Efeu - Die Kulturrundschau

Endlich wieder Menschenopfer in Athen!

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09.10.2023. Die FAZ erlebt ein "Maximum an künstlerischer Originalität" in der Werkschau des georgischen Malers Niko Pirosmani, die die Fondation Beyeler ausgerichtet hat. Die NZZ bewundert im Strauhof Zürich wilde, anarchische und bösartige Kinder - . zumindest in der Literatur. Die nachtkritik hat wenig Freude an Tina Laniks Inszenierung von Nino Haratischwilis "Phädra, in Flammen": zu viel Herzschmerz. Die taz stellt die ukrainische Modedesignerin Irina Dzhus vor. Die FAZ verneigt sich vor dem Bluesmusiker John Fahey.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.10.2023 finden Sie hier

Kunst

Niko Pirosmani: "Eisenbahnzug in Kachetien". Georgisches Nationalmuseum Tbilissi @ Infinitart Foundation


Nur wenig weiß man über den Maler Niko Pirosmani, selbst in seinem Heimatland Georgien, erzählt Tilman Spreckelsen in der FAZ. Aber das Interesse an seiner Kunst wurde seit seinem Tod 1918 immer größer, jetzt zeigt die Fondation Beyeler eine Werkschau Pirosmanis und Spreckelsen erkennt ein "Maximum an künstlerischer Originalität" in den Bildern dieses Außenseiters, der in Armut lebte und starb und sein Handwerk als Schildermaler für Wirtshäuser erlernte: "Auch die Jahre zwischen 1890 und 1893, die er als Bremser für die Transkaukasische Eisenbahn verbrachte und zwischen dem Schwarzen Meer und Baku hin und her fuhr, hatten Einfluss auf sein Werk, am deutlichsten vielleicht in einem hier leider nicht gezeigten Bild der Bahnhofsgegend von Batumi. Dafür ist der prächtige 'Eisenbahnzug in Kachetien' zu sehen, eine Lokomotive mit vier Waggons, leuchtende Fenster, Silhouetten der Reisenden, im Hintergrund der Vordergrund und vorne überdimensionierte Weinschläuche, Fässer und Amphoren in einer sonst fast leergeräumten flächigen Ebene - selbst die Schienen hinter dem letzten Wagen sind vom Untergrund verschluckt, während der Lokschornstein Feuer und Rauch in den Himmel spuckt. Wie oft im Werk Pirosmanis sind die Protagonisten ganz Bewegung, was hinter ihnen liegt, ist nicht mehr von Bedeutung."

Weitere Artikel: Lutz Mauersberger begibt sich für die Berliner Zeitung auf Spurensuche nach der jüdischen Malerin Eugenie Fuchs, die im KZ Auschwitz ermordet wurde. Und Ulrich Seidler stellt die Fotografen Sven Johne und Falk Haberkorn vor, die in kommunalen Archiven nach Spuren des Industriecrashs nach dem Ende der DDR gesucht und keine gefunden haben.

Besprochen werden Julian Röders Fotoprojekt "Berlin nach 89" (BlZ) sowie die Ausstellungen "Alles auf einmal: Die Postmoderne, 1967-1992" in der Bonner Kunsthalle (Zeit online, FR, SZ), "Digital Dada" sowie "Staub & Pioniere" im Kunstverein Wolfsburg (taz), "Ocular Witness - Schweinebewusstsein" im Sprengel-Museum Hannover (SZ), die letzte Ausstellung von Barbara Müller-Kageler in der Galerie Knauber (Tsp) und "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Künstlerische Zeugnisse von Krieg und Repression" im Brücke-Museum und Schinkel-Pavillon in Berlin (die zur Überraschung von SZ-Kritiker Kito Nedo den Ukrainekrieg ausblendet).
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Literatur

An "wilden, anarchischen und bösartigen Kindern" herrscht in der Literatur kein Mangel, schreibt Léonie C. Wagner in der NZZ, doch sind sie allesamt Erfindungen erwachsener Menschen. Eine Ausstellung im Strauhof in Zürich widmet sich nun diesem Topos und führt dabei auch tief in die Geschichte der Kindheit. Diese ist seit dem 18. Jahrhundert vor allem eine Geschichte pädagogischer Interessen und Maßnahmen, während zugleich "ein ganzes Spektrum an Kinderliteratur entstand, das sich vor allem für die Kehrseite der Erziehungsliteratur interessierte: verstörende kindliche Fantasiewelten, magisches Denken, ungezügelte Kreativität und anarchische Freiheit. ... Das 'böse Kind' bleibt also unheimlich. Noch immer repräsentiert es die Grenzen der Allmacht. Heute steht es vielleicht für das, was selbst die Helikoptereltern nicht in den Griff bekommen können. Gerade in einer Zeit, in der schon von Kindern erwartet wird, wie kleine Erwachsene auf eine hoch komplexe Welt einzugehen, ist die Ausstellung ein fantastisches Plädoyer für das Ungezügelte."

