Essay

Alles mit Maß

Von Karl Landherr
30.09.2015. Für manche Flüchtlinge ist es wichtig, im Supermarkt die richtige Babynahrung zu finden oder zu erfahren, dass Baden im Baggersee gefährlich sein kann. Deswegen geben wir in unserem ehrenamtlich konzipiertenDeutschkurs für Asylbewerber eine erste Orientierung in einer neuen Kultur- und Sprachwelt, kein Seminar über Weltreligionen. Eine Antwort auf Eva Quistorp.
Als Mitautor des Teams "deutschkurs-asylbewerber.de" erlaube ich mir, zum Essay von Eva Quistorp eine Stellungnahme abzugeben. Ich teile in vielerlei Hinsicht die Auffassung von Eva Quistorp über die Bedeutung und Inhalte eines guten Deutschunterrichts für Flüchtlinge, der "einen Graben gegenseitiger Unkenntnis zu überwinden habe".

Persönliche Unkenntnis ist aber auch kein gutes Kriterium, um objektiv über einen Sachverhalt, beziehungsweise über unser "Heft" zu schreiben und es zu beurteilen. Frau Quistorp hat sich leider nicht die Mühe gemacht, sich vor dem Schreiben über die Ziele des Konzepts und die Motive der Autoren in der Lehrerhandreichung oder bei uns Autoren selbst zu informieren. Stattdessen listet sie eine Menge von Defiziten auf und behauptet zudem noch Unwahrheiten. Ich möchte kurz unser Konzept vorstellen und dann zu einigen Kritikpunkten Stellung nehmen:

1. Mit unserem Konzept wollen wir, dass möglichst viele Asylbewerber in ihrer Anfangszeit Deutsch lernen und gleichzeitig spüren, dass sie hier willkommen sind. Wir wollen durch unsere Angebote vor allem ehrenamtliche Deutschlehrer und Helfer in den Sprachkursen entlasten und weitere Menschen dazu motivieren, solche Deutschkurse in entspannter und freundschaftlicher Atmosphäre durchführen.

2. Es geht dabei um den Erwerb einfacher deutscher Sprachkenntnisse mit dem Schwerpunkt der mündlichen Kommunikation und um eine Erstorientierung in einer fremden Kultur- und Sprachwelt. Wir legen zunächst nur wert auf das wirklich Lebens-Notwendige. Wir erfüllen bewusst nicht die Kriterien für eine Sprachprüfung oder ein Zertifikat nach Abschluss des Deutschkurses.

3. Die Inhalte orientieren sich am Konzept "Erstorientierung und Deutsch Lernen für Asylbewerber in Bayern" des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und des Bayerischen Sozialministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration. Entwicklung und Vertrieb dieses Workbooks erfolgen durch unser Team völlig selbstständig und ohne jegliche Einflussnahme oder Förderung durch diese beiden staatlichen Institutionen.

Weil wir zu diesen Zielvorgaben beim Beginn unser ehrenamtlichen Sprachkurse für Asylbewerber keine uns passenden Lehrbücher gefunden haben, ergriffen wir die Initiative, selbst einen Deutschkurs zu verfassen und die Arbeitsblätter anderen Helferkreisen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der positiven Rückmeldungen und der großen Nachfrage vieler Helferkreise haben wir dann diese losen Blätter überarbeitet und als gebundenes Workbook herausgegeben. Durch Medienberichte (dpa, ZDF-Heute-Journal u.a.) wurde es bundesweit bekannt und ist mittlerweile vielen Helferkreisen eine wertvolle Hilfe für ihren Deutschunterricht. Es wird nicht - wie Eva Quistorp schreibt - "tausendfach in allen Flüchtlingsheimen verteilt".

Bereits der Untertitel "Workbook" und auch die Ausführungen in der Lehrerhandreichung besagen, dass es sich um ein Arbeitsbuch handelt. Es kann nicht in ca. 60-100 Unterrichtseinheiten auch wegen des anfänglichen Sprachniveaus der Asylbewerber die Inhalte eines späteren Integrationskurses vermitteln, zum Beispiel "zu erklären, was der Deutsche Bundestag, die Parteien, die Wahlen und das Grundgesetz ist." oder "den Hunderttausenden von jungen Männern zu lehren, wie man eine Frau kennen lernt, wie man sie behandelt, was Liebe ist..." oder "zu lehren, was Gewerkschaften sind, was Arbeitsdisziplin und Kollegialität bedeuten..."

