
Die
chinesische Regierung hatte schon vor der Pandemie eine starke Kontrolle darüber,
wer wo lebt, indem sie Arbeit überall zuließ, soziale Leistungen aber nur regional vergab, nämlich dort, wo der Leistungsempfänger herkam. So sollte verhindert werden, dass die Familien von Wanderarbeitern diesen nachfolgten: Die Reichen sollten unbehelligt vom Proletariat in den Megastädten leben können. Das klappte nur begrenzt, aber in Folge der
Pandemie konnte die Regierung ihre Kontrolle über die Mobilität der Chinesen ausdehnen - diesmal auch auf die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht. Wie das funktioniert
beschreibt der Soziologe
Eli Friedman: "Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wuhan und Schanghai besteht darin, dass der Staat während der jüngsten Abriegelung darauf bestand, dass die Menschen
weiter arbeiten. Die Aufrechterhaltung des Kapitalverkehrs bei gleichzeitiger radikaler Demobilisierung der Arbeitskräfte ist eine Herausforderung, aber die Behörden in Shanghai waren bereit, es zu versuchen. Die wichtigste raumpolitische Waffe in ihrem Arsenal war der
geschlossene Kreislauf. Die Strategie bestand darin, die Einrichtungen so hermetisch wie möglich abzuschließen und nur lebenswichtige Güter wie Lebensmittel und Medikamente hineinzulassen, während gleichzeitig fast jeder daran gehindert wurde, den Kreislauf zu verlassen. Diese Strategie ermöglicht es dem
Kapital,
zu zirkulieren, während die menschliche Mobilität auf ein absolutes Minimum reduziert wird. ... Am 11. April gab die Shanghaier Regierung eine 'weiße Liste' mit 666 Unternehmen heraus, die trotz der weitreichenden Abriegelung wieder öffnen durften (weitere 342 Unternehmen kamen im Mai hinzu). Auf dieser Liste standen unter anderem die
Tesla Gigafactory und
Quanta, einer der wichtigsten Montagebetriebe von Apple. Bei der Closed-Loop-Fertigung müssen die Arbeiter in der Fabrik bleiben - sie essen, schlafen und arbeiten ausschließlich auf dem Werksgelände. Wenn die Arbeiter in den Kreislauf gebracht wurden, konnten sie nicht wissen, wann sie ihn wieder verlassen durften. Anstatt von zu Hause aus zu arbeiten, wurden sie aufgefordert,
auf der Arbeit zu leben. ... Der geschlossene Kreislauf schneidet die Arbeitnehmer von jedem sinnvollen sozialen Leben ab und reduziert sie auf ihre bloße Arbeitskraft. Doch die Arbeiter wehrten sich gegen diesen Versuch, eine diktatorische Kontrolle über die körperliche Mobilität auszuüben und gleichzeitig Produktivität für das Kapital zu fordern. Die Menschen wollten nicht nur als Arbeitskräfte
für den Chef am Leben erhalten werden." Dass Friedman diese Politik am Ende seines Artikels mit der Weigerung westlicher Staaten vergleicht, ihre Grenzen für alle zu öffnen, ist allerdings etwas schräg.