Efeu - Die Kulturrundschau

Kunterbunter Totentanz

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23.03.2024. Im Standard verteidigt Milo Rau zwar Annie Ernaux, verurteilt den BDS aber scharf. Die NZZ ärgert sich, dass sie von Nicolas Stemann in Zürich mit Hilfe von Max Frisch zum nützlichen Idioten degradiert wird. Die FAZ entdeckt in Wien mit Broncia Koller-Pinell eine weitere zu Unrecht vergessene Avantgardistin der Kunstgeschichte. Die Berliner Clubszene hat ein massives Antisemitismusproblem, konstatiert die taz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Bild: Broncia Koller-Pinell: "Silvia Koller mit Vogelkäfig". 1907/08- Sammlung Eisenberger, Wien.

Wer zu Roy Lichtenstein nach Wien reist, sollte dringend im Wiener Belvedere vorbeischauen, rät Stefan Trinks in der FAZ. Denn dort ist mit der jüdischen Malerin Broncia Koller-Pinell eine Künstlerin zu entdecken, die zwar in Österreich "weltberühmt" wurde, aber aufgrund ihrer "stilistischen Heterogenität" zu Unrecht nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen wurde. Dabei besticht ihr Werk durch Modernität, wie etwa das 1907/08 entstandene Werk "Die Tochter Silvia mit Vogelkäfig" zeigt, "auf dem das Mädchen im leuchtend roten Kleid sich über eine weiß lackierte Voliere beugt - natürlich aufs Edelste von den Wiener Werkstätten gestaltet und mit einer Karoverschlussplatte von Josef Hoffmann auf der uns zugewandten Vorderseite versehen -, um ihre sechs bunt gefiederten Vögel darin zu bewundern. Während das Motiv mindestens seit Goya altbekannt ist, ist doch die Umsetzung erfrischend avantgardistisch - Silvias kirschrotes Kleid bleibt absolut flächig und hebt sich kontrastiv vom schwarz gefliesten Boden mit seinen weißen Mörtelfugen ab, die in Fluchtpunktperspektive nach hinten ziehen und konterkariert werden von den wesentlich enger getakteten Gitterstäben des Vogelkäfigs."

Bild: Frédéric Bazille, Fischer mit Netz, 1868. Arp Museum Bahnhof Rolandseck / Sammlung Rau für UNICEF, © Foto: Arp Museum Bahnhof Rolandseck / Sammlung Rau für UNICEF. Fotograf: Mick Vincenz, Essen.

"1863 - Paris - 1874. Revolution in der Kunst" lautet der Titel der aktuellen Ausstellung über den Salon de Paris im Kölner Wallraff-Richartz-Museum - und tatsächlich konnte man im Jahr 1874 dank der "Première exposition" von einer Revolution sprechen, die den Beginn der modernen Avantgarden markierte, erinnert Oliver Tepel in der taz. Der aktuellen Ausstellung geht es aber eher darum, den Mythos der Salonkunst zu hinterfragen, indem sie "statt der auf den Salons vielzählig gezeigten standesgemäßen Portraits, statt der Historienmalerei und des Neoklassizismus" das "keinesfalls Konservative" zeigt, das die Salons zu bieten hatten, so Tepel: "Die Zartheit Maria Magdalenas, die Pierre Puvis de Chavannes 1870 zeigte, kontrastiert mit der schroffen und bei längerer Betrachtung völlig abstrakt wirkenden Felswüste, die sie umgibt. Sein Werk sowie jene von Gustave Moreau und auch Corots düsteres 'Fest des Bacchus' weisen bereits auf den dem Impressionismus folgenden Symbolismus. Laurent Bouviers 'Ägypter' erscheint als Inspiration für die neue Sachlichkeit der 1920er Jahre, ja für die Pop-Art David Hockneys. Und Joséphine Bowes Gischt der einsetzenden Flut bei Boulogne-sur-Mer weist über ihre Nähe zum Realisten Gustave Courbet hinaus zur aufkommenden Freilicht-Avantgarde."

Eine Künstlerin auszustellen, die derart ortsgebunden arbeitet, wie die Amerikanerin Nancy Holt, ist gar nicht einfach, stellt Thomas Wochnik im Tagesspiegel fest. Und doch gelingt es der Schau "Circles of Light" im Berliner Gropius Bau vorbildlich, Holts Wahrnehmunsgkunst erfahrbar zu machen, etwa mit der Installation "Electrical System" von 1982 im historischen Lichthof: "Eine Form aus Metallrohren, die fast nur Kontur andeuten, ohne Substanz zu sein, wie die begehbare Skizze einer regelmäßigen Hügellandschaft, mit Glühbirnen an allen Knotenpunkten und Enden. Schwummrig kann einem beim Durchwandern werden, wenn die leicht blendenden Lichtquellen vor den Augen zu einem Durcheinander der Referenzpunkte verschmelzen. Was will die Künstlerin damit sagen? Nichts weiter als die Technik des Gebäudes will sie zu Wort kommen lassen."