Ohne Zweifel sind diese Themen wichtig. Deshalb empfehlen wir auch in unserer Handreichung den Lehrern, je nach Sprachniveau beim Thema 11 wesentliche Aussagen des Grundgesetzes zu vermitteln, beim Thema 6 über das Verhältnis von Mann und Frau und den gewaltfreien Umgang zu sprechen oder beim Thema 8 Anforderungen der Berufswelt zu erläutern. Bei unseren Sprachkursen konnten wir diese Inhalte so vermitteln, dass sie auch Simon aus Eritrea, Ruth aus Nigeria und Omar aus Syrien und verstanden. Fadouma aus Somalia hingegen war damit stark überfordert. Für sie war es zunächst wichtig, im Supermarkt (dort einzukaufen ist aber nicht im Sinne von Frau Quistorp) die richtige Babynahrung zu finden und sich an der Kasse richtig zu verhalten. Sie hat am Bild einer "nackten Männerbrust" ohne Probleme das Wort "Brust" gelernt - das Bild einer nackten Frauenbrust (wie es Frau Quistorp vorschlägt) wäre ihr wohl peinlich gewesen. Alle haben sich über das Bild unserer Bundeskanzlerin auf Seite 16 gefreut und wären wohl bei einem Vortrag über die Lebensgeschichte von Frau Merkel im Sinne von Frau Quistorp ("keine Kinder, geschieden, wieder verheiratet, Protestantin, aus der DDR...") entweder eingeschlafen oder gegangen.

Das Abschlussthema 11 (Behörden, Religion und Brauchtum) war in unserem Deutschkurs besonders interessant. Zusammen mit den Christen aus Nigeria haben wir den Muslimen aus Somalia und Syrien unseren christlichen Glauben vorgestellt. Diese erklärten dann mit mir zusammen die Fünf Säulen des Islams. Aufgrund dieser positiven Erfahrung haben wir das Thema dann in unser Workbook aufgenommen, wohl wissend, dass Religion in keinem der mir vorliegenden Lehrwerke für die Integrationskurse ein Thema ist. Dass dabei natürlich auch das Judentum angemessen angesprochen wurde, ist für mich als Christ wohl selbstverständlich. Im Workbook wollten wir allerdings Erstorientierung vermitteln und kein Seminar über Weltreligionen und Konfessionen abhalten. Dadurch haben wir Frau Quistorp leider "geschockt". Wir haben statt dessen lieber in unserem Deutschkurs-Outside mit der Polizei Verkehrsunterricht auf der Straße abgehalten und mit der Wasserwacht vor Ort erklärt, warum es sehr gefährlich ist, in Baggerseen zu baden. Wie trivial!

Ich höre jetzt auf, die angeblichen Defizite mit Beispielen aus der Praxis zu widerlegen. Ich wollte nur den Graben der gegenseitigen Unkenntnis ein wenig füllen und habe zum Schluss noch ein paar Bitten und Fragen an die Autorin des Essays:

Frau Quistorp, haben Sie doch bitte mehr Vertrauen in die vielen ehrenamtlichen Lehrkräfte, die mit dem Thannhauser Modell Deutschkurse für Asylbewerber abhalten. Sie können sehr wohl einschätzen, was demokratischer Unterricht ist und wie sie ihn angemessen verwirklichen können. Doch weniger ist manchmal mehr oder anders ausgedrückt: Alles mit Maß und (Nah-)Ziel.

Frau Quistorp, warum kritisieren Sie nicht die zahlreichen seit Jahren vorhandenen professionellen Lehrwerke für die Integrationskurse, die 660 Unterrichtsstunden Zeit haben und trotzdem kaum oder gar nicht auf Grundgesetz und Religion eingehen? Warum kritisieren Sie gerade unsere zunächst ehrenamtliche Privatinitiative mit einem Workbook mit einer ganz anderen Zielsetzung?

Frau Quistorp, warum haben Sie als Deutsch-Lehrerin und Flüchtlingshelferin seit 1967 nicht selbst einmal die Initiative ergriffen und einen Deutschkurs für Flüchtlinge verfasst? Dann hätten Sie unserem Team viel Arbeit erspart und viele Helferkreise hätten von Anfang an perfekte Arbeitsmaterialien für ihren Deutschkurs vorgefunden?

Karl Landherr, für das Team deutschkurs-asylbewerber.de.