Magazinrundschau
Zuckungen an Würde und Vitalität
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
Sinn und Form (Deutschland), 01.10.2010
Einen Auszug lesen darf man außerdem aus Peter Rühmkorfs Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis. Nur im Print: Ein Fragment von Tschechow, "Bauern". Ein Essay von Laszlo F. Földenyi über "das echte Schwarz. Das Schwarz der Seite in Sternes Roman, das Schwarz der Karikatur von 1771, das Schwarz des 'Schwarzen Quadrats' von Malewitsch". Und ein Interview Prot Stetschkins aus dem Jahr 1906 mit Lew Tolstoi, der fröhlich Goethe, Ibsen und Shakespeare niedermacht, und dann kommt noch das:
"TOLSTOI: ... In der Technik steht Tschechow weit über mir! Er ist in seiner Art ein einzigartiger Schriftsteller.
STETSCHKIN: Und Maupassant?
TOLSTOI: Maupassant? Ja, meinetwegen ? Aber ich weiß noch nicht, wem ich den Vorzug geben soll. Haben Sie das notiert?"
Boston Review (USA), 31.10.2010
Prospect (UK), 01.10.2010
Auch Einwanderern hat der Multikulturalismus mit seinem Festhalten an angeblich authentischen kulturellen Identitäten nichts gebracht, meint der Autor Mike Phillips. Das sind Theorien über Volkszugehörigkeit aus dem 19. Jahrhundert! "Ironischerweise wurde das das Label 'Rasse', das in den letzten Jahrzehnten verpönt war, durch das Wort 'Kultur' ersetzt, um als Surrogat für all die vertrauten alten Ansichten zu dienen. Personen wie der frühere Bürgermeister von London, Ken Livingston, entschieden, dass der Multikulturalismus die politische Strategie sei, um alle Probleme der Identität von Einwanderern und Briten zu lösen. Aber Multikulturalismus bot unterschiedlichen Leuten verschiedene Bedeutungen an. Sogar die rechten und rassistischen Parteien, überzeugte Gegner dessen, was sie als 'Vermischung der Rassen' bezeichnen würden, erkennen die Vorteile des multikulturellen Arrangements, in dem jede 'Kultur' ihre Exklusivität hinter verschiedenen sozialen und politischen Barrieren pflegt."
Der französische Filmregisseur Gaspard Noe hat für seinen Film "Enter the void" ganz schön was einstecken müssen. Andere Kritiker wieder halten der Film für ein Meisterwerk. Aus der Perspektive (point of view, POV) eines sterbenden Drogenhändlers fliegt Noes Kamera endlos über Tokio, seine Nachtclubs und Sexhotels. Im Interview erklärt Noe: "Einige hatten Angst, dass das Publikum nicht verstehen würde, dass der POV der Kamera der POV des Geistes von Oscar ist, obwohl ich dachte, das sei evident. Es ist schon so oft erzählt worden, dass sich der Geist, wenn man stirbt, vom Körper löst und man über der Welt fliegt, die man verlassen hat. Ich dachte, die Zuschauer verstehen das. Wenn man die Kamera über den Lebenden fliegen sieht, weiß man, das ist ein Geist. [...] Die Charaktere sind nicht cool, sie sind nicht heroisch oder antiheroisch, sie sind einfach komplexe menschliche Wesen mit guten und schlechten Seiten. Oscar ist der größte Verlierer, den man sich vorstellen kann, und das hat viele Leute gestört."
Polityka (Polen), 24.09.2010
New Republic (USA), 24.09.2010
Adam Kirsch hat nur eine Passage von Jonathan Franzens "Freiheit" gelesen, die aber hat ihm gereicht. Es geht um Jennas Vater, den Paul Wolfowitz nachempfundenen, jüdischen Präsidenten eines neokonservativen Think Tanks, der in Anlehnung an Leo Strauss die noble Lüge propagiert und als "jüdischer Strippenzieher" gezeichnet ist: "Dass Franzen so unkritisch ein solches Bild reproduzieren kann, erinnert daran, wie hässlich und obsessiv der Antikriegsdiskurs mitunter wurde."
