Efeu - Die Kulturrundschau

Treppe aus Tönen

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01.08.2023. Die Feuilletons sind sich uneinig über Karin Henkels Adaption von Michael Hanekes Kammerspiel "Amour" bei den Salzburger Festspielen. Die FAZ reist dort mit Ligetis Etüden ins Unendliche. In den Romanen des verstorbenen serbischen Schriftstellers David Albahari über die Gewaltgeschichte Jugoslawiens ist nichts erbaulich, schreibt die NZZ. Völlig entgleist findet die FAZ die Amazon-Bollywoodkomödie "Bawaal": Hier turteln junge Liebende vor den Gaskammern in Auschwitz herum. Und Monopol lässt sich von Vija Celmins Meer-Bildern ganz nah ans Wasser locken.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.08.2023 finden Sie hier

Bühne

Liebe (Amour) 2023: Christian Löber, Katharina Bach, André Jung. Foto: Matthias Horn.

Alle haben Karin Henkels Adaption von Michael Hanekes oscarprämiertem Kammerspiel "Amour" bei den Salzburger Festspielen gesehen. Die Meinungen gehen auseinander: Diese "intime Bild-Etüde" über Sterbehilfe für die Bühne zu adaptieren war ein Wagnis, meinen Simon Strauß und Jürgen Kesting in der FAZ, aber es hat sich gelohnt. Henkel und Dramaturg Tobias Schuster versuchen nicht, die ganz private Perspektive des Films auf ein alterndes Ehepaar, Georges und Anne, nachzuahmen, sondern weichen an vielen Stellen vom Original ab, so die Kritiker. Als sich Annes Gesundheitszustand nach einem Schlaganfall rapide verschlechtert, muss Georges sich bald mit ihrem Wunsch zu Sterben auseinandersetzen. Besonders beeindruckt sind die Kritiker von Henkels Idee, im Stück Betroffene mit ähnlichen Erfahrungen zu Wort kommen zu lassen: "Was man aus guten Gründen mit Skepsis erwartet, das menschelnde Vorzeigen von 'echten Geschichten', bleibt aus. Stattdessen inszeniert Henkel deren Auftritt sehr bedacht als kurzes, einschneidendes Intermezzo...Jede und jeder kommt kurz zu Wort und beginnt, eine Erfahrung mit Krankheit oder Tod zu schildern. Meist sind es nur ein paar Sätze, dann übernimmt einer der Darsteller und liest einen Text über die von ihnen erfahrenen Schicksalsschläge vor, während im Hintergrund auf einer Leinwand Fotografien eingeblendet werden, die sie in ihrem früheren Leben zeigen." Auch Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller hat eine gelungene Inszenierung über "die Unerbittlichkeit des biologischen Endes und das Ringen um Souveränität als menschliches Individuum" erlebt. Ganz anders sieht es Christine Dössel in der SZ und beklagt eine zu abstrakte Inszenierung mit teils veralteten performerischen Mitteln. Weitere Kritiken in taz, Tagesspiegel und nachtkritik.

Weitere Artikel: Wiebke Hüster lobt in der FAZ die persönlichen Performances von Trajal Harrell und Olivier Dubois beim Impulstanz-Festival in Wien und begrüßt ein neues Genre: die Autobiochoreographie. Welt-Kritiker Peter Huth verteidigt die Festspiele Bayreuth gegen Pauschalkritik.

Besprochen werden Krzysztof Warlikowski Inszenierung von Verdis Oper "Macbeth" bei den Salzburger Festspielen.
Archiv: Bühne

Literatur

Der serbische Schriftsteller David Albahari ist gestorben. "Von allen bedeutenden Schriftstellern des blutig untergegangenen Jugoslawien hat er wohl am schärfsten und unerbittlichsten über die Bedingungen der Wirklichkeit des Scheiterns des Vielvölkerstaates nachgedacht", schreibt Andreas Breitenstein in der NZZ: "Das Fegefeuer der Geschichte lodert, glüht und irrlichtert in all seinen Romanen und Erzählungen. Erbaulich ist hier rein gar nichts: Wer sich auf ihre Lektüre einlässt, muss bereit sein, alle Hoffnung fahren zu lassen. Er wird seine Seele durch den Fleischwolf gedreht sehen - und am Ende auf wundersame Weise beglückt und getröstet sein. ... So verknäulten sich in Albaharis Schreiben vielerlei Schmerzpunkte: der politische Abgrund systemischer Gewalt während der Tito-Ära; das posttraumatische Gedächtnis der sephardisch-jüdischen Herkunft; der mörderisch-selbstmörderische nationalistische Irrsinn der kriegerischen neunziger Jahre; die Verlorenheit in der Emigration und schliesslich die Erfahrung von Parkinson und Demenz als Krankheit zum Tode." Weitere Nachrufe schreiben Cornelia Geißler (BLZ) und Tilman Spreckelsen (FAZ).

