Magazinrundschau

Wird die Geschichte uns noch einmal gnädig sein?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
31.10.2023. Der New Yorker schickt eine erschütternde Reportage aus dem von der Hamas attackierten Kibbuz Kfar Aza, wo der Gestank des Todes noch immer in der Luft liegt. Desk Russie ahnt nach Putins Reaktionen auf das Massaker, das Netanjahu sich auch hinsichtlich seiner Russlandpolitik verkalkuliert hat. Der Guardian schildert das Leid philippinischer Arbeitsmigrantinnen, die in ihrer Heimat als nationale Heldinnen, im Nahen Osten aber wie Sklavinnen behandelt werden. Und der Merkur liest Edward Said, um Dirk Oschmann zu verstehen.

New Yorker (USA), 28.10.2023

David Remnick sendet eine erschütternde Reportage aus Israel, für die er auch einen der von der Hamas überfallenen Kibbuze besucht hat: "Ein IDF-Presseoffizier hat uns schusssichere Westen und Schutzhelme gegeben. Es hatte schon ein paar Tage keine Schusswechsel mehr gegeben, keine Anzeichen, dass sich noch Hamas-Kämpfer in der Gegend befänden, aber ein Offizier hat uns gewarnt: 'Das hier ist aktives Kampfgebiet.' 1951 gegründet, war Kfar Aza ein wohlhabendes Kibbuz, an das zwei Unternehmen angeschlossen waren, eines, das Färbemittel für Plastik hergestellt hat, ein anderes hat Licht- und Soundsysteme für Veranstaltungen bereitgestellt. Ungefähr 750 Menschen haben dort gelebt, mit Kindergärten, einem Fitnessstudio, einem Schwimmbad, einem Friedhof. Jetzt waren die meisten Häuser von Kugeln durchsetzte Ruinen, eingestürzt, gesprengt, in Brand gesetzt. Früher an jenem Tag waren die letzten Leichen vom Gelände entfernt worden, aber der Gestank des Todes war geblieben. Uns wurde gesagt, dass es so viele Leichen gegeben hat, oft verbrannt oder verstümmelt, dass die jungen IDF-Soldaten ihre Arbeit hier nicht aushalten konnten und die Zaka zur Hilfe gerufen haben, eine Organisation religiöser Freiwilliger, die, mit großer Sorgfalt, Körper, Körperteile und sogar Blut aufgelesen und den Toten eine angemessene Beerdigung nach jüdischem Ritus ermöglicht haben. Ich hatte ein Video gesehen, in dem ein Freiwilliger kaltes Wasser über einen der verbrannten Leichname gegossen hatte. Ich habe gefragt, warum. Um ihn abzukühlen, wurde mir erklärt, damit der Plastiksack, in den die Leiche gelegt wird, nicht schmilzt." Auch mit dem Schriftsteller David Grossman trifft sich Remnick, er macht sich Sorgen, was der 7. Oktober und seine Folgen für das politische Klima Israels bedeuten werden: "Grossman weiß, dass das politische Klima des Landes sich höchstwahrscheinlich von seiner Weltsicht entfremden wird. 'Ich vermute, dass Israel sich mehr und mehr nach rechts richten wird, mehr und mehr religiös wird', führt er aus. 'Die jüdische Identität wird eingeengt auf Selbstverteidigung. Es wird mehr und mehr Unterstützung für die Armee geben, obwohl die Armee versagt hat. Mein Appell an meinen Premierminister ist dieser: Sie haben Israel in Ihren Händen, diese wertvolle Sache. Sie sind verantwortlich für dieses einzigartige Land. Wenn dieses Land scheitert, wird die Geschichte uns noch einmal gnädig sein?'"

Weitere Artikel: Carolyn Korman erzählt von den Folgen des tödlichen Waldbrands in der Stadt Lahaina auf der hawaiianischen Insel Maui. Dorothy Wickenden begleitet Sally Snowman, die letzte offizielle Leuchtturmwärterin in den USA. Michael Schulman liest Bücher über Hollywood und die Macht der Streamingdienste von Peter Biskind und Maureen Ryans.
Archiv: New Yorker

