Efeu - Die Kulturrundschau

Der sagenhafte Siegeszug von Frauen

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06.02.2024. Die Filmbranche protestiert gegen AfD-Politiker bei der Eröffnungsgala der Berlinale, die Feuilletons diskutieren: Der Tagesspiegel gibt sich kämpferisch, die SZ kann derweil keinen Skandal entdecken und die FR rät der Branche, lieber das große Ganze im Blick zu haben. Die Musikkritiker sind völlig umgehauen von den Grammy Awards. Das ND ist hin und weg von Alois Zimmermanns Zwölfton-Oper "Die Soldaten" in Hamburg, die als unaufführbar galt. Die NZZ lässt sich von Yves Netzhammers visuellen Metamorphosen verführen. Und in der SZ erklärt die Schriftstellerin Rie Qudan, warum KI niemals hohe Literatur ersetzen kann, obwohl sie selbst auf ChatGPT zählt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2024 finden Sie hier

Film

Die Aufregung um die Berlinale, die mit ihren Einladungen an die Abgeordneten aus dem Kulturausschuss auch zwei AfD-Mitglieder auf ihre Gästeliste für die Eröffnungsgala gesetzt hat, ist groß. Von einem "großen Dilemma", spricht Mariette Rissenbeek, die Geschäftsführerin des Festivals, im Tagesspiegel-Interview. "Wir setzen uns für demokratische Grundwerte und gegen Rechtsextremismus ein und unterstützen alle Demonstrationen und Initiativen gegen rechts. Aber wir respektieren es, wenn die Kulturstaatsministerin und der Berliner Senat ihre Kartenkontingente an demokratische Mandatsträger vergeben, auch wenn sie von der AfD sind. Dass wir damit nicht die AfD gutheißen, ist ja klar." Auch Dlf Kultur hat mit Rissenbeek gesprochen.

Bereits "früher erhielten AfD-Politiker auf gleiche Weise Einladungen; dass dagegen jetzt Proteste laut werden, eröffnet eine lange überfällige Diskussion", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Die Anwesenheit von Politikern vom rechten Rand müsse man "notfalls wohl aushalten, aber man darf sie nicht ignorieren", findet er: "Es gibt, das zeigen die vergangenen Wochen, Protestformen, um deutlich Position zu beziehen - und im Rahmen der Veranstaltung selbst auch die Anwesenheit von antiliberalen Kräften zu thematisieren. Man darf der AfD die Diskurshoheit nicht überlassen." Die Sache ist gewiss "kein Skandal" und die Aufregung darum "eine Farce", findet Peter Laudenbach in der SZ. "Die Filmbranche hat aus ganz anderen Gründen Anlass, nervös auf die Umfragewerte der AfD zu blicken. Die Partei versucht über ihre Vertreter in den Gremien der Filmförderung und in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Sender Einfluss auf die Entscheider und die Finanzierung einzelner Filme zu nehmen. Und je stärker die Partei in den Parlamenten vertreten ist, desto größer könnte dieser Einfluss werden."

Die AfD ist längst im Mainstream angekommen, man kann sie nicht einfach mit Lippenbekenntnissen wegzaubern, kommentiert Julia Lorenz auf Zeit Online. Die Partei "vor den Gästen der Filmfestspiele zu verstecken, würde das Bild der gegenwärtigen deutschen Kulturpolitik schönen. Ein wenig verlogen wäre das schon. Hier allerdings offenbart sich das große Dilemma im Umgang mit den demokratisch legitimierten Demokratiefeinden von der AfD: Man möchte ihrer Erzählung, als politische Outlaws allerorts gegängelt zu werden, keine Munition durch tatsächliche Ausgrenzung liefern - was häufig dazu führt, das demokratische Protokoll zu ihren Gunsten auszulegen und sie selbst dann nicht auszuladen, wenn man nicht gegen geltendes Recht, sondern nur die Regeln des Anstands verstoßen würde."

Der "trefflich im Klima der politischen Konfliktphase" zirkulierende Skandal um eine "protokollarische Gepflogenheit" hat der demokratischen Brandmauer gegen rechts einen Bärendienst erwiesen und der AfD ein gemachtes Bett bereitet, findet Harry Nutt in der FR: "In vielen Kommunen, in denen rechte Parteien bereits jetzt über Macht und Einfluss verfügen, sehen sich Intendanten und Kultureinrichtungen seit geraumer Zeit mit Zersetzungsstrategien einer kulturellen Revolte von rechts konfrontiert, die darauf aus ist, ehrwürdige Institutionen zu diskreditieren. Es wäre an der Zeit, sich diesen Prozessen mit Argument und Standfestigkeit zu widersetzen. Die Dämonisierung Einzelner, die sich für eine Gala schick gemacht haben, gehört nicht zur klugen Abwehr der immer abstruser werdenden Auseinandersetzungen um Kunst- und Meinungsfreiheit."