Weitere Artikel: Helmut Mauró fasst sich in der SZ an den Kopf: Luke Syson, Leiter der britischen Fitzwilliam Museums, hat veranlasst, dass Landschaftsgemälde, etwa von John Constable, mit einer Beschilderung versehen werden, "dass Bilder von 'sanften englischen Hügeln' Gefühle von 'Stolz auf das Heimatland' wecken können. Und - das ist die dunkle Seite - dieser Stolz impliziere, dass nur Menschen mit historischer Bindung an ein Land auch das Recht auf den Besitz dieses Landes hätten. Landschaftsbilder seien grundsätzlich mit nationaler Identität verknüpft." Ebenfalls in der SZ gratuliert Till Briegleb Rebecca Horn zum Achtzigsten, in der FAZ Stefan Trinks.

Besprochen werden die Messe "Salon du Dessin" im Pariser Palais Brongiart (Tsp), die Ausstellung "Wälder - von der Romantik in die Zukunft" im Deutsches Romantik-Museum in Frankfurt, Senckenberg Naturmuseum und im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg (FAS), die Ausstellung "Joan Jonas: Good Night Good Morning" im New Yorker Museum of Art (FAS), die Ausstellung "Starcatcher" mit Arbeiten von Sebastian Hosu im Duve Berlin (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Banksy - A Vandal Turned Idol" im Berliner Kleisteck ("Das Präsentieren seiner Kunst im White-Cube-Käfig raubt seinen Werken ihr anarchisches Wesen, das sie haben, wenn man in zerstörten Städten oder gentrifizierten Nachbarschaften an ihnen vorbeiläuft - und stehen bleibt", winkt Mia Hennig von Lange in der FAS ab).
Archiv: Kunst

Literatur

Von der Leipziger Buchmesse: Tobias Rüther (FAS) und Thomas Hummitzsch (Freitag) berichten von der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse. Michael Wurmitzer gratuliert im Standard Barbi Marković, die in Leipzig in der Kategorie "beste Belletristik" für "Minihorror" ausgezeichnet wurde (mehr dazu bereits hier). Julia Hubernagel schildert für die taz ihre Eindrücke von der Leipziger Buchmesse. Ulrich Gutmair stellt in der taz das auf der Buchmesse präsentierte Literaturprojekt "Stolpertexte" vor,

Die Diskussionen um Olaf Scholz' und Frank-Walter Steinmeiers in Leipzig gehaltene Reden finden Sie in unserer Debattenrundschau.

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Außerdem: Mit ihrem Roman "Issa" möchte Mirrianne Mahn darauf aufmerksam machen, "dass man in Deutschland immer noch Deutschsein mit Weißsein verbindet", sagt die Schriftstellerin im taz-Gespräch: "Das ist in anderen europäischen Ländern nämlich nicht so", da ist "Deutschland wirklich hart hinterher", das Geschichten von Verfolgten der Nazis erzählt. Thomas Manns bislang verschollenes Original-Manuskript seiner 1943 im Auftrag der USA erstellten und bislang nur in Übersetzung vorliegenden Überlegungen zur Zukunft Deutschlands sind wieder aufgetaucht, nachdem es in den Siebzigern in der Welt des Auktionshandels verschütt gegangen ist, berichtet Dieter Borchmeyer in der NZZ. Für "Bilder und Zeiten" der FAZ porträtiert Andreas Platthaus den Schriftsteller und Illustrator Hans Traxler, der im Alter von 94 Jahren seine Bücher nicht mehr bei den Verlagen unterkriegt und sie deshalb in Eigenregie herausbringt und im Freundeskreis kursieren lässt. Leni Karrer blickt für das "Literarische Leben" der FAZ auf die Dichterin Rupi Kaur, die mit gefühligen Instagram-Gedichten weltweit populär geworden ist und seit dem 7. Oktober ihre Reichweite für Palästina-Solidarität nutzt - selbstverständlich ohne dabei auf die Rolle der Hamas einzugehen. In "Bilder und Zeiten" der FAZ erinnert Hannes Hintermeier an den Schriftsteller Claus Gatterer und dessen Roman "Schöne Welt, böse Leut'": "Wer in seinem Leben nur ein Buch über Südtirol lesen möchte, greife zu diesem." Für die WamS hat Richard Kämmerlings den Pfarrer und Dichter Christian Lehnert besucht.

