Efeu - Die Kulturrundschau

Auf klassische Weise altmodisch

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01.09.2023. Carlo Chatrians Vertrag bei der Berlinale wird nicht verlängert - ein glatter Rauswurf, staunt die Berliner Zeitung. Der Tagesspiegel wundert sich, dass nach der Doppelspitze plötzlich wieder das Intendantenmodell angesagt ist. Die NZZ schwelgt in Mondschein und Romantik in der großen Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Winterthur. Die FAZ lauscht einer Predigt von Critical Consumption, während sie von Luxusmarken träumt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.09.2023 finden Sie hier

Film

Zwei Paukenschläge im deutschen Filmgeschehen - der erste, lautere: Carlo Chatrians Vertrag bei der Berlinale endet nach 2024. Das Doppelspitzenmodell ist Geschichte, ab 2025 gilt wieder das Intendantenprinzip wie zu Kosslicks Zeiten. Chatrian selbst hat "konstruktive Gespräche" mit der neuen Leitung angekündigt, um "eine künftige Rolle im Team der Berlinale" einzunehmen - etwa als Kurator. "Das sonst in solchen Zusammenhängen gebräuchliche Wort einvernehmlich fällt nicht, aber es bedarf keiner allzu großen Interpretationskunst, in diesem Fall von einem Rauswurf zu sprechen", schreiben Harry Nutt und Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Die Rückkehr zum Intendantenprinzip findet Christiane Peitz im Tagesspiegel sehr erstaunlich, auch nimmt sie es Claudia Roth nicht ab, dass sie das Festival stärken wolle. "Stärkung? Roth lässt die wegen Kostensteigerungen, Inflation und krisenbedingter Zurückhaltung der Sponsoren in finanzielle Nöte geratene Berlinale alleine, der Zuschuss seitens des Bundes (10,7 Millionen Euro, ein gutes Drittel des Budgets) wird nicht erhöht. ... Schon als Rissenbeek bekannt gab, dass sie ihre Amtszeit im März 2024 beenden wird, drängte die Zeit. Die Leitung eines großen internationalen Filmfestivals ist schwer zu besetzen, dass Roth sich bis jetzt Zeit genommen hat, um die Strukturfrage zu klären, grenzt an Fahrlässigkeit". Dass Chatrian de facto abgesägt wird, ist Hanns-Georg Rodek von der Welt spürbar recht, bedauerlich findet er nur, dass es wohl keine Ausschreibung geben wird: "Darin hätte man festschreiben können, dass der/die Neue des Deutschen in Schrift und Sprache mächtig sein muss."

Der zweite, etwas leisere Paukenschlag: Die Deutsche Filmakademie verschreibt sich ein neues, etwas komplizierteres Auswahlverfahren zur Vergabe der Lolas - wohl auch, um eine Wiederholung des Fiaskos der Nicht-Nominierung von Christian Petzolds von Kritik, Festivaljurys und Publikum gefeiertem Film "Roter Himmel" in diesem Jahr zu vermeiden. "Eine vorgeschaltete Kommission hatte 31 Filme auf die Liste der Werke gesetzt, über die die Mitglieder der Filmakademie bei der Vergabe der Lolas 2023 entscheiden durften - aber Petzolds Drama war nicht dabei gewesen", erinnert sich Hanns-Georg Rodek in der Welt. Jetzt sollen alle eingereichten Filme via statistischer Verteilung direkt durch die Akademie-Mitglieder gesichtet werden. Jedes Mitglied erhält eine zugelotste Liste von zehn Filmen, sodass jede Einreichung von mindestens hundert Mitgliedern gesehen wird. "Dieses Prinzip der individuellen Zulosung kommt auch bei der Wahl der Oscars und BAFTAS bereits seit mehreren Jahren zum Einsatz", erklärt Claudia Reinhard im Tagesspiegel.

Altmodisch, ohne restaurativ zu wirken: "Ferrari" von Michael Mann

Das Filmfestival Venedig geht derweil weiter. Gezeigt wurde etwa Michael Manns seit 30 Jahren in Planung befindliches Biopic über Enzo Ferrari. Andreas Busche freut sich im Tagesspiegel über die Rückkehr des Hollywood-Auteurs, dessen Filme in immer größeren Abständen entstehen. "'Ferrari' besitzt bereits die Charakteristika eines Spätwerks, ein überaus agiles allerdings, das noch einmal Manns zentrales Motiv aufgreift: Männer in ständiger Bewegung, von ihrer Arbeit getrieben. Adam Driver als Enzo Ferrari ist dahingehend eine fast kontraintuitive Wahl, weil sich sein Spiel jeder äußeren Dynamik verweigert. Im Actionkino (das 'Ferrari' neben einer Charakterstudie eben auch ist) verkörpert er die Trägheit der Masse, was eine interessante Binnenspannung herstellt. ... "Ferrari" ist domestiziertes Männerkino: Alles dreht sich um das 'Metall', in dem Enzo seine Fahrer in Rennen auf Leben und Tod schickt, aber diesem Stahlkörper wohnt auch eine selbstverschuldete Tragik inne. Das ist auf klassische Weise altmodisch, ohne restaurativ zu wirken." Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek hat Freude an einem diesem "konventionellen, saftigen, melodramatischen Hollywood-Plot". Erstaunlich findet ZeitOnline-Kritikerin Anke Leweke, dass "ausgerechnet die Rennszenen auf Dauer ermüdend wirken."