Außerdem: Josef Nagl bietet im Filmdienst einen Überblick über kommende Filmausstellungen. Besprochen werden Andrew Haighs schwules Liebesdrama "All Of Us Strangers" (Tsp) und die auf Netflix gezeigte Splatter-Anime-Serie "Blue Eye Samurai" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Die Soldaten" an der Elbphilharmonie. Foto: Daniel Dittus.

Berthold Seliger ist im ND hin und weg von Calixto Bieitos Inszenierung der Oper "Die Soldaten" von Alois Zimmermann an der Elbphilharmonie in Hamburg. Ein "faszinierendes Monster" habe Bieito da erschaffen, ein Drama über das Militär als moralisch verkommenem und übermächtigem Teil der Gesellschaft. Zimmermann folgte dem Ideal des "totalen Theaters", weiß Seliger, das alle Kunstformen miteinander verbinden will und einer ungeheuer komplizierten Partitur folgt, die ursprünglich als "unspielbar" galt: "Es ertönt eine aggressive, durch alle Instrumentengruppen stürmende, wilde Zwölftonmusik, die Holzbläser kreischen, die Streicher spielen verrückte Akkorde, die sich vom zweifachen zu einem dreifachen Fortissimo steigern, und wenn diese kakophonischen Klänge einmal abgedimmt werden, durchbrechen Vibraphon und Glocken mit Fortissimo-Aufschreien den Sound, der sich immer wieder aufs Neue auf- und abschwingt in einem furiosen Preludio. Hier wird die Fährte gelegt, die in den folgenden zwei Stunden zu harscher Brutalität führt: Diese Soldaten sind nicht nur wie bei Tucholsky 'alle Mörder', sondern sie sind ein entgleister, roher, bigotter Haufen jenseits aller Zivilität - eine barbarische Truppe eigenen Rechts, nicht nur im Krieg, sondern gerade auch im 'zivilen' Dasein." Seliger weist dankend daraufhin, dass die Veranstalter die komplette Oper in einem Stream zu Verfügung stellen.

Weiteres: Manuel Brug stellt in der Welt fest, dass in deutschen Theatern Operette, Musical und Musiktheater den Publikumsgeschmack treffen, obwohl sich die Feuilletons für diese Genres wenig interessieren.

Besprochen werden Benedict Andrews Inszenierung von Tschaikowskys Oper "Pique Dame" in der Bayerischen Staatsoper (FAZ, SZ), Kornél Mundruczós Inszenierung von Dvořáks Oper "Rusalka" an der Berliner Staatsoper (tsp) und Guntbert Warns Inszenierung von Molières "Tartuffe" am Renaissance-Theater in Berlin (tsp).
Archiv: Bühne

Architektur

Hannes Hintermeier informiert in der FAZ über die Pläne von Chipperfield Architects Berlin für die Sanierung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg: "Der Kreuzgang wird in Ziegelbauweise ausgeführt, mit spitzbogigen Holzfenstern, einer schlichten Sichtbetondecke und einem begrünten Flachdach. Letzteres dient dazu, den Südbau von Sep Ruf nicht mehr als nötig zu verdecken. Es kommt nicht der im Bestand verwendete Sandstein zum Einsatz, sondern es sollen Ziegel verwendet werden, wenn möglich gebrauchte. Das soll auch als Reminiszenz an den Retter der Alten Pinakothek in München, Hans Döllgast, verstanden werden. Durch den Abstand zum Ruf-Bau, der mittels eines ebenfalls zu errichtenden Verbindungsbaus mit dem Kreuzgang verbunden wird, entsteht ein neuer Innenhof, welcher den Arbeitstitel 'Gartenhof' trägt. Er soll mit seinen vierhundertzwanzig Quadratmetern zu einer für Besucher zugänglichen grünen Oase werden. Insgesamt lassen die Pläne ein Bekenntnis zur Reparatur erkennen - im Zeitalter der Abrissbirne ein Ausrufezeichen."
Archiv: Architektur