Weitere Artikel: Thomas Oberender führt in der Berliner Zeitung durch das Schaffen des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers Jon Fosse. Andrea Pollmeier berichtet in der FR von der Shortlist-Lesung zum Deutschen Buchpreis in Frankfurt. Julia Habernagel hat für die taz die Trauerveranstaltung in der Berliner Volksbühne für den Underground-Dichter Bert Papenfuß besucht.

Besprochen werden unter anderem Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" über den Filmregisseur G.W. Pabst (taz, TA), Angelika Klüssendorfs "Risse" (Standard), Matthias Glaubrechts Biografie über Adelbert von Chamisso (Tsp), Mikkel Sommers Comic "Karate Police" (Zeit), Juliane Pickels "Rattensommer" (online nachgereicht von der FAZ) und Peter Sloterdijks Tagebuch "Zeilen und Tage III" aus den Jahren 2013 - 2016 (SZ).
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Bühne

Szene aus "Phädra, in Flammen" am Akademietheater der Wiener Burg. Foto: Marcella Ruiz Cruz


Am Wiener Burgtheater hat Tina Lanik Nino Haratischwilis "Phädra, in Flammen" inszeniert. Sehr verhalten, dennoch schrammt sie nur knapp an der Seifenoper vorbei, seufzt nachtkritiker Martin Thomas Pesl: "Slogans, die ein Aufstehen gegen rechts beschwören, schreien einen da in schwarzen Lettern auf rotem Grund an. Thematisch passt dieser Abend ausnahmsweise genau ins Programm, zumindest dem dramaturgischen Aufbau nach. Denn Panopeus erfährt von den Umtrieben der beiden Frauen und schlägt daraus prompt Kapital für seine religiös fundamentalistischen Pläne: Endlich wieder Menschenopfer und Hetzjagden in Athen! Über seine Gesamtlänge betrachtet gerät das Politische des Abends dann aber doch stark ins Hintertreffen: Häusliches und Herzschmerz dominieren den Dialog." Bald schon fühlt sich Pesl "im Groschenroman, wenn eine Off-Stimme nicht nur die Mondphase zu Beginn jeder Szene beschreibt, sondern auch die Gefühlslage der Hauptfigur."

Phädra verliebt sich in Haratischwilis Fassung nicht in ihren Stiefsohn, sondern in ihre künftige Schwiegertochter. An Rechtsradikalismus hatte die Autorin weniger gedacht, bekennt sie im Gespräch mit der SZ: "Für mich geht es um das Private, das politisch wird, und darum, wann ein privates Leben zum Machtinstrument wird - so, wie gleichgeschlechtliche Liebe in Georgien immer wieder missbraucht wird. Ich habe das Stück selbst vergangenes Jahr in Tiflis inszeniert."

Weitere Artikel: In der FR berichtet Marcus Hladek vom Solocoreografico-Festival im Gallus-Theater Frankfurt.

Besprochen werden Elsa-Sophie Jachs Inszenierung von Sartres "Fliegen" am Residenztheater München (nachtkritik, SZ), die Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs "Bondi Beach" in der Inszenierung von Schirin Khodadadian am Stadttheater Ingolstadt (nachtkritik), Jan Neumanns "kurz&nackig - Staatstheater Mainz" (nachtkritik), Klaus Nomis Hommage an die Callas an der Staatsoper Berlin (BlZ), Annette Paulmanns Lena-Christ-Solo "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst" an den Münchner Kammerspielen (SZ), Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung von Shakespeares "Sturm" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Anna-Sophie Sattlers Inszenierung von Wedekinds "Lulu" im Kulturhaus Frankfurt (FR), Volker Löschs Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper" Staatsschauspiel Dresden (taz) und drei Choreografien, mit denen die neue Ballettdirektorin Cathy Marston ihren Einstand in Zürich gab (NZZ).
Archiv: Bühne

Design

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Marina Razumovskaya befasst sich in der taz mit der neuen Kollektion "Thesaurus" der ukrainischen Designerin Irina Dzhus. Diese wirken zunächst wie "Verhüllungen, schwer und schützend. Aber sobald man sie berührt, merkt man, wie leicht die Stoffe in Wirklichkeit sind. Es sind schwerelose Outfits, oft einfarbig, viele Materialien haben beschichtete Oberflächen. Reihen eingesetzter Reißverschlüsse mit dazwischengelegten Falten vermitteln den Eindruck eines gestreckten Akkordeons und verschaffen dem Körper Freiheit: für eine Metamorphose der gesamten Silhouette, eine langsam entfaltbare Plastik, eine tonlose Musik des Körpers. ... Hauptgedanke der Kollektion seien die radikalen innerlichen Veränderungen des Menschen, ausgelöst durch die Erfahrung des Krieges, erklärt die Ukrainerin: 'Die Leute, die jetzt während des Krieges aus der Ukraine geflohen sind, haben auch im Inneren eine Transformation erlebt.'"
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Stichwörter: Mode, Dzhus, Irina

Film

Die Netflix-Serie "Fauda"

"Überholt hier die Fiktion die Realität oder die Realität die Fiktion", fragt sich Joachim Huber im Tagesspiegel mit Blick auf den brutalen Angriff der Hamas auf Israel, denn "wer 'Fauda', die israelische Serie, die seit vier Staffeln bei Netflix läuft, verfolgt, der kann von den brutalen Ereignissen nicht wirklich überrascht sein. ... 'Fauda' zeigt, dass die Terrorbekämpfung dem Kampf gegen eine Hydra gleicht. Wird mit riesigem Einsatz und unter Billigung unschuldiger Opfer auf beiden Seiten ein Terroranführer eliminiert, ist schon Stunden später sein Nachfolger da. Ein Kampf im kleinen wie im großen Maßstab. Es herrschen nie allein Gut und Böse, es herrschen die Dämonen, die die Menschen in diesem Konflikt beherrschen."