Weitere Artikel: In seiner Proust-Reihe für den Tagesspiegel wirft Gerrit Bartels einen Blick nach Venedig als Sehnsucht in der "Recherche". Fridtjof Küchemann begibt sich für die FAZ mit Julio Cortázars und Carol Dunlops Bericht "Die Autonauten auf der Kosmobahn" im Gepäck auf die französische Autobahn.

Besprochen werden unter anderem Mina Havas Debütroman "Für Seka" (FR), Elfi Conrads "Schneeflocken wie Feuer" (SZ), neue Essays von und über Ruth Klüger (SZ) und Ita Heinze-Greenbergs "'Zuflucht im Gelobten Land'. Deutsch-jüdische Künstler, Architekten und Schriftsteller in Palästina/Israel" (FAZ). Außerdem gibt die NZZ-Redaktion die zehn wichtigsten Bücher des Monats bekannt.
Archiv: Literatur

Musik

Beseelt verlässt FAZ-Kritiker Jürgen Kesting den Ligeti-Abend des Pianisten Pierre-Laurent Aimard im Rahmen der Salzburger Festspiele: Gegeben wurden Ligetis 18 Etütden. "Es sind Grenzgänge der Spielbarkeit. Tradierte Techniken - rasende Tonrepetitionen - werden ins Extrem getrieben. Für den Pianisten ist es zwar auch eine Folter der Finger, in höherem Maß aber die Herausforderung einer Gehirn-Teilung, welche die vollkommen unabhängige Steuerung der Hände erfordert. ... Es ist faszinierend, zu beobachten, dass Aimard bei seinem Spiel nie mit erregenden Effekten zirzensischer Gestik buhlt; es ist, als spreche er mit den Köpfchen der Noten, die ihm entgegenblicken. Er lächelt verschmitzt zurück. Eine Stunde, eine lange, schwere, anstrengende, kurzweilige Stunde durchwandert man als Hörer, wie in der wilden Toccata 'L'escalier du Diable', eine Treppe aus Tönen, die sich wie eine Spirale nach oben windet, immer weiter und weiter, ins Unendliche." 2020 führte Aimard durch Ligetis "L'escalier...":



Weitere Artikel: Andreas Hartmann stattet für den Tagesspiegel dem Berliner Label Bretford einen Besuch ab. In der Welt erinnert Karoline Nuckel an Dalida, die Arte gerade online mit einem Porträtfilm würdigt. Victor Efevberhha staunt in der taz über den kometenhaften Aufstieg des Afrobeat-Musikers Asake, der von Nigeria aus die Streamingcharts erobert und nun für ein paar Auftritte nach Deutschland kommt.



Besprochen werden Aphex Twins EP "Blackbox Life Recorder 21f / in a room7 F760" (Pitchfork) und "Evenings at the Village Gate" mit erst vor wenigen Jahren entdeckten Liveaufnahmen von John Coltrane mit Eric Dolphy (Pitchfork). Der Opener ist eine fantastische, klanglich schön raue Interpretation von Coltranes Evergreen "My Favorite Things":

Archiv: Musik

Film

Einen ziemlichen Bock hat die für Amazon produzierte, von Nitesh Tiwari inszenierte Bollywood-Komödie "Bawaal" geschossen, meldet Jannick Müller in der FAZ: Der Film handelt von der Europareise eines jungen Paares und "nutzt unter anderem die KZ-Gedenkstätte Auschwitz als Schauplatz. Hier stellt eine der Hauptfiguren fest: 'Jede Beziehung geht durch ihr eigenes Auschwitz.' Da man nie zufrieden sei mit dem, was man hat, meint die andere: 'Wir sind alle ein bisschen wie Hitler.' Im Trailer werden fiktive Kriegs- und sogar Gaskammerszenen gezeigt. 'Jede Liebesgeschichte hat ihren eigenen Krieg', heißt es dazu. ... Eine Drehgenehmigung für die Gedenkstätte brauchte er nicht, die Szenen wurden wohl digital rekonstruiert."