Pinochet als Vampir: "El Conde" von Pablo Larraín

Tim Caspar Boehme sah für die taz am Lido Pablo Larraíns Groteske "El Conde" über Pinochet, der hier "ein Untotendasein als Vampir" auf einer Ranch pflegt und sich einen Exorzismus wünscht, um endlich sterben zu können. "Das Ganze präsentiert sich als Satire in Schwarz-Weiß, wobei man die Farbe eher als Grau in Grau charakterisieren müsste. ... Schrecken soll bei Larraín mit Schrecken ausgetrieben werden, ergänzt um eine Komik, deren Bitterkeit weniger wütend als zynisch wirkt. Die Abrechnung mit Pinochet gerät darüber etwas zahnlos."

Außerdem: Valerie Dirk spricht für den Standard mit Franz Rogowski über dessen neuen, in FAZ und bei uns besprochenen Film "Passages" von Ira Sachs. Im Tagesspiegel empfiehlt Fabian Tietke eine Reihe des Berliner Kinos Arsenal zu den Tauwetter-Jahren des sowjetischen Kinos. Für den Filmdienst unterzieht Joachim Valentin Lars von Triers "Antichrist" einer theologischen Re-Lektüre. Besprochen werden Josh Greenbaums Komödie "Doggy Style" (Standard, Filmdienst), Charly Hübners "Sophia, der Tod und ich" (Welt), Stephen Frears' "The Lost King" (TA) und die neue "Star Wars"-Serie "Ahsoka" (Tsp).
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Literatur

Tobias Lehmkuhl berichtet in der FAZ von der Eröffnung der Berliner Dependance des S. Fischer Verlags in fußläufiger Nachbarschaft zum Suhrkamp Verlag, der im Schatten der Volksbühne heimisch geworden ist. "Man kann sich zum Mittagessen treffen und tut das in Zukunft bestimmt auch. ... Darum gehe es ja, sagt Oliver Vogel: an dem Ort zu sein, wo das literarische Netz 'am dichtesten gewebt ist', dort, wo zufällige und spontane Begegnungen vor allem mit Autorinnen und Autoren möglich und an der Tagesordnung sind."

Außerdem: Luca Vazgec erzählt in der FAZ von seiner Reise nach Višegrad mit Ivo Andrićs "Die Brücke über die Drina" im Gepäck. Andreas Bernard von der SZ lässt es sich in Paris in der Brasserie Bofinger an der Place de la Bastille, Roland Barthes' Lieblingsrestaurant, gut gehen. Besprochen werden unter anderem Angelika Klüssendorfs "Risse" (FR), Susanne Stephans "'Der Held und seine Heizung'. Brennstoffe der Literatur" (online nachgereicht von der FAZ), Richard Fords "Valentinstag" (Tsp) und Jan Peter Bremers "Nachhausekommen" (Tsp).
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Bühne

Christiane Lutz berichtet in der SZ von einer Beauvoir-Lesung bei den Salzburger Festspielen. Die Staatsoper Berlin will nach einem Gespräch mit Anna Netrebko trotz einer Petition an der Mitwirkung der Sopranistin in Verdis "Macbeth" festhalten, meldet Michael Maier in der Berliner Zeitung: "Sie habe 'sowohl durch ihr Statement als auch durch ihr Handeln seit Kriegsausbruch eine klare Position eingenommen und sich distanziert'", erklärte demnach Intendant Matthias Schulz. (Unser Resümee zur Kritik an Netrebko.)

