Efeu - Die Kulturrundschau

Kunstwerk aus eigenem Recht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2020. Im monopol-magazin wünscht sich Olu Oguibe mehr radikale Denkmäler wie das "Black-Lives-Matter"-Mural, das Muriel Bowser in Washington D.C in Auftrag gegeben hat. In der SZ erklärt der Fotograf Tyler Mitchell die Bedeutung von Kleidung für Schwarze. Die taz verjüngt sich mit Spiritual Jazz des bald 80-jährigen amerikanischen Saxofonisten Gary Bartz. Die FAZ feiert das Hörspiel. Und in der FR feiert Matthias Lilienthal seine Erfolge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Von den aktuellen Protesten und den Denkmalstürzen zeigt sich der Künstler Olu Oguibe im Gespräch mit Saskia Trebing (monopol-magazin) wenig überrascht. Er erinnert an frühere Schlüsselmomente und lobt den "Schriftzug 'Black Lives Matter', den die Bürgermeisterin von Washington D.C., Muriel Bowser, auf einer Straße nahe des Weißen Hauses in Auftrag gegeben hat" als eine "der radikalsten Nutzungen von Graffiti und Straßenschildern in der Geschichte": "Das Mural nutzt die aktive geschäftige Oberfläche der Straße in einem monumentalen Maßstab. Nicht der Seitenstreifen oder der Gehsteig, sondern die Straße selbst in einer gigantischen direkten Form. (...) Die Tatsache, dass der Schriftzug in vielen anderen Städten kopiert und adaptiert wurde, spricht für sich. Street Art und Beschilderungen sind für ihre Vertikalität bekannt, aber das D.C.-Werk hat symbolische Horizontalität in die Sprache der politischen Zeichen in der Stadt eingeführt. Es spiegelt die liegende, flache Position, in der George Floyd festgehalten wurde, auf die Straße gedrückt bis zu seinem letzten Atemzug. Es konterkariert die thronende Vertikalität der Statuen, die jetzt gestürzt werden, kontrolliert aber trotzdem den Boulevard."

Im SZ-Interview mit Alex Rühle spricht der schwarze Fotograf Tyler Mitchell über sein Fotobuch "I Can Make You Feel Good", für das er junge, glücklich Afroamerikaner in ihrer Freizeit fotografierte, über Rassismus, Utopien und die Bedeutung von Kleidung auf seinen Bildern: "Zum anderen werden wir Schwarzen durch die Sorgen unserer Eltern von Geburt an darauf trainiert, sehr genau darüber nachzudenken, was wir anziehen, wenn wir auf die Straße gehen. Ein junger Mann wurde im vergangenen Jahr umgebracht, weil er eine Skimaske trug. Er litt an Anämie, verkühlte sich leicht und trug deshalb stets diese Masken, um sich warm zu halten. Aber Weißen gilt er damit automatisch als verdächtig und darf umgebracht werden. Meine Bilder wollen weg von diesem Grundgefühl der Bedrohung. Die Menschen, die darauf zu sehen sind, fühlen sich frei und existieren so in ihren Körpern, wie sie sein wollen."

Weiteres: Nachdem sich Hans-Joachim Müller in der Welt einen Überblick verschafft hat über die "abgehangenen Werke", überwiegend von "gereiften, alten oder toten Männern", die derzeit wieder in den Ausstellungen der Republik gezeigt werden, sehnt er sich nach einer Kunst, die nach Corona "wirklich etwas zu sagen hat".

Besprochen werden die Ausstellung "The Digital Effect" im Wiener Neuen Kunstverein (Standard), die Ausstellung der Raffael-Tapisserien in Dresdner Sempergalerie (Tagesspiegel), die Jonas-Wendelin-Ausstellung in der Galerie Dittrich und Schlechtriem (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Cézanne et les maîtres. Rêve d'Italie" im Pariser Musée Marmottan-Monet (FAZ) und die Ausstellung "300 Jahre Sammeln in der Gegenwart" im Dresdner Kupferstichkabinett (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

