Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen dem Oben und Unten

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21.09.2023. So kann man Identitätsfragen auch auf die Bühne bringen: mit Leichtigkeit, staunt die FAZ in Yasmina Rezas Pariser Inszenierung ihres neuen Stücks "James Brown benutzte Lockenwickler". Der Tagesspiegel erwartet sich von der Findungskommission für die neue Berlinale-Leitung genau gar nichts. Die Zeit bewundert in Düsseldorf die Filmarbeiten des britischen Künstlers Isaac Julien, der Politik und Schönheit radikal vereint. Tagesspiegel und Filmdienst versinken in "Music for Black Pigeons", einer Doku über den dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro und seine Kollaborateure.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2023 finden Sie hier

Kunst

Isaac Julien, Freedom / Diasporic Dream-Space No. 1 (Once Again...Statues Never Die, 2022, © Isaac Julien Courtesy the artist and Victor Miro


In der Zeit stellt Heinz-Peter Schwerfel den 1960 geborenen britischen Künstler Isaac Julien vor, dem die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf gerade eine Retrospektive widmet. Schwarz und schwul, ist Julien politisch, auch in seiner Kunst, aber Schönheit und Ästhetik sind ihm mindestens ebenso wichtig, was eine angemessene Würdigung bis jetzt verhindert hat, erklärt Schwerfel. "Unbeirrt setzt er seine Gratwanderungen zwischen Kino und Kunst, Malerei und Video, Politik und Ästhetik des Schönen fort, und er findet dafür 2007 in 'Western Union: Small Boats' [hier ein Eindruck] einen neuen, radikalen Ausdruck: Auf bis zu zehn Leinwände wird die Erzählung aufgeteilt und zerstückelt. Wortlos, nur mit sorgfältig komponierten Bildern sowie der Körpersprache des kanadischen Choreografen Russell Maliphant und seiner Truppe, zeigt Julien die Armut auf Sizilien, die Dekadenz der Adelspaläste, interessiert sich aber vor allem für die vielen unterschiedlichen Einflüsse, aus denen die sizilianische Kultur entstand. Das Kino Viscontis taucht bei ihm auf, und schließlich gelangt er nach Lampedusa, wo bis heute die Migranten, aus Afrika kommend, in ihren Nussschalen anlanden. Aus Platzgründen muss die Düsseldorfer Ausstellung auf einige der großen Multikanal-Arbeiten wie 'Western Union: Small Boat' oder 'Ten Thousand Waves' [hier ein Eindruck] verzichten, zeigt diese aber zumindest in Drei-Kanal-Versionen. Daneben gibt es die frühen Filme der Achtzigerjahre zu sehen und jüngere, das Thema der Blackness wieder aufgreifende Werke wie die Zehn-Kanal-Installation 'Lessons of the Hour'."

Weiteres: Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin erhalten den Friedenspreis für Fotografie, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Besprochen wird eine archäologische Ausstellung über die Felsgräber bei Assuan "Geplündert - geschunden - gerettet (?). Die Gräber der Qubbet el-Hawa Nord" im Neuen Museum Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Andreas Busche vom Tagesspiegel fällt aus allen Wolken, als sein Blick auf die Zusammensetzung der Findungskommission fällt, die in den nächsten Monaten einen neuen Intendanten für die Berlinale aus dem Hut ziehen soll: Die Zusammensetzung "zeugt von einem Höchstmaß an Einfallslosigkeit", kritisiert er. "Roth sagte vergangene Woche, dass die Berlinale ihrem Anspruch gerecht werden soll, 'das größte Publikumsfestival und ein politisches Filmfestival zu sein'. Letzteres gelingt jedoch nicht per Dekret, es braucht schon eine Vorstellung davon, wie sich das Kino künftig gegenüber anderen Erzählformen mit Bewegtbildern behaupten soll. Vielmehr besteht die Gefahr, dass künftig eher inhaltliche denn künstlerische Kriterien bei der Filmauswahl angelegt werden - von 'Fachleuten', die 'Im Westen nichts Neues' schon für politisches Kino halten."

Arm ist Berlin weiterhin, aber dafür auch nicht mehr so richtig sexy: Klaus Wowereit in "Capital B" (Arte)

