Essay

Ein Intermezzo-Freund

Von Silvia Bovenschen
08.08.2016. Das mit der anfänglichen Feindschaft ist nicht erheblich. Damals vor annähernd fünfzig Dekaden, in ihren ersten Streitjahren, hatte die Studentenbewegung viele Schattierungen, bevor sie sich in greller Eindeutigkeit verlor. Zu dieser anfänglichen Zeit war es noch vorstellbar, einen vermeintlichen Feind zu mögen... Von Silvia Bovenschen
Arno Widmann ist ein Intermezzo-Freund.

Er taucht auf und geht ab. Wie die Figuren in einem Theaterstück.
Zeitweise verlor ich ihn aus den Augen. Dann aber immer mal und ganz überraschend kam er wieder in mein Blickfeld.

Warum soll es sie nicht geben, die Pausen, die Überraschungen, die Zwischenklänge?
Das irritiert mich nicht, da es zu meinen geheiligten Überzeugungen gehört, daß eine jede Freundschaft ihr jeweils eigenes Gesetz in sich trägt.

Anfänglich war Arno Widmann sogar ein Feind. Vielleicht ist er es jetzt wieder. Ich glaube das aber nicht. Ich werde es genau wissen bei seinem nächsten Auftritt. Falls er auftritt.

Das mit der anfänglichen Feindschaft ist nicht erheblich. Damals vor annähernd fünfzig Dekaden, in ihren ersten Streitjahren, hatte die Studentenbewegung viele Schattierungen, bevor sie sich in greller Eindeutigkeit verlor. Zu dieser anfänglichen Zeit war es noch vorstellbar, einen vermeintlichen Feind zu mögen. Diesen mochte ich.

Ich bemerke: Meine Erinnerungen sind sehr fragmentarisch, auch verschwommen. Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich Arno Widmann erstmalig begegnete.

Jedoch, ein Arno-Widmann-Erinnerungsbild aus dieser anfänglichen Zeit ist ganz scharf.

Damals, noch Studenten, gehörten wir zu der Redaktion eines frischgegründeten Periodikums. Außer mir zumeist nur Männer. Schmale intellektuelle Männer, die so aussahen und so aussehen wollten, wie man sich junge intellektuelle Männer damals vorstellte. Arno Widmann sah nicht so aus. Er saß prall inmitten wie die Kraft selbst. Ein Kraftsportler.

In diesen Jahren belustigte mich eine Spielart der Herrenmode: sportlich gemeinte kurzärmligen Hemden (heikel allzumal am Körper von Männern mit mageren Vorderextremitäten), die am Ärmelsaum also Mitte des Oberarms in Höhe des zweiköpfigen Armbeuger-Muskels (Musculus biceps brachii) zugeknöpft wurden. Welche schöne Frau mag Arno Widmann zu diesen Hemden überredet haben? Arno Widmanns Arme waren, wie man sich denken kann, nicht mager. Während der Redaktionssitzungen, die oft lange währten, starrte ich fasziniert auf Arno Widmanns Oberarme, genauer: auf das alberne Knöpfchen, in der Erwartung, ja Hoffnung, daß er auf dem Höhepunkt einer hitzigen verbalen Keilerei unwillkürlich den Bizeps anspannen und somit den Steilflug eines abgesprengten Knöpfchens auslösen würde.
Aber es kam nie dazu.

Ich habe da noch nicht wissen können, daß es eh so eine Sache ist mit der Vorhersagbarkeit dessen, was Arno Widmann tun oder unterlassen würde.

Was ich über Arno Widmann damals schon wissen konnte:
daß er auch ein kraftvoller Leser ist. Kein Buch, das er nicht bewältigte, kein Buch, das er blind ablehnte, kein Buch, das vor ihm sicher war, welchem Genre, welcher Gattung es auch angehören mochte. Selbstverständlich kannte er die kanonisierten Texte der Revolte sowie die gymnasial empfohlenen Schriften für den gehobenen Bildungsanspruch, auch die Feuilletonempfehlungen ließ er nicht unbeachtet. Darüberhinaus führten ihn seine empfindlichen Lektürewitterungen in ganz abgelegene Buchstabenlandschaften: in die Gebirge des Skurrilen, in die Ebenen des Trivialen.