Außerdem: Das Erste sollte seine Qualitätsprodukte nicht ständig im Spätprogramm versenken, sondern stolz zur Primetime präsentieren, findet Tagesspiegel-Medienexperte Markus Ehrenberg nach dem Quoteneinbruch der aktuellen "Babylon Berlin"-Staffel im linearen Programm (in der ARD-Mediathek lief sie allerdings ziemlich gut). Christiane Peitz empfiehlt im Tagesspiegel dem Berliner Publikum das Menschenrechts-Filmfestival und das Kurdische Filmfestival.

Besprochen werden Heinz Strunks Amazon-Serie "Last Exit Schinkenstraße" (taz) und Mike Flanagans Netflix-Serie "Der Untergang des Hauses Usher", die die gleichnamige Vorlage von Edgar Allan Poe in die Gegenwart der Opioidkrise in den USA verlegt (online nachgereicht von der FAS).
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Musik

FAZ-Kritiker Karl Bruckmaier dankt dem Label Drag City dafür, John Faheys späte Aufnahmen "Proofs & Refutations" über 20 Jahre nach dessen Tod endlich verfügbar gemacht zu haben. Fahey, ein verarmter Blues-Archivar, der gegen Ende seines Lebens am Blues selbst zu zweifeln begann, ist hier im Kampf mit sich selbst zu hören: "Fahey in einem Motelzimmer, nachdem er Jahre in einem Auto gehaust hat: Da ist nichts mehr, was an den versierten Techniker erinnert, den Epiker des Einfachen, den Guru einer ganzen Generation von Gitarristen. ... Er macht Tonbandexperimente mit seiner Stimme. Den Kuchen besitzen und gleichzeitig essen, wer wüsste es nicht, ist auch ihm unmöglich. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis man so etwas wie Gitarrenpicking zu hören bekommt, verlernt, vergessen. Und hier beginnt man zu verstehen, dass es Fahey wohl genau darum geht: All dies, was er in seinem Leben an Können und Expertise angehäuft hat, wieder zu verlernen, sich und seinem Körpergedächtnis zu verbieten, weiter John Fahey zu sein. Künstlerische Selbstverstümmelung als Rettungsversuch."



Peter Kemper freut sich in der FAZ über die Wiederveröffentlichung von Pharoah Sanders' Album "Pharoah" aus dem Jahr 1977 mit dem Stück "Harvest Time", das unter Jazzfreunden seit langem ein Heiliger Gral des Spiritual Jazz ist. Sanders selbst haderte bis kurz vor seinem Tod mit den Aufnahmen, erst der Ambientkünstler Floating Points , der 2021 mit Sanders zusammengearbeitet hat, konnte den Saxofonisten von der Güte des Stücks überzeugen, erklärt Kemper. Vom ersten Ton an "entfaltet sich eine intensive Ruhe, ein Gefühl fast überirdischen Weltvertrauens. Sanders kostet den Luftstrom seines Horns genüsslich aus, fast so als würde er den Hörer an meditativen Atem-Übungen teilhaben lassen. Gleichzeitig entsteht ein melodisches Fluidum, das völlig anstrengungslos immer weiter zu wuchern scheint. Bis auf einen kurzen Moment am Ende des Zwei-Akkord-Stücks mit seiner charakteristischen Pendel-Harmonik verzichtet Sanders hier auf seine patentierte 'Schrei-Ästhetik', mit der er das Saxophon über seine tonalen Grenzen hinaustreibt", sondern vertraut "den sanften Klanggesten seines Saxophon-Odems - hier ganz im Sinne jener archaischen 'Atemseele' gedacht, die das profane Luftholen ebenso meint wie den frei fließenden Geist."



Weitere Artikel: Moritz Marthaler wirft für den Tages-Anzeiger einen Blick auf das Phänomen der Coverbands, die sich darauf spezialisiert haben, das Repertoire einzelner Bands zum günstigen Preis auf die Bühne zu bringen. Besprochen werden die neue CD "Éventail" des Oboisten Heinz Holliger mit Aufnahmen von unter anderem Ravel und Messiaen (FAZ) und Laufeys Album "Bewitched", bei dem SZ-Kritiker Andrian Kreye ins Staunen gerät, wie gut die gerade mal 24-Jährige Jazz-Standards beherrscht, etwa "Misty" von Erroll Garner: "Die lodernde Kraft, mit der sie sich dieses Aufwallen der Frischverliebtheit aus dem Text zu eigen macht, kann durchaus in der ersten Liga mithalten."

Archiv: Musik