Außerdem: Gregor Dotzauer berichtet im Tagesspiegel vom Berliner Auftritt des malischen Filmessayisten Manthia Diawara, der in "AI: African Intelligence" unter Rückgriff auf den Kulturtheoretiker Édouard Glissant künstliche und afrikanische Intelligenz miteinander zu synthetisieren versucht. Die Agenturen melden, dass der junge Schauspieler Angus Cloud (bekannt aus der HBO-Serie "Euphoria") gestorben ist. Besprochen wird ein neuer Blockbuster der "Teenage Mutant Ninja Turtles"-Reihe (Filmdienst).
Archiv: Film

Architektur

In der taz lädt Oksana Maslowa zu einem imaginären Spaziergang durch die Altstadt von Odessa vor dem Raketenangriff am 23. Juli ein. Sie führt an zahlreichen Architekturdenkmälern vorbei, die bei dem Angriff zerstört wurden. Als das historische Zentrum im Januar 2023 auf die Liste des Unesoco-Weltkulturerbes aufgenommen wurde, hoffte man noch, es so vor der Zerstörung zu bewahren: "Schließlich ist der Hauptzweck der Welterbeliste, Stätten zu schützen, die einzigartig sind, 'Meisterwerke des menschlichen Schöpfergeistes'. Gemäß der Welterbekonvention verpflichten sich die 194 Vertragsstaaten der Konvention, keine vorsätzlichen Maßnahmen zu ergreifen, die ein Welterbegut direkt oder indirekt schädigen könnten, und Unterstützung beim Schutz von Gütern zu leisten, die einzigartig sind. Einer der 194 Vertragsstaaten - Russland - hat die Konvention bereits 1954 unterzeichnet. Im gleichen Jahr wie die Ukraine."

Weitere Artikel: In der SZ schreibt Gerhard Matzig einen Nachruf auf den Architekten SunRay Kelley.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Odessa, Kelley, Sunray, Unesco

Kunst

Vija Celmins (*1938)
Untitled (Ocean), 2014. Foto: Courtesy of Jack Shear Collection, New York. © Vija Celmins.

Monopol-Kritikerin Alicja Schindler staunt in der Ausstellung "Vija Celmins.Gerhard Richter: Double Vision" in der Hamburger Kunsthalle über die vielen Gemeinsamkeiten zwischen dem Werk Gerhard Richters und dem der Malerin Vija Celmins. Seit den 1960er-Jahren malten beide, ohne voneinander zu wissen, "Bilder mit enormen formalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten". In etwa zeitgleich wendeten sich beide Künstler dem Meer als Bildmotiv zu, so die Kritikerin. Und hier werden dann doch wieder die Unterschiede sichtbar: Während Richters großformatige Bilder den Blick gen Himmel schweifen und den Betrachter zurücktreten lassen, so Schindler, locken Celmins Bilder ihn ganz nah ans Wasser: "An Celmins' Meeresbildern beeindruckt, wie sie auf kleiner Fläche die Weite und Tiefe des Wassers bannt. Dabei wirken die Strukturen der Wellen nicht lichtdurchlässig und reflektierend, sondern weisen eine eigene Festigkeit und Materialität von neben- und übereinanderliegenden Formen und Schichten auf. In einem Gespräch mit dem Kritiker Robert Storr erklärte Celmins, dass das Meer für sie kein Motiv des Erhabenen sei, sie nicht über seine Symbolik nachdenke oder mit ihm etwas Philosophisches ausdrücken wolle. Es ginge ihr stattdessen um die Materialität, um das Machen und um die Präsenz der Oberfläche. Und das sieht, ja spürt man."

Besprochen werden die Ausstellung "Elementare Gefäße. Eine andere Erzählung der Moderne" im Mies van der Rohe Haus in Berlin (taz) und die Ausstellung "Spanische Dialoge" im Berliner Bode Museum (FR).
Archiv: Kunst