Besprochen werden unter anderem Percival Everetts Roman "James", der "Huckleberry Finn" aus Perspektive des Sklaven Jim neu erzählt (NZZ), Matthias Jüglers "Maifliegenzeit" (FR), Julia Josts "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" (taz), Lucie Flebbes Krimi "Bad Business" (taz), Jakob Augsteins "Die Farbe des Feuers" (SZ) und Bodo Kirchhoffs "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der Frankfurter Anthologie schreibt Dieter M. Gräf über Marion Poschmanns "Und hegte Schnee in meinen warmen Händen":

"Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten
Bergen auf. Jetzt sind sie eingeebnet ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Biedermann und die Brandstifter". Foto: Philip Frowein

Zum Abschied hat der scheidende Intendant des Zürcher Schauspielhauses Nicolas Stemann gemeinsam mit Ko-Intendant Benjamin von Blomberg Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" inszeniert und das über allerlei Kalauer gröhlende Zürcher Publikum scheint nicht zu bemerken, dass es hier vorgeführt wird, notiert Roman Bucheli (NZZ), der sich von Stemann nur ungern zum "nützlichen Idioten degradieren" lässt. Per Videoeinspielung lässt Stemann das Schauspielhaus samt Publikum in die Luft gehen, das Publikum jubelt - und wird zu Biedermann und Brandstifter in einer Person, so Bucheli: "Nun können endlich, wie aus dem Foyer in einer Live-Schaltung mitgeteilt wird, über dreißigtausend unterirdische Parkplätze entstehen mit ein paar tausend extragroßen Parkfeldern für extragroße SUV-Fahrzeuge. Da hat Nicolas Stemann den Zürchern, diesen Theaterbanausen, die sein Theater nicht mochten, eine tüchtige Lektion in Kapitalismuskritik erteilt. Und das Publikum johlt." Die Pointe erscheint Egbert Tholl in der SZ "kindisch, beleidigt und … der Leistung dieser Intendanz nicht würdig", insgesamt aber treibt Stemann "Frisch ins Heute, es ist in den besten Momenten ein kunterbunter Totentanz der Demokratie, auch einer der Angst um die eigenen Besitzstände." "Ganz, ganz großes Theater" vor allem dank der fantastischen SchauspielerInnen sieht indes Nachtkritikerin Valeria Heintges.

Milo Rau, Chef der Wiener Festwochen, hat Annie Ernaux und Yanis Varoufakis zu Mitgliedern seines fiktiven "Rats der Republik" berufen, schnell wurde Kritik aufgrund der israelkritischen Äußerungen der beiden laut, auch der Antisemitismus-Vorwurf wurde erhoben. "Ich finde es äußerst bedenklich, dass der Begriff des Antisemitismus aktuell derart unvorsichtig benutzt, ja instrumentalisiert wird", sagt Rau im Standard-Gespräch, in dem er vor allem Ernaux in Schutz nimmt: "Ernaux ist nicht Mitglied von BDS. Aber es stimmt, Ernaux hat einige Petitionen unterschrieben, die auch von BDS-Mitgliedern unterschrieben wurden. Man muss dazusagen, dass Ernaux Französin ist. Dort hat BDS in der Israel-Palästina-Debatte die Diskurshoheit, so ähnlich, wie in Deutschland und Österreich eher die politische Rechte das Thema an sich gezogen hat. Beide Instrumentalisierungen finde ich extrem bedenklich. In Frankreich und Belgien behängen Bürgermeister ihre Parlamente mit Palästina-Flaggen, jeder zweite Künstler ist dort bei BDS. Als Intendant in Belgien wurden viele meiner Kollaborationen mit israelischen Institutionen vom BDS zerstört. Genereller Boykott ist genauso schädlich wie generelles Kritikverbot."

Weitere Artikel: In der taz blickt Ekkehard Knörer düster in die Zukunft der Volksbühne nach René Polleschs Tod: "Vieles ist denkbar, von Interimsintendant Wuttke bis Produktions- oder Tanzhaus. Nichts liegt auf der Hand. Was ganz sicher nicht hilft: der gerade allzu beachtete Text, in dem der Kritiker Peter Laudenbach in der SZ einerseits schmutzige Wäsche wäscht und andererseits seine persönlichen Vorlieben (Nicolas Stemann ja, Sebastian Hartmann nein) als der Weisheit letzten Schluss unterbreitet. (Unser Resümee) Was es vor allem bräuchte: die Einsicht, dass die alten Zeiten für immer vorbei sind."

