen Kindheit. ... Opfergefühle und Rachefantasien sind die Triebfedern in Eminems Rap. Sie verleihen ihm den emotionalen Brennstoff, um sich im afroamerikanisch dominierten Hip-Hop durchzusetzen. Wobei viele schwarze Rapper mit ihm die Erfahrung von Armut und einer vaterlosen Kindheit teilen. Herkunft und Schicksal haben Eminems Credibility unter den Rappern quasi beglaubigt. So konnte sein triumphaler Aufstieg aus der Gosse zuweilen Züge einer Passionsgeschichte annehmen." Ein aktuelles Video:



Patrick Wagner schreibt in der taz über den iranischen Rapper Amir Tataloo, der gerade in Istanbul verhaftet wurde. Nun droht ihm eine Auslieferung an den Iran: "Das Skurrile: Obwohl ein Propagandavideo offensichtlich in Zusammenarbeit mit der iranischen Armee entstanden ist, zensiert die Regierung weiterhin seine Musik. ... Absurd: Der Mann, der auf Partys mit knapp bekleideten Frauen posiert, Cannabis raucht und westliche Rapmusik produziert, fungiert als Wahlkampfhelfer für einen Mullah, dessen politisches Lager Musik am liebsten generell verbieten will. Geholfen hat es keinem von beiden."

Pünktlich zum Beethovenjahr meldet die Stadt Bonn, dass die Sanierung der Beethovenhalle sich mindestens bis zum Jahr 2024 verzögern wird und möglicherweise nicht einmal zu Beethovens 200. Todestag 2027 fertig wird, berichtet Jan Brachmann in der FAZ. Und die Baukosten werden sich wohl von 61,5 auf 134 Millionen Euro erhöhen. Der Stadtdirektor wurde - nicht entlassen, dass gibt's in den Kreisen nicht - von seiner Zuständigkeit befreit.

Weitere Artikel: Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel spricht Frederik Hanssen mit Robert Ticciati, dem Chefdirigenten des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (einen aktuellen Mitschnitt eines von Ticciati geführten DSO-Konzerts gibt es hier). Karl Fluch freut sich im Standard über das Comeback der Wiener Band Die Brüder.

Besprochen werden der Auftritt von Christina Pluhar und Julia Lezhneva bei den Mozartwochen in Salzburg (SZ), Konzerte der Pianisten George Li und Fazil Say (Tagesspiegel), das neue Album von Algiers (Presse) sowie das Debütalbum des Rapper Tarek K.I.Z., "Golem (für Zeit-Kritiker Juri Sternburg möglicherweise das "Album des Jahres").
Archiv: Musik