Wie konnte die Aufbruchstimmung in Berlin unmittelbar nach der Wende derart versickern? Dieser Frage geht Florian Opitz in seiner von Arte online gestellten Doku-Serie "Capital B - Wem gehört Berlin?" nach, für die er nicht nur bemerkenswertes Archivmaterial zusammengestellt hat, sondern tatsächlich auch viele der Verantwortlichen für Interviews vor die Kamera bekommen hat. ZeitOnline-Kritiker Matthias Dell kann die Reihe nur empfehlen: "Die Serie führt vor Augen, wie aus der korrupten CDU-Finanzwirtschaft des Bankenskandals, in dem die steuerzahlende Allgemeinheit ein paar Investoren Gewinne garantierte, ein riesiges Haushaltsdefizit entstand. Das wurde ab 2001 unter Klaus Wowereit (SPD) und seinem Finanzsenator Thilo Sarrazin beseitigt durch harte Sparpolitik, etwa in der heute als dysfunktional bekannten Verwaltung, und durch den Ausverkauf von einst landeseigenem Wohnraum. Letzterer ist seit der Finanzkrise von 2009 zum bevorzugten Spekulationsobjekt von global 'entfesselten Anlagekapital' (Stadtsoziologe Andrej Holm) geworden, der die Wohnungsfrage zu einem der drängendsten Probleme der einst so bezahlbaren Hauptstadt gemacht hat. Es ist eindrucksvoll, wie es der Serie gelingt, bei aller Komplexität der Vorgänge elegant Verbindungen zwischen dem Oben und Unten zu schaffen. Von Sarrazins Sparpolitik geht es zu einem dadurch prekär gewordenen Mädchentreff in Neukölln." Für den Tagesspiegel bespricht Claudia Reinhard die Dokuserie.

Weitere Artikel: Daniel Imwinkelried blickt für die NZZ nach Österreich auf den Wirbel, den dort eine ganze Flut von Porträtfilmen über Sebastian Kurz ausgelöst hat - wobei ein offenbar besonders werbeträchtig gestalteter Film auch wegen seiner ungeklärten Finanzierung Spekulationen darüber nährt, aus wessen Geldbeutel die Mittel dafür geflossen sein könnten: "Die Macher von 'Kurz. Der Film' bestreiten jedoch, dass der Film vom ehemaligen Kanzler mitfinanziert worden sei." Diese Woche geht ein weiterer Film über Kurz online, meldet außerdem Valerie Dirk im Standard. Diese spricht im Standard außerdem mit Senta Berger, die aktuell in Rainer Kaufmanns Ehedrama "Weißt Du noch" im Kino zu sehen ist. In der NZZ stellt Urs Bühler Maja Hoffmann vor, die am Mittwoch zur neuen Präsidentin des Locarno Film Festivals gewählt wurde. In der SZ gratuliert David Steinitz dem Hollywood-Produzenten Jerry Bruckheimer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Paul B. Preciados Essayfilm "Orlando" (Perlentaucher, Zeit), Michael Chaves' Horrorfilmsequel "The Nun" (Perlentaucher), der Dokumentarfilm "Vergiss Meyn Nicht" über den bei den Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst ums Leben gekommenen Journalisten und Aktivisten Steffen Meyn (taz, FR), Harald Pulchs und Ralf Otts Dokumentarfilm "Oskar Fischinger" über den deutschen Animations- und Experimentalfilmpionier (FR), die DVD-Ausgabe von Christine Kuglers und Günter Kurths "Kalle Kosmonaut" (taz), die Wiederaufführung von Hou Hsiao-hsiens "Millennium Mambo" aus dem Jahr 2001 (SZ), der neue Teil der Actionreihe "Expendables" (Standard), Eric Besnards Komödie "Die einfachen Dinge" (SZ),  und die Netflix-Serie "Liebes Kind" (FR). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Bühne

"Celine" tanzt. Foto: Ann Ray, Theatre La Colline


So kann man Identitätsfragen auch auf die Bühne bringen: mit Leichtigkeit, staunt FAZ-Kritiker Marc Zitzmann im Pariser Colline Theater, wo Yasmina Reza ihr neues Stück "James Brown benutzte Lockenwickler" inszeniert hat. Es geht um einen jungen Mann, Jacob, der sich so mit Celine Dion identifiziert, dass er glaubt sie zu sein. Seine Eltern bringen ihn in eine psychiatrische Klinik, wo er einen anderen jungen Mann trifft, Philippe, der - obwohl weiß - glaubt schwarz zu sein. "Das kleine Wunder: Die beiden haben einander gefunden. 'Céline' (ohne jede Schmiere, vielmehr mit leuchtender Ausgeglichenheit die Normalität des Anormalen vorlebend: Micha Lescot) weiß zu schätzen, dass der Student sie trotz ihres Ruhms wie einen gewöhnlichen Menschen behandelt. Philippe wiederum (zwischen kindischem Trotz und dünnhäutiger Haarspalterei: Alexandre Steiger) wird besänftigt durch den frankokanadischen Frohmut der 'Sängerin' und die Dämpfer, die diese immer wieder seinem Verfolgungswahn aufsetzt. Ein exotisches Bäumchen, das beide verbotenerweise in den Park pflanzen, versinnbildlicht - eine Spur zu vordergründig - die Identitäts- und auch Immigrationsproblematik, die dem Stück zugrunde liegt. Wird das krumme Gewächs in Frankreichs Erde gerade wachsen? Und was, wenn es sich um eine invasive Spezies handelt?"

Nina Hoss als Dostojewski in Barbara Freys "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" in der Zeche Zollverein / Ruhrtriennale. Foto: Matthias Horn


In der Zeche Zollverein sehnt sich nachtkritiker Martin Krumbholz nach einem Wodka, während er zuhört, wie Nina Hoss als Dostojewski zu beweisen sucht, "dass das Leben sinnlos ist (auch Beckett hat Dostojewski gelesen), und das auf höchstem intellektuellen Niveau. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass es ihm gelingt."