Desk Russie (Frankreich), 28.10.2023

Der usbekische, in der Ukraine lebende, Journalist und Autor Vladislav Davidzon wirft einen genauen Blick auf die Beziehungen zwischen Israel und Russland aus der Sicht der Ukraine: Die Reaktionen Wladimir Putins nach den Hamas-Angriffen waren äußerst zurückhaltend. Erst eineinhalb Wochen nach den Angriffen meldete sich der russische Präsident bei Benjamin Netanjahu per Telefon, eine Verurteilung der terroristischen Attacken kam ihm nicht über die Lippen. Dabei hatte die israelische Regierung jahrelang darauf geachtet, ein gutes Verhältnis mit dem Kreml zu unterhalten. Nun scheinen "die Karten neu gemischt", schreibt Davidzon. Der israelische Ministerpräsident verfolgte aus sicherheitspolitischen Gründen eine strikte "Politik der Nicht-Einmischung", was Russlands Kriege gegen die Ukraine und in Syrien betraf: "Die ursprüngliche Vereinbarung mit Moskau spiegelte den Wunsch des konfliktscheuen Netanjahu wider, die Israelis aus dem Hexenkessel des syrischen Bürgerkriegs herauszuhalten. Die Positionierung der vorrückenden iranischen Streitkräfte und ihrer Stellvertreter in einiger Entfernung von der israelischen Nordgrenze war eine Folge der Vereinbarung, die festlegte, dass die Iraner nicht entlang der Golanhöhen operieren durften, wobei die Russen de facto als Schiedsrichter fungierten, wer das an Israel angrenzende Gebiet kontrollierte." Lang schon wurde von vielen Seiten bezweifelt, ob sich Israel mit seiner Weigerung, die Ukraine gegen die russischen Invasoren zu unterstützen, nicht "auf die falsche Seite des historischen Flächenbrandes" stelle, meint Davidzon. Nun scheint sich immer mehr zu zeigen, dass Netanjahu auf den falschen Verbündeten setzte: "Bei den technischen Meisterleistungen, die offenbar erforderlich waren, um den milliardenschweren israelischen Zaun zu zerstören, musste zwangsläufig Hilfe aus Russland oder dem Iran in Anspruch genommen werden. Wenn die US-Geheimdienste durch aktive Signale im Libanon oder anderswo vorgewarnt wurden, was im Begriff war zu geschehen, scheint es durchaus möglich, dass auch die Russen von ihren iranischen Verbündeten vorgewarnt wurden. Auch in den Vereinten Nationen hat Moskau Israel in den letzten Wochen nicht unterstützt. Nachdem die Israelis letzte Woche die Flughäfen von Damaskus und Aleppo zerstört hatten, erlaubten die Russen iranischen Militärflügen - die wahrscheinlich Nachschub, Waffen und Militärberater transportieren -, ihre Operationen unter Nutzung eines russischen Militärflugplatzes im Norden Syriens fortzusetzen."
Archiv: Desk Russie

Guardian (UK), 30.10.2023

Margaret Simons berichtet über die Leidensgeschichten philippinischer Arbeitsmigrantinnen, die als Hausangestellte im Ausland arbeiten, um ihre Familien zuhause zu ernähren. Ein Großteil migrantischer Hausangestellten weltweit kommt aus den Philippinen, erfahren wir, wo die "nationalen Heldinnen", die fernab der Heimat für die Ihren schuften, Teil der nationalen Ideologie sind: "In seiner jährlichen Ansprache an das Volk brachte der Präsident Ferdinand Marcos Junior - der Sohn des Diktators - das Wirtschaftswachstum des Landes in Zusammenhang mit dem 'steten Rückfluss an Überweisungen' durch Arbeitskräfte im Ausland. Er erkannte an, dass es im Land einen Mangel an Pflegekräften gibt, da viele qualifizierte Leute ins Ausland gehen - unter anderem nach Großbritannien. Er versprach, Trainingsprogramme einzurichten. Aber nachdem er davon sprach, dass er sich wünsche, Arbeit im Ausland sei eine Wahl anstatt eine Notwendigkeit, fügte er an: 'Es ist ein nobler Auftrag, den unsere Überseearbeitskräfte ausführen, er verlangt große Opfer.'" Besonders viele Filipinas arbeiten im Nahen Osten, wo sie oft misshandelt werden und vielfach de facto wie Sklaven behandelt werden. Aber auch in Europa ist ihre Lage oft äußerst schwierig. Im Mittelpunkt des Essays steht Mary, eine Arbeitsmigrantin, die für eine reiche Londoner Familie arbeitet und ihre Leidensgenossinnen als politische Aktivistin unterstützt: "Alle paar Wochen trifft sich eine kleine Gruppe Filipinas irgendwo auf den Straßen Londons. 'Wir gehen immer zusammen', erzählt Mary, 'falls es gefährlich wird'. Sie warten vor einem der Häuser in den reichsten Gegenden der Stadt, wie Hyde Park oder Notting Hill. Sie warten an einer Straßenkreuzung in der Nähe oder vor Geschäften. Sie laufen auf und ab und manchmal tun sie so, als würden sie telefonieren, um nicht aufzufallen. Sie versammeln sich, weil eine Landsfrau sie um Hilfe gerufen hat."