Sehr gelungen findet Matt Zoller Seitz die Fortsetzung von Oliver Stones Wall-Street-Film, "Money never Sleeps". Allerdings musste Stone dafür das Drama von der Wall Street weg und in die Familie hinein verlegen, um nicht in die Falle des ersten Films zu tappen: Der "glorifizierte, was er bloßstellen wollte, und verwandelte 'Gier ist gut' von einer ironischen Klage zu einem Schlachtruf. Die alchemistische Transformation von einer warnenden Erzählung zu einem gern zitierten Blockbuster erinnert an ein berühmtes Zitat von Francois Truffaut, das auch schon für Stones 'Platoon' galt: Es gibt keine Antikriegsfilme, denn Krieg gehört zu den schönsten Kinospektakel überhaupt, und wenn man ihn auf die Leinwand bringt, ist er einfach aufregend."
Rue89 (Frankreich), 26.09.2010
Elet es Irodalom (Ungarn), 24.09.2010
MicroMega (Italien), 22.09.2010
New Yorker (USA), 04.10.2010
Weiteres: Paul Goldberger untersucht, ob es möglich ist, im Sündenbabel Las Vegas architektonische Werte zu schaffen. Besprochen wird David Finchers Film "The Social Network" über den Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ("ein Kunstwerk", urteilt David Denby. "Genauigkeit ist damit zweitrangig.") Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Dungeon Master" von Sam Lipsyte.
New York Review of Books (USA), 14.10.2010
Außerdem: Kardinal Theodore E. McCarrick macht noch einmal auf die gefährliche Situation der Christen im Irak aufmerksam. Besprochen werden Robert Gottliebs Sarah-Bernhardt-Biografie, zwei Bücher über die somalischen Piraten und zwei Bücher über die französische Fremdenlegion. Leider nur im Print: Adam Kirschs Besprechung der Gedichte von Durs Grünbein.
Eurozine (Österreich), 24.09.2010
New York Times (USA), 26.09.2010
Im New York Times Magazine schildert Elif Batuman den Streit um den Kafka-Nachlass, der in Max Brods Koffer 1968 in Tel Aviv gefunden wurde. Seit zwei Jahren verhandeln israelische Gerichte über die Frage, ob die Erbin Eva Hesse, die Tochter von Brods Sekretärin, den Inhalt verkaufen darf oder ob er in Israel bleiben muss. Der israelische Autor Etgar Keret, der mit Batuman sprach, nimmt es von der humorvollen Seite: "Wenn Brod sehen könnte, was jetzt passiert, wäre er 'entsetzt'. Kafka auf der anderen Seite, wäre vielleicht zufrieden. 'Wenn man sein Zeug eigentlich verbrannt haben will, ist das Nächstbeste, es einem Mann zu geben, der es einer Frau gibt, die es ihrer Tochter gibt, die es in einem Appartement voller Katzen aufbewahrt, richtig?'"
Außerdem: A.O. Scott feiert den französischen Kosmopolitismus des Filmregisseurs Olivier Assayas, dessen Film "Carlos" im November anläuft. In der Book Review bespricht der irische Autor Colm Toibin David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" ("This is one of those few novels that feel as though they have made a difference to the world."), Jennifer B. McDonald stellt eine Diaghilev-Biografie von Sjeng Scheijen vor (zwar schreibe Scheijen recht trocken, doch werde das mehr als wettgemacht durch die ausführlichen Zitate aus den Briefen und Tagebüchern von Diaghilevs Zeitgenossen) und Belinda Cooper bespricht eine Geschichte der Menschenrechte, die nach Auffassung des Autors Samuel Moyn erst in den Siebzigern begann.
Oh, und heute bespricht in der NYT Anthony Tommasini die "Ring"-Produktion von Robert Lepage an der Met. Schlimmes stand zu befürchten: "Otto Schenks romantische 'Ring'-Inszenierung, die 2009 abgesetzt wurde, hatte leidenschaftliche Verteidiger. Peter Gelb, Intendant der Met, hatte im Vorfeld der neuen Inszenierung versucht allen zu versichern, dass dies keine verblasene Eurotrash-Inszenierung würde. Mr. Lepage benutzt die neueste Bühnentechnik, um 'die Geschichte zu erzählen', erklärte Mr. Gelb wiederholt in Interviews. Tatsächlich ist Mr. Lepages Produktion sogar mit den ganzen Hightech-Elementen ziemlich traditionell." Uff!