In der taz empfiehlt Silvia Hallensleben die im Berliner Kino Arsenal gezeigte Filmreihe "Black Light" zur Geschichte des Schwarzen Kinos des 20. Jahrhunderts. Zu sehen gibt es neben Oscars Micheauxs Stummfilm "Within out Gates", auf den wir vor kurzem schon hinwiesen, unter anderem auch Shirley Clarkes gemeinsam mit dem Schauspieler Carl Lee geschriebenes Debüt "The Cool World" von 1963. Der Film "profitiert in seiner Authentizität von der Nähe zu seinen nichtprofessionellen jungen Darstellern aus dem Harlem der frühen 1960er. ... Im Zentrum des semidokumentarisch gedrehten Films steht der blutjunge Duke, der durch den Erwerb einer Waffe seine Rolle in der Gang und der Welt überhaupt stabilisieren will. Inszeniert hat die ehemalige Tänzerin Clarke diese Szenen in lyrischem Schwarz-Weiß vor einem melancholischen Soundtrack von Mal Waldron und Dizzy Gillespie mit starken choreografischen Einlagen." Einen keinen, leider sehr verwaschenen Ausschnitt gibt es auf Youtube:



Außerdem: Für die Berliner Zeitung plaudert Patrick Heidmann mit der Schauspielerin Dakota Johnson. Besprochen wird Will Ferrells auf Netflix veröffentlichte Eurovision-Song-Contest-Parodie "The Story of Fire Saga" (SZ, Presse).
Archiv: Film

Literatur

Insbesondere das literarische Hörspiel feiert derzeit eine Renaissance, freut sich Sandra Kegel in der FAZ - und dies in Coronazeiten noch einmal ganz besonders, da Rezeption und Distribution in Zeiten von ARD- und Dlf-Apps ohne und die Produktion immerhin nur mit geringen Einschränkungen möglich sind. Dabei entstehen neben Originalproduktionen auch großformatige Adaptionen wie zuletzt die von Thomas Pynchons "Enden der Parabel": "Das sind herausragende Ereignisse, in denen so berühmte wie oft ungelesene Romane als Hörspiel-Kunst der Transfer in die Eigenständigkeit des Akustischen gelingt. Für Ensembles mit bis zu fünfzig Schauspielern, was einer Theaterbesetzung bei den Salzburger Festspiele gleichkommt, samt Regisseur und Komponist sowie Musikern, Toningenieuren und Technikern lassen sich die Sender das auch einmal zweihunderttausend Euro kosten. Solche Adaptionen von Text in Ton sind zweifellos Kunstwerke aus eigenem Recht."

Besprochen werden unter anderem Peter Suhrkamps Essayverhalten "Über das Verhalten in Gefahr" und Siegfried Unselds "Reiseberichte", mit denen der Suhrkamp Verlag sein 70-jähriges Bestehen feiert (Tagesspiegel), Wallace Shawns "Nachtgedanken" (taz), Marco Balzanos "Ich bleibe hier" (FR), Sy Montgomerys "Das herzensgute Schwein" (Berliner Zeitung), Christoph Meckels Prosaband "Eine Tür aus Glas, weit offen" (SZ) und Lana Lux' Jägerin und Sammlerin" (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

Im FR-Interview zum Finale seiner Intendanz bei den Münchner Kammerspielen spricht Matthias Lilienthal mit Michael Schleicher über seine Angst vor Corona, die späte Liebe zwischen Publikum und Kammerspielen und seine Erfolge: "Was wir erreicht haben, ist eine totale Verjüngung des Publikums. Was wir erreicht haben, ist eine Akzeptanz von völlig anderen Spielstilen. Was wir erreicht haben, ist eine Hybridisierung des Theaters, bei dem internationale Theatermacher, freie Gruppen und Stadttheater ein Gemisch ergeben, das nicht mehr auseinanderzuhalten ist. Und was wir erreicht haben, ist, die Kammerspiele als ein politisches Theater neu auf die Tagesordnung zu setzen."

Nach dem Skandal um die grausamen Drill-Methoden an der Wiener Ballettakademie (Unsere Resümees), soll Christiana Stefanou, einst Tänzerin am Bayerischen Staatsballett und danach Ballettdirektorin der Compagnie der griechischen Nationaloper die Direktion ab August übernehmen, meldet der Standard mit APA. Auch ein neues Konzept wurde vorgestellt: "Die Kernpunkte des sich über fünf Jahre erstreckendes Masterplans sind eine transparente und respektvolle Kommunikation, der Ausbau der medizinischen und psychologischen Betreuung und das Engagement einer unabhängigen Kinderschutzbeauftragten."