Ich erinnere mich, daß ich einige male gesprächsbedingt und beiläufig dieses oder jenes Buch erwähnte, Bücher ohne große Bedeutung, die irgendwann zufällig in meine Hände gekommen waren, Bücher die man wahrlich nicht gelesen haben mußte - Arno Widmann hatte sie gelesen.

Kurzum: Als Leser war und ist Arno Widmann nicht nur kraftvoll - im Sinn einer enormen Aufnahmekapazität - sondern auch extrem beweglich, geradezu virtuos und originell. Ein Lektüreartist. Er las in diesen jungen Jahren nicht, um Wissensspeck für eine Karriere anzusetzen, er las unschuldig, getrieben von der puren Neugier.

Und ihn, Arno Widmann selbst, habe ich gelesen als einen, der zu Befreiungskapriolen geneigt war. Damals, als sich nach dem erfrischenden Aufbruch die Symptome einer politischen Engführung mehrten.

Manchmal in den Freundschaftspausen erzählten andere Freunde von seiner variantenreichen Unternehmungslust.

Man berichtete mir, daß er in Berlin eine linke Zeitschrift mit dem Namen taz mitbegründet hatte. Das freute mich für ihn, aber ich war nicht überrascht. Sehr überrascht hingegen war ich, als ich hörte, daß er stellvertretender Chefredakteur der Vogue geworden war. Arno Widmann bei der Vogue! Wer hätte das gedacht?
Während seines Aufenthaltes in der Modewelt hatte er Zugang zu exklusiven Kostümen und Accessoires. Manchmal brachte er sie an seinen Leib und schickte mir eine Photographie. Das hat mich erheitert.

Seine weiteren journalistischen Wegstationen waren beeindruckend aber weniger überraschend.

Ich hätte mehr darüber wissen können, zählte ich zu jenen, die allmorgentlich daheim oder im Café den Tag mit der Lektüre vielfältiger Presseerzeugnisse einleiten.

Das wissen alle, die ihn kennen.

Arno Widmann liebt die Frauen. Arno Widmann sieht gerne schöne junge Frauen.

Arno Widmann spricht gerne über schöne Frauen. Arno Widmann schreibt gerne über schöne Frauen. Ja und? Das ist zwar nicht sonderlich originell, aber auch nicht schändlich.

Wäre der Verlust von weiblicher Attraktivität in der Zwingzange des Alterns eines meiner gravierenden Probleme, ich hätte die Gesellschaft von Arno Widmann mit den Jahren zunehmend gemieden.

Jetzt fällt mir auf, daß das Attribut "schön" gar nicht mehr so oft bei den Frauen ist.
Möglicherweise ist diese Redeweise etwas veraltet. Wenn ich es recht höre, verwenden die jungen Männer heute eher Vokabeln wie: heiß, scharf oder - etwas ordinärer - geil, sexy. Aber diese Bezeichnungen passen nicht zu Arno Widmann. Daher bin ich sicher, seine geschmackliche Beweglichkeit wird ihn immerwährend daran hindern, in die Zone der Dirty-Old-Men abzudriften.

Noch etwas, das man mir zutrug:

Ich will es unbedingt erwähnen, weil es mir imponiert hat und weil dergleichen meist unerwähnt bleibt.

Es hat mein Mögen noch gesteigert.

Als Arno Widmanns alte Mutter gefährlich krank wurde, ist er zu ihr gezogen und er hat sie umsorgt bis zu ihrem Tod. Diese Nachricht hatte mich nicht überrascht. Aber ohne dieses Wissen wäre ich wohlmöglich doch etwas erstaunt gewesen als ich kürzlich seinen Nachruf auf Roger Willemsen las - so zart, so liebevoll, so traurig.

Sollte ich Mehreres vergessen haben, möge man mir das verzeihen, bei einem Intermezzo-Freund ist die Lücke Teil des Programms.