Besprochen werden eine kurze Performance von Florentina Holzinger auf dem Parkplatz am Berliner Olympiastadion (taz), hansjannas Stück "Bauchgefühl", aufgeführt von dem inklusiven Thikwa-Ensemble Berlin (nachtkritik) und Ulrike Schwabs Inszenierung der Strauss-Oper "Frau ohne Schatten" in der Neuköllner Oper (nmz).
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Design

Ines Doujak, Foto aus der Performance Fires, 2011

Critical Consumption - klar, auf jeden Fall, nickt in der FAZ Hannes Hintermeier, inspiriert von einer kritischen Modeausstellung im Wiener MAK. Mit der Botschaft kann er sich anfreunden, allein die Umsetzung fällt schwer. Die Ausstellung "predigt einen 'hedonistischen Minimalismus', also in der Praxis einen sehr bewusst gefüllten Kleiderschrank mit wenigen, gut kombinierbaren, lange tragbaren Kleidungsstücken, im Zweifel teurer bei der Anschaffung, aber werthaltig. Kaufe nur, was du liebst, kaufe lokal, frage nach, woher die Sachen kommen, fordere Transparenz und so weiter. Doch noch wirkt Sylvie Fleurys Installation 'Acne' (2014) vertraut - ein Ensemble voller Einkaufstüten von Luxusmarken. Man muss nur vor die Tür des MAK treten, um sich in der Inneren Stadt wie in einer Liveperformance des Luxus und der Moden wiederzufinden."
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Musik

Thomas Fasbender resümiert in der Berliner Zeitung das neue Festival Kalit23 in der Uckermark. Kevin Goonewardena verabschiedet sich in der taz von Fettes Brot, die in den kommenden Tagen ihre letzte Konzert geben. Diviam Hoffmann porträtiert für die taz die Berlin-Hamburger Indieband Erregung Öffentlicher Erregung, die mit "Speisekammer des Weltendes" gerade ein neues Album veröffentlicht hat.



Besprochen werden ein Classic-Rock-Album von Carl Carlton und die Melanie Wiegmann (SZ) sowie das neue Album vom Burna Boy (Standard).
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Kunst

Caspar David Friedrich, Mann und Frau beim Betrachten des Mondes, um 1824. Alte Nationalgalerie Berlin


In der NZZ ist Franz Zelger sehr zufrieden damit, wie die große Caspar-David-Friedrich-Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur den Einfluss von Künstlern der Romantik auf Friedrich ausleuchtet: "Vom Mond beschienene Nachtlandschaften gehören zu den wichtigsten Bildfindungen des Niederländers Aert van der Neer. Es sind Gemälde voller Poesie, etwa die "Kanallandschaft mit Mondschein": Die Beleuchtung durch den Mond, dessen Reflexe sich im Wasser spiegeln, ist atmosphärisch subtil wiedergegeben. Der dunkle Vordergrund evoziert nächtliche Stille, Bewegung herrscht nur am wolkigen Himmel. Beliebte Stimmungsträger sind die Sonnenauf- und -untergänge, wie sie sich beim französischen Barockmaler Claude Lorrain in großer Zahl finden. Nach seinem Freund Carl Gustav Carus, Arzt, Naturphilosoph und Maler, sind Friedrichs Bilder Visualisierungen 'einer gewissen Stimmung des Gemütslebens durch die Nachbildung einer entsprechenden Stimmung des Naturlebens'. Das heißt, die Natur wird bei Friedrich zur Projektionsfläche menschlicher Empfindungen, ihre Darstellung geht über das Sichtbare hinaus."

Eine Ausstellung über Kolonialismus im Museum Zeche Zollern in Dortmund soll Samstags von 10 bis 14 Uhr nur für Schwarze und People of Color geöffnet sein, berichtet in der NZZ Fatina Keilani: "Was 'weiß' sei, erklären die Ausstellungsmacher ebenfalls: Es handle sich beim Weißsein um ein soziales Konstrukt mit Privilegien, nicht um eine Hautfarbe." Heißt das, auch BIPoC oder Schwarze können unter Umständen weiß sein, fragt sich der verdutzte Leser. "Die Ausstellung soll laut Eigendarstellung eine Art Werkstatt sein, in der 'Besucher:innen gemeinsam mit Gästen aus Zivilgesellschaft, Kunst und Wissenschaft die Spuren und Folgen des Kolonialismus' erkunden und Ideen entwickeln sollen. Aber wäre es dann nicht gerade sinnvoll, dass Personen aller Hautfarben und Biografien dies gemeinsam tun, um sich als Mitglieder der Menschheit schwierigen Aspekten der gemeinsamen Geschichte zu stellen?", überlegt Keilani.

Weiteres: In der Welt schreibt Hans-Joachim Müller den Nachruf auf Pablo Picassos Sohn Claude Ruiz-Picasso. In der SZ informiert Cornelius Pollmer über den Stand des geplanten Leipziger Einheitsdenkmals (es tut sich wenig). Besprochen werden die Retrospektive "Fantasiefabrik" der österreichisch-schweizerischen Künstlerin Elisabeth Wild im Museum für Moderne Kunst Wien (taz) sowie "Stellung beziehen - Käthe Kollwitz. Mit Interventionen von Mona Hatoum" im Kunsthaus Zürich (Welt) und eine Ausstellung mit Druckgrafiken von Picasso, Matisse, Miró, Chagall zu Ehren des Kunsthändler Ambroise Vollard im Museum Folkwang in Essen (SZ).
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