Magazinrundschau
Lüpfungsenergien
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.10.2011. Mit Toronto geht es langsam den Bach runter, weil seine Bewohner so geizig sind, erzählt The Walrus. Die LRB porträtiert Putins schillernden Chefideologen Vladislav Surkow. In Le Monde erklärt Pierre Nora: Kolonialismus war mal ein linker Diskurs. Sollen Nazis doch Theater spielen, meint Peter Esterhazy in Elet es Irodalom, aber bitte ohne Subventionen. The Smithsonian schickt eine Reportage über die Kopten in Ägypten. Wer schreibt über die Armen, fragt Sibylle Lewitscharoff in Literaturen. Die NYT porträtiert die Medicis von der Chicago Tribune.
London Review of Books (UK), 20.10.2011

Weiteres: In einer Reportage von geradezu epischem Ausmaß befasst sich Jeremy Harding in aller Ausführlichkeit mit den zahlreichen menschlichen und politischen Dramen, die sich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA abspielen, wo sich die Situation zusehends militärisch zuspitzt. Keith Gessen berichtet von den Wall-Street-Protesten im Manhattan, das sich mit einem Mal ziemlich europäisch anfühlt. John Lanchester erklärt, warum die hohen Spielergehälter ihm die Liebe zum Fußball genommen haben. In Großbritannien steht die gesetzliche Grundlage der Prozesskostenhilfe zur Disposition, erklärt Joanna Biggs. Fredric Jameson bespricht den Roman "Lucky Per" von Henrik Pontoppidan. Peter Campbell stellt die Ausstellung "Apocalypse" mit Arbeiten von John Martin in der Tate Britain vor:

Le Monde (Frankreich), 17.10.2011
Geht es darum, den Kolonialismus in die Geschichte zu integrieren, oder geht es darum, die Geschichte im Zeichen des Kolonialismus ganz neu zu schreiben - und Frankreich und die westlichen Nationen im wesentlichen als erobernde Nationen zu sehen, die am Rest der Welt Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen?, fragt der Doyen der französischen Historiker, Pierre Nora. Die zweite Alternative wird heute von der globalisierungskritischen Linken verfochten - und von Historikern, die mit dem Eurozentrismus brechen wollen. Nora erinnert sie daran, dass der Kolonialismus, gerade in Frankreich, ein "linker" Diskurs war: "Die nachträgliche Identifizierung der Linken mit dem Antikolonialismus ist ein falsches und künstliches Klischee. Im Gegenteil: Die linken Parteien haben sich mit großer Verspätung zum Antikolonialismus bekannt, und das auch deshalb, weil die Kolonisierung im Namen revolutionärer und jakobinischer Ideale vorangetrieben wurde."
Walrus Magazine (Kanada), 01.11.2011

Weitere Artikel: Daniel Baird porträtiert den New-Yorker-Autor Adam Gopnik, der in diesem Jahr die Massey-Vorlesungen halten wird (frühere Redner waren Martin Luther King, Claude Levi-Strauss, George Steiner und Doris Lessing). Und Adele Weder träumt von einem modernen minimalistischen Haus, aber als sie endlich mit ihrer Familie in einem lebt, schlägt sie hart auf den Boden der Tatsachen auf.
Elet es Irodalom (Ungarn), 14.10.2011

Economist (UK), 15.10.2011

Außerdem: Ein Artikel meldet erhebliche Zweifel an den Zahlen an, mit denen im Kampf gegen Cyberkriminalität hantiert wird. Hier wird ein Blick in neue Homer-Übersetzungen ins Englische geworfen.
Il Sole 24 Ore (Italien), 16.10.2011

Outlook India (Indien), 24.10.2011

Magyar Narancs (Ungarn), 06.10.2011

New Yorker (USA), 24.10.2011

Weitere Artikel: Lizzie Widdicombe macht einen kurzen Besuch bei den Occupy-Wall-Street-Demonstranten. Nathan Heller bespricht das Buch "The Age of Movies", das Texte der amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael versammelt, sowie eine Kael-Biografie von Sanford Schwartz: "Pauline Kael: A Life in the Dark". Und Anthony Lane sah im Kino Sean Durkins Thriller "Martha Marcy May Marlene", der für ihn nicht - wie behauptet - ein Kultfilm, sondern ein Film über einen Kult ist.
La regle du jeu (Frankreich), 14.10.2011