Besprochen werden Friederike Hellers Inszenierung von Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop" am Staatstheater Mainz (nachtkritik), Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" am Zürcher Schauspielhaus, das der scheidende Intendant Nicolas Stegmann zum Abschied inszeniert (nachtkritik, SZ), Omar Abusaadas Inszenierung von Mohammad Al Attars Stück "Die Begegnung von gestern" am Theater Freiburg (nachtkritik), Kieran Joels "Parzival" nach Wolfram von Eschenbach am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik) und die Stücke "Cabraqimera" der portugiesischen Choreografin Catarina Miranda und das Stück "Tarab" der Gruppe Atash beim Festival Spring Forward am Staatstheater Darmstadt (FR) und das Festival "Update #4" am Staatstheater Mainz (FR).
Archiv: Bühne

Film

Selbst Erfolgsserien wie "Babylon Berlin" und "Das Boot" haben bei Sky "nicht zu den hohen Neukundenzahlen geführt, die ein solches Investment auf Dauer gerechtfertigt hätten", sagt Barny Mills, CEO von Sky Deutschland, im WamS-Gespräch zur Einstellung der deutschen Serienproduktion bei Sky. Im Tagesanzeiger fragt sich Pacal Blum, ob die (in der Presse besprochene) Netflix-Serie "3 Body Problem" (mehr dazu bereits hier) und die Disney-Serie "Shogun" in die Fußstapfen von "Game of Thrones" treten werden. Marc Hairapetian spricht mit Florian David Fitz über dessen auf Netflix gezeigte SF-Serie "Das Signal".

Besprochen werden Davide Ferrarios Dokumentarfilm "Umberto Eco - Eine Bibliothek der Welt" (Welt), Hirokazu Kore-Edas "Die Unschuld" (Welt, unsere Kritik), Marija Kavtaradzes "Slow" (FD, SZ), Kristoffer Borglis "Dream Scenario" mit Nicolas Cage (Tsp, Filmfitler), David Schalkos und Daniel Kehlmanns in der ARD-Mediathek gezeigte Serie "Kafka" (Presse) und die ARD-Animationsserie "Friedefeld" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Die Berliner Clubszene "hat ein massives Antisemitismusproblem", bekräftigt Nicholas Potter im taz-Gespräch, was sich nicht zuletzt in der Polarisierung der letzten Monate offen zeigt. Weite Teile der Szene äußern sich "antiisraelisch. Ich sage bewusst nicht propalästinensisch. Aber das ist eine Form von Delegitimierung des jüdischen Staats, die man als antisemitisch bezeichnen muss." Schon vor dem 7. Oktober "hat man hat ein gewisses Feindbild kultiviert und dieses war am 7. Oktober plötzlich zerbrochen." Hier herrschte "zunächst Schweigen, da hat niemand was gesagt. Bis Israel mit Luftanschlägen reagierte. Dann war das alte Feindbild wiederhergestellt. Man konnte sehr bequem alles andere ignorieren, was auf dem Supernova passierte oder in den Kinderzimmern der Kibbuzim im Süden des Landes. Man fokussierte sich allein auf die Dämonisierung Israels."

Weitere Artikel: Der Schweizer Kulturwissenschaftler Andi Schoon berichtet in der taz von seinen Archivforschungen in Südafrika zu den Komponisten Arnold van Wyk und Hubert du Plessisn, die sich einst einen unbehelligten homosexuellen Lebensstil mit der Komposition nationalistischer Musik erdealt hatten. Für die WamS plaudert Martin Scholz mit Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson, der aktuell ein Soloalbum zu promoten hat.

Besprochen werden ein neues Album von Yard Act (FR), ein von Marin Alsop dirigiertes Konzert des Radio Symphonie Orchesters des ORF (Standard), ein Auftritt von Kinga Glyk bei der hr-Bigband (FR), "Bright Future" von Adrianne Lenker (SZ), Henryk Gerickes Buch "Tanz den Kommunismus - Punkrock DDR 1980 bis 1989" (FAS) und das neue Album von Beth Dittos Band Gossip (" alles ein bisschen zu brav und glatt", seufzt Karl Fluch im Standard, "das Widerspenstige, das Ditto ins Wesen geschrieben ist, dominiert nicht mehr wie früher").

Archiv: Musik
Stichwörter: 7. Oktober, Clubszene