Weiteres: Die New Yorker Broadway-Theater werden voraussichtlich erst 2021 wieder eröffnen, meldet Zeit Online mit dpa und AFP. Für den Tagesspiegel blickt Sebastian Borchert auf die katastrophale Situation, die britischen Künstlern durch die Coronakrise entstanden ist. Besprochen wird Katharina Kreuzhages Inszenierung von James Graham Ballards "Bericht über eine unbekannte Raumstation" am Theater Paderborn (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Die Sanierung des Gebäudes des Frankfurter Schauspiel- und Opernhauses scheint vom Tisch, nun wird über einen Neubau diskutiert, weiß Shirin Sojitrawalla in der taz. SPD-Kulturdezernentin "Ina Hartwig hat sich von Anfang an für den Verbleib von Schauspiel und Oper im Herzen der Stadt ausgesprochen. Kultur gehöre in die Innenstadt, ließ sie verlauten. Anfang Juni brachte sie dann einen neuen Vorschlag ins Spiel. Demnach könnte das Schauspiel am jetzigen Standort und die Oper unweit davon, an der oberen Neuen Mainzer Straße, neu gebaut werden. Die beiden Häuser würden sich dann gemeinsam mit dem Jüdischen Museum, der Komödie, den Dependancen des Museums für Moderne Kunst und des Weltkulturenmuseums bis zur Alten Oper zu einer Art Kulturmeile verbinden."

Weiteres: Ebenfalls in der taz plädiert Anna Joss, neue Chefin des Hamburger Denkmalschutzamtes im Gespräch mit Petra Schellen für den Erhalt brutalistischer Bauten: "Es braucht noch viel Einsatz, bis es genauso selbstverständlich ist, solche Bauten zu erhalten wie Gründerzeithäuser, die früher auch einmal flächendeckend abgerissen werden sollten."
Archiv: Architektur

Musik

Für die taz porträtiert Jan Paersch den bald 80-jährigen amerikanischen Saxofonisten Gary Bartz, der derzeit gemeinsam mit der britischen und ziemlich jungen Combo Maisha - keiner über 30! - den Spiritual Jazz einer Verjüngungskur unterzieht. "Bartz interpretiert Spiritual Jazz vor allem als Widerstand. Nach dem Mord an Malcolm X 1965 in Harlem, wo seinerzeit auch Bartz gewohnt hatte, spielte er mit dem Gedanken, sich den marxistisch-revolutionären 'Black Nationals' anzuschließen. 'Die Sechziger Jahre waren unberechenbar!', erinnert sich Bartz", doch "durch Gespräche mit Kollegen wie Charles Mingus wurde mir klar, dass man Musik auch als Werkzeug nutzen kann, um strukturelle Ungleichheit zu beseitigen." Das gemeinsame Album kann man sich via Youtube anhören:



Weitere Artikel: "Depressive Dunkelheit", die körperliche Leiden verursacht: Leon Scherfig hat für die FAZ den immensen psychischen Druck, der auf professionellen Orchestermusikern lastet, recherchiert. Für die Zeit porträtiert Sinem Kılıç die Philosophieprofessorin Roni Mann, die die Musikstudenten der Barenboim-Said-Akademie in Philosophie und Theologie schult. Frederik Hanssen hat sich für den Tagesspiegel mit Cornelius Meister, dem Stuttgarter Generalmusikdirektor, getroffen. Österreich diskutiert über Lockerungen im Bereich von Großkonzerten, berichtet Karl Fluch im Standard. Kurz und knapp empfiehlt der Pophistoriker Simon Reynolds in seinem Blog Beatriz Ferreyras wiederveröffentlichtes Avantgarde-Album "Echos +" aus dem Jahr 1978.

Besprochen werden Arcas neues Album "KiCK i" (Pitchfork), das neue Album von Haim (Tagesspiegel), ein Frankfurter Liederabend mit Gaëlle Arquez und Susan Manoff (FR), neue Wieder- und Archivveröffentlichungen, darunter eine CD-Box mit Aufnahmen von Frank Zappa und den Mothers of Inventions aus dem Jahr 1970 (SZ) und das Album "Deuce Ex Machina" der Berliner Garagenrock-Band Pabst (Jungle World).
Archiv: Musik