Kunst

© 2024 Yves Netzhammer

Einem "Verführer der visuellen Suggestion" verfällt NZZ-Kritiker Philipp Meier im Kunstmuseum Solothurn. Der Schweizer Künstler Yves Netzhammer zieht den Kritiker mit seinen gezeichneten Metamorphosen in den Bann: "Einem solchen Sehfaden widersteht kein Auge. Wie hypnotisiert folgt man seinem Verlauf und findet sich alsbald verstrickt in einer einzigen Halluzination, aus der es kein Entkommen mehr gibt." Die Werke des Computerkünstlers sind in ständigem Wandel begriffen, staunt Meier, und zeigen jedem Zuschauer etwas anderes: "Schlangen mit Zähnen und Zungen wachsen aus Schläuchen und umgarnen menschliche Köpfe mit Schutzmasken. Aus einer Schnittwunde fliegt ein Flugzeug empor, während sich ein schwarzer Käfer durch eine Wolke frisst. Eine Heuschrecke kriecht über einen weiblichen Rücken, Beine münden in einem Schafskopf. Aus Händen tropft Blut über ein offenes Buch. Das Gesamtbild ist nicht zu erfassen. Nur Fragmente sind es, die sich hier langsam bewegen und zu einem Drama zusammenfügen, dessen Sinn und Zweck wir nie ergründen werden. Der digitale Soundtrack, mit dem Netzhammer sein bewegtes Bild unterlegt, verstärkt das Gefühl der Fremdheit und des Unbehagens wie in einem bösen Traum."

Weiteres: Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera unterhält sich mit Tom Mustroph in der taz über ihre einhundertstündige Lesung von Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge des Totalitarismus" ("Where Your Ideas Become Civic Actions"), die im Februar im Hamburger Bahnhof in Berlin stattfinden wird. Andreas Hergeth spricht, ebenfalls in der taz, mit den beiden neuen berliner Atelierbeauftragten Lennart Siebert und Julia Brodauf über die prekäre Lage der KünstlerInnen in der Hauptstadt. In der FAZ erinnert Peter Kropmanns an den Ausstellungsraum "Galerie Montaigne" in Paris, wo Auguste Rodin, Modigliani und viele andere ihre Kunst zeigten.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken von Honoré Daumier im Städel Museum in Frankfurt (tsp), die Ausstellung "Günter Fruhtrunk. Retrospektive 1952-1982" im Kunstmuseum Bonn (FAZ), zwei Ausstellungen mit Werken der Fotografin Gundula Schulze Eldowy: "Halt die Ohren steif!" in der Berliner Akademie der Künste und "Berlin in einer Hundenacht" im Bröhan Museum (FAZ), die Ausstellung "Die gerettete Moderne. Meisterwerke von Kirchner bis Picasso" im Kupferstichkabinett am Kulturforum (tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Für ihren kürzlich mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichneten Roman "Tokyo-to Dojo-to" hat Rie Qudan auch auf Chat-GPT zurückgegriffen, wie die japanische Schriftstellerin bei der Preisverleihung vielleicht etwas zu freimütig eingeräumt hat. In der internationalen Presse schlug das im Nu ziemliche Wellen, die sie in diesem Ausmaß nicht hat kommen sehen, gesteht die Autorin im SZ-Gespräch mit Christiane Lutz: Das Buch handelt selbst von einer Architektin, die eine KI konsultiert - für diese Passagen habe sie entsprechend recherchiert. Eine Gefahr für die Literatur sieht sie in ChatGPT "bis jetzt nicht. ... Was die Kunst betrifft, die in Japan als 'hohe Literatur' bezeichnet wird, glaube ich, dass sie nur von Menschen gemacht werden kann. Die Sprache wirklich ergründen und beherrschen zu wollen, ist eng mit einem menschlichen Verlangen verbunden. Und ich glaube nicht, dass Chat-GPT oder KI selbst etwas wollen kann. Deswegen ist es schwer vorstellbar, dass eine KI irgendeine Kunst beherrschen kann. ... In der Kunst gibt es doch das Verlangen, etwas grundlegend Neues zu schaffen, etwas, das noch niemand je gesehen hat."

Außerdem: Andrea Pollmeier berichtet in der FR von Zeruva Shalevs Lesung in Frankfurt. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem maorischen Schriftsteller Witi Ihimaera zum 80. Geburtstag. Die Agenturen melden, dass Akif Pirinçci wegen Volksverhetzung vom Amtsgericht Bonn zu neun Monaten Haft verurteilt wurde. Die FAZ ihre Kafka-Beilage von Ende 2023 aus "Bilder und Zeiten" als PDF online gestellt. Und das CulturMag präsentiert die Krimibestenliste mit Arne Dahls "Stummer Schrei" als Neueinsteiger auf der Spitzenposition.

