Magazinrundschau - Archiv

The Boston Review

32 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 4

Magazinrundschau vom 08.04.2024 - Boston Review

Ja, dass Pitchfork von Condé Nast als Musiksparte von GQ abgewickelt wird, ist ein Verlust, konzediert auch Eli Zeger. Vielleicht steckt darin aber auch eine Chance, argumentiert er weiter. Denn die meisten Vorab-Nachrufe auf Pitchfork spielten die Schwächen des tonangebenden Online-Musikmagazins zugunsten schwärmerischer Verklärungen ziemlich herunter. Dabei ließe sich auch argumentieren, dass Pitchfork selbst unter dem höhen wirtschaftlichen Druck, unter dem das Magazin stand, den Niedergang der Albumrezension als journalistisch-literarisches Format maßgeblich mit vorangetrieben hat. "Vom Schreiben über Musik zu leben ist genauso wenig nachhaltig wie vom Musikspielen leben zu wollen. Will ein Künstler oder Kritiker sich zumindest ein klitzekleines bisschen Einkommen unter den Nagel reißen, ist er dem von oben nach unten durchgereichten Druck ausgesetzt, formelhaft zu sein - auf Kosten von Originalität, Experimentierfreude und sorgfältigem Handwerk. Musiker optimieren sich selbst für Streaming-Plattformen, indem sie ihre kreativen Entscheidungen darauf gründen, was ihre monatliche Zuhörerschaft boostert und ihre Stücke auf stimmungsbasierte Playlists bringt. ... Während Spotify das Entdecken neuer Musik monopolisiert hat, hauen Pitchfork, genau wie Spin, Consequence of Sound und andere Musik-Seiten in Konzernbesitz in einem vergeblichen Wettrennen mit den Algorithmen Content raus. Die Folge sind unausgegorene, meistens kurz angebundene Reviews, die Pressemitteilungen nachplappern. Man gesteht den Schreibern nur kostbar wenig an Zeit, Geld und Raum zu - Rahmenbedingungen, die es kaum ermöglichen, mehr als bloß zu schludern. Die Kritiker fliehen derweil zu Newsletter-Anbietern wie Substack und Ghost, um jene Reichweite, die sie sich erschrieben haben, in Geld umzusetzen. Während das Klima für ernsthafte Kritik in sich zusammenbricht, nutzen sie die einzige ihnen verbliebene Rückzugsmöglichkeit und vergraben sich jeder für sich in digitale Höhlen. ... Aber Warten ist nicht die einzige Option. Der Vorschlag des früheren Pitchfork-Redakteurs Cat Zhang, eine genossenschaftlich organisierte Publikation zu schaffen, sollte nicht vergessen werden. ... Eine im Besitz der Schreiber befindliche Publikation, die auf geduldige Kritik in langen Texten setzt, könnte zwischen den Musikarbeitern Solidarität schaffen, die sich ansonsten nie als derselben Klasse zugehörig empfunden hätten - eine Art ästhetisches Gegenseitigkeitsverhältnis oder in anderen Worten: eine neue Kultur, die Tiefe und Analyse gegenüber Hype und flüchtigen Beschäftigungen priorisiert."

Magazinrundschau vom 12.03.2024 - Boston Review

Jonathan Kirshner stellt Bertrand Taverniers "La Guerre sans Nom" von 1992 vor, einen Film über den algerischen Unabhängigkeitskrieg. Und damit über ein Ereignis, das, wie Kirshner nachzeichnet, das moderne Frankreich zutiefst geprägt hat, aber in der öffentlichen Diskussion und auch im französischen Kino selten angemessen thematisiert wird. Taverniers vierstündiger Film stellt Interviews mit 30 französischen Rekruten ins Zentrum und behandelt unter anderem das Thema Folter: "Fast alle Männer, mit denen Tavernier spricht, waren entweder bei Folterungen zugegen oder wussten, dass sie stattfinden - einige waren beauftragt, sauber zu machen, nachdem die bewusstlosen und verletzten Opfer aus den Zellen herausgebracht wurden. Alle beteuern, nicht selbst gefoltert zu haben, wobei einige andeuten, dass sie die Folterungen für notwendig hielten, etwa wenn sie sich in Phrasen wie 'das passiert in jedem Krieg', 'Krieg selbst ist grausam', beziehungsweise eine tödliche Mischung aus 'Furcht, Feigheit und Sadismus' verstecken. Bereits Zeuge von Folterungen zu werden, kann, das macht der Film klar, ein lebensveränderndes Trauma sein. Ein Rekrut spricht darüber, wie schockiert er war, als ein kommunistischer Gesinnungsgenosse, ein 'Vater und Ehemann', sich an den Folterungen beteiligte, was die ewige Frage aufwirft, wie scheinbar zivilisierte Menschen in die Barbarei abrutschen können. Die Beschämung vieler dieser Zeugen gehört zu den härtesten Aspekten des Films. 'Ich war machtlos, ich konnte gar nichts tun', meint ein anderer. 'Was hätte ich tun können? Zum Gewehr greifen und schießen?' Die Gedanken, die den 20-jährigen Rekruten plagen, verfolgen viele dieser Männer für den Rest ihres Lebens."