Längst lacht niemand mehr über UnHerd, erläutert Samuel Earle, der ein Porträt des konservativen UnHerd-Gründers und Herausgebers Sir Paul Marshall zeichnet, der nicht nur an die Tories spendet, sondern Ambitionen hat, Großbritanniens größter Medienmogul zu werden. Das politische Onlinemagazin, das einst mit einem Kuh-Logo auf der Startseite angetreten war, hat sich zu einer veritablen Erfolgsgeschichte entwickelt. Ein breites Spektrum an politischen Positionen deckt das Magazin der eigenen Darstellung zufolge ab. Doch obwohl in der Tat auch ein paar linke Stimmen unter den Autoren zu finden sind, ist die ideologische Schlagseite Earle zufolge insgesamt unübersehbar und Teil eines breiteren Trends, dem auch Publikationen wie Spiked und Quillette angehören: "UnHerds Toleranz für divergierende Sichtweisen zu einigen Themen mag ein Alleinstellungsmerkmal sein, aber alle diese Publikationen - man nenne sie ja nicht 'Herde' - bewegen sich auf derselben Weide, ernähren sich von Culture-War-Themen und bewegen den Diskurs in dieselbe Richtung. Sie behaupten, normale Menschen und freie Rede seien in Gefahr durch finstere Machenschaften der Eliten, aber ihr Zorn richtet sich fast ausschließlich gegen Progressive - weder über die wachsenden Profite der Superreichen, noch darüber, wie deren Interessen die Demokratie formen und verformen, haben sie viel zu sagen. Diese Medien ermöglichen einen Blick auf die Zukunft des Konservativismus: eine herrschende Klasse, die verzweifelt versucht, sich neu zu erfinden als Kreuzkrieger des Aufstands, während sie sich weigert, auch nur irgendeine Verantwortung für die Welt zu übernehmen, die sie entscheidend mitgestaltet hat."
Archiv: Guardian

Newlines Magazine (USA), 27.10.2023

Katia Patin berichtet von der unermüdlichen Arbeit von Memorial, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten russischen Organisation für historische Aufklärung und Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, die nach der Schließung durch den Obersten Gerichtshof Moskaus mit immer neuen Widerständen konfrontiert wird: "Weltweit sind etwa 200 Mitglieder und Freiwillige von Memorial tätig, knapp die Hälfte davon in Russland. Da jede russische Zweigstelle unabhängig registriert ist, würde es 25 separate Gerichtsverfahren erfordern, um das Netzwerk innerhalb des Landes vollständig zu schließen. Es gibt Satellitenbüros in der Tschechischen Republik, der Ukraine, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Litauen, Italien, Frankreich, Polen, Israel, Belgien und Schweden. Die Memorial-Außenstellen im Ausland bestanden lange Zeit größtenteils aus einheimischen Historikern, die sich mit der Sowjetzeit befassten, doch jetzt nehmen viele Zweigstellen Mitarbeiter auf, die aus Russland geflohen sind. (…) In Russland nimmt der Druck auf die Mitarbeiter weiter zu. Der Leiter der Memorial-Niederlassung in der sibirischen Stadt Perm wurde im Mai verhaftet, als er versuchte, einen Flug nach Deutschland zu besteigen, und wurde wegen 'Hooliganismus' angeklagt; seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft. Büros in Jekaterinburg und anderen Städten werden von den örtlichen Behörden regelmäßig schikaniert und mit willkürlichen Geldstrafen belegt, so dass einige von ihnen kurz vor der Schließung stehen. Ein prominenter Historiker von Memorial, Juri Dmitriev, verbüßt derzeit eine 15-jährige Haftstrafe in einem Gefängnis, die nach Ansicht von Memorial politisch motiviert ist. Beide Männer sind derzeit in Einrichtungen inhaftiert, die einst Teil des sowjetischen Gulag-Systems waren. In Moskau sind neun Memorial-Mitglieder, darunter Polivanova, Zielscheibe einer laufenden strafrechtlichen Untersuchung geworden. Im Mai klagten die Behörden das Memorial-Vorstandsmitglied Oleg Orlow wegen 'Verunglimpfung' des russischen Militärs an, eine neue Straftat in Russland, die mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden kann."