Weitere Artikel: Wiebke Hüster berichtet in der FAZ von einer BBC-Dokumentation über Missstände an Englands großen Ballettschulen: "In der Hauptsache geht es bei den Gemeinheiten und Herabsetzungen um das Körpergewicht und Aussehen der jungen Tänzer. Körperliche Veränderungen, die oft mit Beginn der Pubertät einsetzen, werden nicht willkommen geheißen oder wenigstens toleriert, sondern geächtet." Manuel Brug schreibt in der Welt den Nachruf auf den Heldentenor Stephen Gould.

Besprochen werden Lydia Steiers Inszenierung von Verdis "Don Carlos" am Grand Théâtre in Genf (NZZ), Hans Werner Henzes "Das Floß der Medusa" im Flughafen Tempelhof in Berlin (taz) und Benedikt von Peters Inszenierung der "Walküre" in Basel (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Derzeit häufen sich in der deutschsprachigen Literatur Romane, die ums Verhältnis zur eigenen Mutter kreisen, fällt Gerrit Bartels im Tagesspiegel auf. Aber ob nun Sylvie Schenks "Maman", Maxim Billers "Mama Odessa" oder Wolf Haas' "Eigentum": "Es ist das Schöne an der Literatur, an diesen Büchern, dass sie sich kaum wirklich zu einem Trend zusammenfügen lassen, dass ihre jeweiligen Zugänge völlig andere sind. Liebeserklärungen, Milieustudien, Migrationsgeschichten, Herkunftsvergewisserungen. Vieles kommt darin zusammen."

Weitere Artikel: In der Zeit freut sich Adam Soboczynski, dass die Jury des Deutschen Buchpreises mit Ausnahme von Terézia Mora fast ausschließlich jungen literarischen Stimmen eine Bühne bietet - schon die Longlist (hier zum Stöbern) war dadurch aufgefallen. Ebenfalls in der Zeit hat Alexander Cammann kein Problem mit Romanen über die DDR, die von nicht-ostdeutschen Autoren geschrieben werden. Und der Autor Anatol Regnier fühlt am Bodensee den Boden schwanken - wie 1927. Tilman Spreckelsen (FAZ) und Christine Knödler (SZ) gratulieren dem Kinderbuchautor Klaus Kordon zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Julian Schuttings Tagebuch "Auf vertrauten Umwegen" (Standard) und Terézia Moras "Muna" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Katharina J. Cichosch besucht für die taz die Ausstellung "Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main.
Archiv: Architektur

Musik

Zeigt, was im musikalischen Austausch geschieht: "Music for Black Pigeons"

Jørgen Leths und Andreas Koefoeds Dokumentarfilm "Music for Black Pigeons" über den dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro und dessen zahlreiche Mitstreiter sollte man sich vielleicht nicht unbedingt wegen der Testimonials ansehen, meint Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: "Das Stockende und Verstummende der Auskünfte (...) dient vielmehr dazu, den Blick auf die materielle Ereignishaftigkeit und das Drumherum von Jakob Bros Musik zu rechtfertigen. Das Klicken seiner Effektgeräte, die im Flugzeug schnell hin- und hergereichten Notenskizzen, die Begrüßungsrituale im Studio, Motians geradezu täppische Beckenakzente, Palle Mikkelborgs Trompetenventile, das Stimmen von Midori Takadas Trommelfellen vor dem Auftritt im Berliner Pierre Boulez Saal: Die Kamera beobachtet das alles mit einem Geschick, das im rhythmisierten Schnitt zu spiegeln versucht, was im musikalischen Austausch passiert." Auch Filmdienst-Kritiker Ulrich Kriest fand bestrickend, wie entwaffnend offen der Film mit den porträtierten Menschen umgeht. Der ganze Film handele "vom Fluss des Lebens ... und von bekannten Musikern, die selbst staunen müssen, wenn sie erzählen, dass sie ihr ganzes Leben lang wenig mehr und doch kaum weniger als 'nur' Musik gemacht haben."

Weitere Artikel: Tim Caspar Boehme resümiert in der taz die letzten Konzerte des Musikfests Berlin. Ane Hebeisen wirft für den Tages-Anzeiger einen Blick auf den aktuellen Hype um den Schweizer Rapper Jule X. In der Zeit versucht Jolinde Hüchtker mit hochernster Miene zu verstehen, wie Taylor Swift zum erfolgreichsten Popstar der Gegenwart wurde und kommt zu dem Ergebnis, sie sei "eine Art Angela Merkel des Pop". Und Ulrich Stock schreibt in der Zeit einen Nachruf auf den Jazzproduzenten Jost Gebers.

Besprochen werden Björks Auftritt in Wien (Standard) und der Auftakt von Helene Fischers fünfteiliger Konzertserie in Zürich (NZZ).
Archiv: Musik