Magazinrundschau vom 06.12.2022 - Boston Review

Die chinesische Regierung hatte schon vor der Pandemie eine starke Kontrolle darüber, wer wo lebt, indem sie Arbeit überall zuließ, soziale Leistungen aber nur regional vergab, nämlich dort, wo der Leistungsempfänger herkam. So sollte verhindert werden, dass die Familien von Wanderarbeitern diesen nachfolgten: Die Reichen sollten unbehelligt vom Proletariat in den Megastädten leben können. Das klappte nur begrenzt, aber in Folge der Pandemie konnte die Regierung ihre Kontrolle über die Mobilität der Chinesen ausdehnen - diesmal auch auf die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht. Wie das funktioniert beschreibt der Soziologe Eli Friedman: "Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wuhan und Schanghai besteht darin, dass der Staat während der jüngsten Abriegelung darauf bestand, dass die Menschen weiter arbeiten. Die Aufrechterhaltung des Kapitalverkehrs bei gleichzeitiger radikaler Demobilisierung der Arbeitskräfte ist eine Herausforderung, aber die Behörden in Shanghai waren bereit, es zu versuchen. Die wichtigste raumpolitische Waffe in ihrem Arsenal war der geschlossene Kreislauf. Die Strategie bestand darin, die Einrichtungen so hermetisch wie möglich abzuschließen und nur lebenswichtige Güter wie Lebensmittel und Medikamente hineinzulassen, während gleichzeitig fast jeder daran gehindert wurde, den Kreislauf zu verlassen. Diese Strategie ermöglicht es dem Kapital, zu zirkulieren, während die menschliche Mobilität auf ein absolutes Minimum reduziert wird. ... Am 11. April gab die Shanghaier Regierung eine 'weiße Liste' mit 666 Unternehmen heraus, die trotz der weitreichenden Abriegelung wieder öffnen durften (weitere 342 Unternehmen kamen im Mai hinzu). Auf dieser Liste standen unter anderem die Tesla Gigafactory und Quanta, einer der wichtigsten Montagebetriebe von Apple. Bei der Closed-Loop-Fertigung müssen die Arbeiter in der Fabrik bleiben - sie essen, schlafen und arbeiten ausschließlich auf dem Werksgelände. Wenn die Arbeiter in den Kreislauf gebracht wurden, konnten sie nicht wissen, wann sie ihn wieder verlassen durften. Anstatt von zu Hause aus zu arbeiten, wurden sie aufgefordert, auf der Arbeit zu leben. ... Der geschlossene Kreislauf schneidet die Arbeitnehmer von jedem sinnvollen sozialen Leben ab und reduziert sie auf ihre bloße Arbeitskraft. Doch die Arbeiter wehrten sich gegen diesen Versuch, eine diktatorische Kontrolle über die körperliche Mobilität auszuüben und gleichzeitig Produktivität für das Kapital zu fordern. Die Menschen wollten nicht nur als Arbeitskräfte für den Chef am Leben erhalten werden." Dass Friedman diese Politik am Ende seines Artikels mit der Weigerung westlicher Staaten vergleicht, ihre Grenzen für alle zu öffnen, ist allerdings etwas schräg.
Stichwörter: China, Arbeiter, Tesla