Außerdem: Die marokkanisch-stämmige Psychologin Fouzia Liget begründet in einem Beitrag, der im Kontext der Bemühungen um die Freilassung von Rafah, der ersten Psychoanalytikern, die in Syrien praktizierte, steht, weshalb Psychoanalyse und Islam keineswegs unvereinbar seien.
Literaturen (Deutschland), 17.10.2011
Früher, als die Armen noch Würde hatten, gab es auch Schriftsteller, die von ihnen erzählten, notiert Sibylle Lewitscharoff. Heute interessiere sich nur das Fernsehen für sie: "Die Nöte der Armen heute zu erhellen, die naturgemäß in einer reichen Gesellschaft grundverschieden sind vom Elend der Armen im 19. Jahrhundert, das wäre eine ehrenvolle Aufgabe für die Literatur. Doch was für eine Literatur könnte das sein? Dem zementierenden Realismus sollte sie jedenfalls nicht frönen, diesem menschenverachtenden So und nicht Anders. Vielmehr sollte sie sich von Lüpfungsenergien tragen lassen und fest am Möglichkeitssinn hangen, damit sich der Leser hinter einem verschütteten, elenden Leben sehr wohl ein anderes vorstellen kann."
Besprochen werden Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" und Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts".
Besprochen werden Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" und Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts".
Smithsonian Magazine (USA), 01.11.2011
Joshua Hammer beschreibt in einer Reportage die wachsende Gewalt gegen Kopten in Ägypten. "Bei einer gut besuchten politischen Konferenz der Al-Azhar-Universität in Kairo traf ich Abdel Moneim Al-Shahat, den stämmigen, bärtigen Kopf der Salafisten in Alexandria. Die Sekte hatte eine politische Partei gegründet und rief nach einem islamischen Staat. Dennoch bestand Al Shahat darauf, dass die Salafisten für eine pluralistische Gesellschaft seien. 'Salafisten haben während der Revolution in Alexandria und überall sonst Kirchen beschützt', sagte er und bestand darauf, dass die Brandanschläge auf Kirchen im Mai von Christen angestiftet worden seien, 'die Angst haben, sie würden [unter dem neuen Regime] an Macht verlieren.' Er erklärte das nicht näher."
(Als Ergänzung dazu: In der NYRB berichtet Yasmine el Rashidi, die bei der jüngsten Demonstration in Kairo dabei war, bei der 25 Menschen - zumeist Kopten - getötet wurden, wie wenig Staat und Presse an einer Aufklärung des Vorfalls interessiert sind.)
(Als Ergänzung dazu: In der NYRB berichtet Yasmine el Rashidi, die bei der jüngsten Demonstration in Kairo dabei war, bei der 25 Menschen - zumeist Kopten - getötet wurden, wie wenig Staat und Presse an einer Aufklärung des Vorfalls interessiert sind.)
Eurozine (Österreich), 07.10.2011
Ola Larsmo antwortet in Eurozine auf einen Artikel Kenan Maliks über Parallelen zwischen dem norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik und dem jungen Schweden Taimour Abdulwahab, der sich in der Stockholmer Innenstadt in die Luft sprengte. Eine Gemeinsamkeit hat Malik übersehen, findet er: "Der offensichtliche Link zwischen den beiden ist der Hass auf die Moderne. Beide wollen die Gesellschaft in eine vordemokratische Ära zurückbombem. Es ist die gleiche Angst vor der Moderne, die wir von schwedischen Nationalisten der zehner bis dreißiger Jahre kennen: Demokratie spaltet, sie reißt Grenzen ein und bringt die 'Falschen' an die Macht. Sie erlaubt anderen, die Bühne zu betreten. Sie vermischt, was getrennt bleiben sollte. Das Gegenteil von Demokratie ist Reinheit."
New York Times (USA), 16.10.2011
Joseph Medill, liberaler Politiker, glühender Abolitionist und Mitstreiter Abraham Lincolns, begründete mit der Chicago Tribune auch eines der mächtigsten und reichsten Zeitungsimperien der USA. Gleich zwei Biografien - Megan McKinneys "The Magnificent Medills" und Amanda Smith' "Newspaper Titan" - widmen sich der schillernden Dynastie, werden ihr aber leid nicht gerecht, bedauert Joseph Epstein: "Die Medills waren nicht großartig, sondern neurotische Alkoholiker und Megalomanen und ganz generell ausgesprochen unangenehm. Cissy Patterson war weder eine Presse- noch eine sonstige Titanin, wie Smith selbst zeigt, sondern kapriziös, verwöhnt, starrköpfig, snobistisch, streitsüchtig, antisemitisch, eine gemeine Trinkerin und rachsüchtig. Joseph Medills Nachkommen waren keine nette Familie, würden wir heute sagen. Sie gaben viel, sich selbst am meisten, eher wie Medicis als Medills."
Mit mäßiger Begeisterung hat William Deresiewicz Jeffery Eugenides' neuen Roman "The Marriage Plot" gelesen, den er immerhin besser als "Middlesex", aber längst nicht so gut wie "Die Selbstmordschwestern" fand: "In dem Roman geht es nicht wirklich um Liebe, höchstens in zweiter Linie. Es geht um das, worum es in Eugenides' Büchern immer geht, egal wie unterschiedlich sie erscheinen: Das Drama des Erwachsenwerdens. Hier zeigt sich Eugenides viel geduldiger und näher an seinem Material als in 'Middlesex'. 'The Marriage Plot' ist seinen Mitbewohnern gewidmet, er besitzt die Webart und den Schmerz gelebter Erfahrung."
Mit mäßiger Begeisterung hat William Deresiewicz Jeffery Eugenides' neuen Roman "The Marriage Plot" gelesen, den er immerhin besser als "Middlesex", aber längst nicht so gut wie "Die Selbstmordschwestern" fand: "In dem Roman geht es nicht wirklich um Liebe, höchstens in zweiter Linie. Es geht um das, worum es in Eugenides' Büchern immer geht, egal wie unterschiedlich sie erscheinen: Das Drama des Erwachsenwerdens. Hier zeigt sich Eugenides viel geduldiger und näher an seinem Material als in 'Middlesex'. 'The Marriage Plot' ist seinen Mitbewohnern gewidmet, er besitzt die Webart und den Schmerz gelebter Erfahrung."
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