Besprochen werden unter anderem Alida Bremers "Tesla oder die Vollendung der Kreise" (taz), Christine de Pizans "Das Buch von der Stadt der Frauen" (NZZ), Darja Serenkos "Mädchen und Institutionen" (Tsp), Omri Boehms und Daniel Kehlmanns Gesprächsband "Der bestirnte Himmel über mir" mit einem Gespräch über Kant (Welt), Timon Karl Kaleytas "Heilung" (SZ) und Andrea Giovenes' Romanzyklus "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Für die Musikkritik gibt es nur ein Thema: Taylor Swifts sagenhaftem Erfolg bei den Grammys - und vor allem: den sagenhaften Siegeszug von Frauen an diesem Abend, dessen Verlauf Samir H. Köck in der Presse resümiert. "Bei so viel femininer Dominanz mag man sich fragen, ob heute tatsächlich die Frauen den Mainstream-Pop beherrschen", schreibt Ueli Bernays in der NZZ. Andre Boßé von Zeit Online hat der Abend komplett umgehauen: "Pop ist gleichgebügelt? Was für ein Unsinn! Diese Grammys zeigen eine unglaubliche Qualität und Diversität - musikalisch wie optisch. Da ist Miley Cyrus mit einem Tina-Turner-Hommage-Outfit (das Haarspray, das Kleid, die Hochenergieperformance von Flowers). Dann Billie Eilish mit Kopftuch und Tweed-Jacke, Olivia Rodrigo in schlichtem, rotem Kleid, SZA als sinistres Großstadtcowgirl, wie aus einem Sci-Fi-Western entflohen. Megastar Taylor Swift erscheint wie früher in Hollywood mit langem weißem Kleid und Handschuhen, die bis zum Ellenbogen reichen. Als sie früh im Ablauf in der Nebenkategorie des besten Gesangsalbums ihren ersten Grammy des Abends erhält, den 13. ihrer Karriere, kündigt sie nebenbei, aber maximal öffentlichkeitswirksam an, am 19. April ihr neues Album 'The Tortured Poets Department' zu veröffentlichen. Wie unglaublich souverän und selbstbestimmt das alles wirkt!"

In der SZ gratulieren Jakob Biazza und Kathleen Hildebrand Taylor Swift zu dem Marketing-Coup, mal eben so einen Social-Media-Wirbelsturm um ihre Albumankündigung auszulösen: Sie "verschwand hinter der Bühne und schwupps war diese Neuigkeit in allen sozialen Medien nachzulesen. ... Überraschend hingegen mag man den Albumtitel selbst finden", denn "was sollen Taylor Swifts tendenziell weibliche, traditionell jugendliche, also 13- bis 19-jährige Fans damit anfangen?" Doch "auch wenn dieser Albumtitel erst mal nach klassischeren und deshalb von vielen als höher empfundenen künstlerischen Weihen klingen mag, ist der Gestus des an der Welt, dem Leben oder einfach nur sich selbst leidenden Künstlers natürlich durchaus einer, mit dem Teenagermädchen viel anfangen können. Vielleicht kann man sogar sagen, dass gerade sie die Zielgruppe sind für die ästhetischen Insignien, die Taylor Swift mit den 'Tortured Poets' bedient. ... Wahrscheinlich ist es nämlich so: Taylor Swift mutet ihren Fans hier nichts Neues zu, sondern weiß wieder mal ganz genau, was sie ihnen anbieten muss."

Der magischste Moment der Preisverleihung war allerdings Joni Mitchells Auftritt mit 80 Jahren, findet Michael Pilz in der Welt und staunt darüber, wie es der Branche gelingt, "auch noch im Jahr 2024, ein Musikgeschäft zu simulieren, das der Wertschöpfung von Tonaufnahmen dient, von Songs und Alben" - und dies wo doch "das Musikgeschäft seine Ware weitgehend entwertet hat". Der Rapper Killer Mike verließ erst die Grammy-Bühne mit Trophäen und dann die Veranstalung in Handschellen, berichtet Karl Fluch im Standard. Jakob Thaller (Standard) und Samir H. Köck (Presse) stellen den österreichischen Grammy-Gewinner Markus Illko vor.

Außerdem: Yelizaveta Landenberger resümiert für die taz das Berliner CTM-Festival.Die Republikaner fürchten Taylor Swifts Einfluss auf die US-Wahlen, schreibt Ji-Hun Kim im Freitag. Christian Meier wirft für die Welt einen Blick auf den Tantiemen-Konflikt zwischen Universal und TikTok, wo es - natürlich - auch um die Musik von Taylor Swift auf der Kurzvideo-Plattform geht. In der FAZ gratuliert Philipp Krohn dem Rockmusiker Al Kooper zum 90. Geburtstag.Besprochen wird die ARD-Dokuserie "HipHop - Made in Germany" (taz).
Archiv: Musik