Magazinrundschau vom 20.09.2022 - Boston Review

Die muslimischen Demonstranten gegen Salman Rushdie suchen keine Alternativen zum Liberalismus, meint hingegen Faisal Devji, Professor für indische Geschichte in Oxford. Sie wollen in den Liberalismus nur einbezogen werden, etwa wenn sie ihre Heiligtümer denen der Kirche von England gleichgestellt sehen wollen. Dabei hängen sie Begriffen an, die erst die Kolonialisten einführten: "Die ersten Proteste gegen die Satanischen Verse, die zunächst von Muslimen südasiatischer Abstammung in Großbritannien ausgingen und sich dann nach Indien und Pakistan verlagerten, bedienten sich eines kolonialen Vokabulars aus dem 19. Jahrhundert, das im indischen Strafgesetzbuch von 1860 verankert worden war. Dieses säkulare Dokument, das es den Briten ermöglichen sollte, eine religiös vielfältige Gesellschaft zu regieren, lehnte Blasphemie ab und stellte stattdessen die Verletzung religiöser Gefühle unter Strafe. Es war diese spezifisch südasiatische Terminologie über die verletzten Gefühle von Gläubigen aller Religionen, nicht des wahren Glaubens einer Religion, die in der Rushdie-Affäre globalisiert wurde." Der "Kult der Beleidigung" ist nach Devji denn auch nur ein Versuch, sich auf dem Markt der Ideen durchzusetzen, er "ist kein Symptom einer bestimmten politischen Orientierung, weder links noch rechts. Er ist das Produkt des Neoliberalismus."

Magazinrundschau vom 10.05.2022 - Boston Review

Im Jahr 2014, schreibt Raj Patel, hatten 607 Millionen Menschen weniger als 2.100 Kilokalorien am Tag, im Jahr 2022 werden es 830 Millionen sein. Schuld an der gegenwärtigen Ernährungskrise ist für Patel in erster Linie der Kapitalismus. Aber es gibt noch ein paar mehr Cs, die er als Faktoren anerkennt: einerseits natürlich "Colonialism" und "climate change" und dann "Covid", "conflict", "chemical agriculture" "craven opportunism". Zu "Konflikt", dem aktuellsten Punkt, schreibt er: "Der Punkt 'Konflikt' geht natürlich dem Krieg in der Ukraine voraus und setzt sich parallel zu ihm fort, vom Jemen über Syrien und Myanmar bis nach Mexiko. Die obszönste Waffe der Rüstungsindustrie, die Antipersonenmine, wurde über die Nahrungsmittelfelder der Welt verstreut. Bei jedem bewaffneten Konflikt werden die Nahrungsmittellieferungen unterbrochen, die Felder bleiben unbepflanzt und unzureichend gepflegt, überlebenswichtige Nahrungsquellen werden abgeschnitten, Mittel fließen weg von der sozialen Sicherheit und hin zur militärischen Sicherheit, und Flüchtlinge sind gezwungen, sich fern der Heimat mit Nahrungsmitteln zu versorgen, manchmal über Jahrzehnte."
Stichwörter: Ernährung, Hunger, Myanmar, Jemen

Magazinrundschau vom 02.11.2021 - Boston Review

Aziz Z. Huq macht sich etwas trockene, aber alles in allem recht vernünftige Gedanken darüber, wem eigentlich die Daten bei Facebook und anderen sozialen Medien gehören. An Fakten, sagt er, gibt es laut amerikanischem Recht eigentlich keinen Eigentumsanspruch. Facebook und die anderen umgehen diese einfache Bestimmung durch Intransparenz und byzantische Geschäftsbedingungen. Aziz will allerdings auch zwei weitere Punkte klarstellen: Das individuelle Eigentum an Daten bringt eigentlich auch nicht so viel, denn niemand kümmert sich um den ganzen Wust. Und der Staat sollte auch nicht in den Besitz der Daten kommen, wie das Beispiel China zeigt. Es müsste also so etwas wie einen Public Trust geben, eine Art öffentlich-rechtliches Modell des Datenbesitzes. Und das würde auch in Bezug auf Facebook einiges bringen: "Überlegen Sie, wie radikal sich das Geschäftsmodell eines Monopolisten wie Facebook ändern müsste. Erstens wäre das Unternehmen gesetzlich verpflichtet, offenzulegen, wie es Daten nutzt - etwas, das es derzeit nicht gibt. Natürlich können Unternehmen einfach lügen oder irreführen. Aber eine Menge Unternehmen unterliegen bereits heute umfangreichen Offenlegungspflichten aufgrund von Umwelt-, Wertpapier- und Betrugsbekämpfungsgesetzen und vielen anderen Vorschriften. Diese Auflagen werden durch Berichtsvorschriften für die Unternehmensleitung, durch behördliche Inspektionen und durch externe Prüfer durchgesetzt. Wenn Goldman Sachs einen Gewinn erzielen kann und gleichzeitig diese Art von Offenlegungsvorschriften einhält, gibt es keinen Grund für Facebook oder Google, sich gegen etwas Ähnliches zu wehren." In einem solchen Modell, so Huq, wären die Konzerne auch verpflichtet, der Gesellschaft etwas von ihrem Reichtum zurückzugeben, ähnlich einem Unternehmen, das mit Gewerbesteuern zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur beiträgt.

Ähnlich sieht es der Internetkritiker Nicholas Carr in einem weit ausgreifenden Artikel in The New Atlantis: Social-Media-Unternehmen sollten "unter einer Reihe von Regeln arbeiten, die sie für das öffentliche Interesse empfänglich machen".
Stichwörter: Soziale Medien, Social Media

Magazinrundschau vom 19.10.2021 - Boston Review

In einem ausgesprochen informativen und sehr sachlichen Artikel diskutiert Samuel Miller McDonald Für und Wider einer Rückkehr zur Atomenergie in Zeiten des drängenden Klimanotstands. Auf der Habenseite notiert er eindeutig die relative Ungefährlichkeit der Atomenergie (verglichen mit Abermillionen Toten allein in Folge der Luftverschmutzung, ihre Verfügbarkeit, ihre Leistungsstärke. Auf der Sollseite verzeichnet er ihren immens hohen Preis (zwischen 112 und 189 Dollar pro Megawattstunde verglichen mit 29 bis 56 Dollar bei Wind, 36 bis 44 Dollar bei Sonnenenergie), die ungeregelte Endlagerung und den ausbeuterischen Uranbergbau meist auf Gebieten armer oder indigener Bevölkerungen. Am Ende fürchtet Miller McDonald vor allem, dass die Stabilität, die Atomkraft verlangt, weder politisch noch klimatisch in Zukunft gegeben sein wird: "Wir können nicht davon ausgehen, dass die Technologien, die uns im späten 20. Jahrhundert gute Dienste erwiesen haben, dies auch am Ende des 21. Jahrhunderts tun werden. Die Destabilisierung der Weltordnung wird neue Möglichkeiten eröffnen - und andere verschließen -, wie wir unsere gesellschaftlichen strukturieren können, sowohl physisch als auch sozial. Die Entscheidungen, die wir heute in Bezug auf die Infrastruktur treffen, begrenzen die Möglichkeiten für die Ordnungen, die wir in einer destabilisierten Zukunft bauten können. Atomenergie gründet - mit ihrer Abhängigkeit von hoch organisierten und militarisierten Staaten - auf einer bestimmten Art von Ordnung. Erneuerbare Energien eröffnen - mit ihrer Fähigkeit kooperativ und auf lokaler Ebene betrieben zu werden - die Möglichkeit radikal anderer Ordnungen. Keiner der beiden Wege verdammt die Gesellschaft zu einer bestimmten Zukunft, aber sie begrenzen die möglicher Entscheidungen. Die Debatte, die um die Atomenergie geführt werden muss, darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob sie Kohlendioxid-Emissionen begrenzt, genügend Elektrizität verschafft oder sicher und sauber ist, sie muss auch Teil ins Auge fassen, wie Gesellschaften sich an die neuen gefährlichere Welt, die wir geschaffen haben, anpassen können oder sogar in ihr gedeihen."

Magazinrundschau vom 09.03.2021 - Boston Review

Dass die Franzosen ein Ding mit Amerika laufen haben, ist bekannt. Antiamerikanismus ist in Frankreich in allen politischen Fraktionen endemisch. Aber umgekehrt gilt das auch, und es ist weniger bekannt. Es sind vor allem linke amerikanischen Medien, inklusive New York Times oder New York Review of Books, die wieder und wieder den französischen Begriff der "Laïcité" attackieren und Vorträge darüber halten, wie Frankreich mit dem Problem des Islamismus umgehen sollte (meistens läuft es auf Sozialarbeit und Pädagogik hinaus). Laizismus selbst sehen sie als "Fundamentalismus der Aufklärung", ein Begriff, den ursprünglich Ian Buruma und Timothy Garton Ash von Mohammed Bouyeri übernahmen, der ihn auf einen Zettel schrieb, den er dann Theo van Gogh mit einem Messer in die Brust rammte. Auch die Autorinnen eines großen Artikels in der Boston Review über die neue französischen Gesetzgebung gegen den politischen Islam, Elizabeth Shakman Hurd und Nadia Marzouki, diagnostizieren in Frankreich eine Religion des Säkularismus: "Am 1. Februar hatte der Innenminister Gerald Darmanin im Radio gesagt: 'Wir können nicht mit Leuten reden, die nicht unterschreiben können, dass das Gesetz der Republik über dem Gottes steht'. Olivier Roy bemerkte, dass diese polemische Aussage eine 'überraschende Ignoranz über das Wesen von Religion und die Stellung der Religion gegenüber dem Staat ausdrückt. Kein Gläubiger kann sagen, dass das Gesetz der Republik über dem Gottes steht.' Das Statement des Ministers verkörpert die Tendenz zu einer Sakralisierung des Gesetzes." Hier eine längere Zusammenfassung des Radiogesprächs mit Darmanin.

Magazinrundschau vom 14.04.2020 - Boston Review

Pandemien kann man nicht miteinander vergleichen, jede folgt ihren eigenen Gesetzen. Aber die sozialen Antworten darauf vergleichend, kann schon gewinnbringend sein, meint Alex de Waal und empfiehlt die Leküre von Richard Evans' 1987 erschienenem Buch "Death in Hamburg". Aber auch sein Kampf gegen Aids - das mit Corona viel gemeinsam hat, zum Beispiel die Vorstellung, dass die am härtesten Betroffenen, bei Aids die Schwulen, bei Corona die Alten, wegen ihres angeblich moralisch verwerflichen Lebensstils selbst Schuld haben - hat ihn einiges gelehrt: "Die klarsten Fragen sind politischer Natur. Was sollte die Öffentlichkeit von ihren Regierungen verlangen? Durch hart erlernte Erfahrungen entwickelten die AIDS-Aktivisten ein Mantra: 'Kenne deine Epidemie, handle nach ihrer Politik'. Die Motive für - und die Folgen von - Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gingen schon immer weit über die Kontrolle von Krankheiten hinaus. Das politische Interesse übertrumpft die Wissenschaft - oder, genauer gesagt, das politische Interesse legitimiert einige wissenschaftliche Lesarten und andere nicht. Pandemien sind der Anlass für politische Auseinandersetzungen, und die Geschichte legt nahe, dass Fakten und Logik Werkzeuge für den Kampf sind und nicht Schiedsrichter des Ergebnisses."

Magazinrundschau vom 06.08.2019 - Boston Review

Egal, wie skandalös Donald Trump auftritt - er hat eine unbeirrbare Basis an Wählern, die nicht wankt, lernt Ronald Aronson, der Zahlen und Bücher zum Thema studiert hat. Und es sind nicht einfach Armut und Hoffnungslosigkeit, die die Leute in Trumps Arme treibt. Das fand die Politikwissenschaftlerin Diana Mutz heraus, die für eine Studie das Wahlergebnis von 2016 im Detail analysiert hat, so Arnonson: "Ihre Schlussfolgerung ist in ihrem Titel zusammengefasst: 'Statusangst, nicht wirtschaftliche Not, erklärt die Präsidentschaftswahl 2016.' Die Beweise deuten überwiegend darauf hin, erklärt sie, dass bei Gruppen mit hohem Status die Angst vor dessen Verlust das wichtigste Motiv für die Unterstützung Trumps ist. Die rückläufige zahlenmäßige Dominanz der weißen Amerikaner in den Vereinigten Staaten zusammen mit dem steigenden Status der Afroamerikaner und der amerikanischen Unsicherheit darüber, ob die Vereinigten Staaten weiterhin die dominante globale Wirtschaftssupermacht sein werden, haben zu einer klassischen Abwehrreaktion unter den Mitgliedern dominanter Gruppen geführt. Mutz' quantitative Analyse ist durchaus kritisiert worden, aber die generelle Stoßrichtung ihres Arguments scheint unbestreitbar. Ein afroamerikanischer Mann wird gewählt, und der Schlachtruf lautet 'Take America back!'. Hispanische Einwanderer werden sichtbarer, und der Kampfruf wird zu 'Bauen Sie die Mauer!'. Eine muslimisch-amerikanische Kongressabgeordnete kritisiert den Präsidenten, und der Kampfruf lautet 'Schick sie zurück!'. Laut Mutz speist sich das nicht aus einem 'Rassismus, der darauf hindeutet, dass Weiße Minderheiten als moralisch oder intellektuell minderwertig betrachten, sondern aus der Angst, Minderheiten könnten mächtig genug sein, den Status quo zu verändern."