Kimberly St. Julian-Varnon erzählt die Geschichte von afrikanischen Studierenden und Vertragsarbeitern in der DDR, denen trotz antirassistischer Sowjet-Ideologie immer wieder Rassismus begegnete, wie etwa der Fall mosambikanischer Vertragsarbeiter zeigt: "Nahezu 20.000 Mosambikaner zogen nach Ostdeutschland, um eine technische Ausbildung zu absolvieren und einen Arbeitsplatz zu finden, und zwar unter dem Deckmantel eines Programms, bei dem ein Teil ihres Lohns auf Sparkonten angelegt wurde, die sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat nutzen konnten. Diese Männer und Frauen, die heute als 'madgermanes' (d.h. 'made in Germany') bekannt sind, befanden sich nach der Auflösung der DDR im Jahr 1989 in einer unmöglichen Lage. Statt mit ausreichenden Ersparnissen nach Hause zu gehen, um ihre Familien zu versorgen, hatten sie nichts. Seit den 1990er Jahren bemühen sich diese ehemaligen Vertragsarbeiter um Entschädigung durch die deutsche und die mosambikanische Regierung. Sie wurden stets abgewimmelt. Ihnen wurde gesagt, dass der ostdeutsche Staat die Gelder nach Mosambik gezahlt hat, und die mosambikanische Regierung schiebt die Schuld immer noch auf Deutschland. Letztlich sind diese Männer und Frauen sich selbst überlassen, wurden wegen ihrer Zeit in Ostdeutschland oft sozial geächtet und leben in wirtschaftlicher Unsicherheit, weil sie beraubt wurden. An jedem beliebigen Mittwochnachmittag kann man in Maputo, Mosambik, die öffentlichen Proteste der Madgermanes beobachten, die sich dagegen wehren, dass die mosambikanische und die deutsche Regierung ihre Versprechen an sie vergessen. Das tägliche Leben der Vertragsarbeiter unterschied sich von dem der Studenten. Im Gegensatz zu afrikanischen Studenten lebten die Vertragsarbeiter isoliert von ihren deutschen Kommilitonen, oft in kleinen Städten außerhalb von Metropolen wie Ost-Berlin und Dresden. Viele Arbeiter hatten nur wenig Kontakt zu Deutschen. Der Kontakt fand meist am Arbeitsplatz oder in sozialen Einrichtungen wie Clubs oder Kinos nach Feierabend statt. Die Leiharbeiter waren in Wohnheimen und Pensionen untergebracht, die oft keinen Besuch zuließen, insbesondere nicht von ostdeutschen Frauen."

Weitere Artikel: Michael Kranz schreibt über die jüngste Ausgrabung eines Massengrabs im heute westukrainischen Puzniki, in dem dutzende mutmaßlich polnische Zivilisten gefunden wurden, die während des Massakers in Wolhynien ermordet wurden.

Merkur (Deutschland), 31.10.2023

Jüngste Publikationen über die DDR von Katja Hoyer oder Dirk Oschmann kritisieren den westdeutschen Diskurs gegenüber Ostdeutschland: Die immer wieder gleichen, negativen Zuschreibungen würden ein verfälschtes und stereotypes Bild geben. Die Historikerin Claudia Gatzka erinnert das stark an Edward Saids "Orientalismus"-Theorie. Der Westen erschuf, Said zufolge, den "Orient" als Gegenteil des "Okzidents", nämlich als minderwertig und verbesserungswürdig, und konstruierte anhand dieses Bildes einen kolonialen Machtanspruch. Oschmann teile mit Said "die überspitzte, zum Zweck der Veranschaulichung selbst nicht vor Essentialisierungen zurückschreckende Kritik an einem Diskurs, der Machtungleichheit zu begründen scheint, indem er Himmelsrichtungen zu Bedeutungsträgern eines binären Unterschieds stilisiert." Laut Gatzka müsse man die beschriebenen Phänomene aber vielmehr als "produktive Faktoren einer historisch gewachsenen, imaginären Geografie" begreifen, um sie "vom Ruch des Nationalkitsches" zu befreien. Geht man vom Phänomen eines "innerdeutschen Orientalismus" aus, muss man zunächst dessen Spezifika beachten, so Gatzka: "Der orientalisierte Raum kann entweder als gänzlich geschichtslos und damit als statisch imaginiert werden ('Afrika') oder als in jüngeren Epochen degeneriert ('der Orient', womit der arabisch-muslimische Raum an den altorientalischen Hochkulturen gemessen wird). Innereuropäische, aber auch globale Orientalismen der Gegenwart markieren den orientalisierten Raum meist als zurückgeblieben, in Traditionen oder Gewalthaftigkeit verhaftet, also in der Entwicklung zur 'Moderne' hinterherhinkend ('der Süden'). Der innerdeutsche Orientalismus hingegen ist eine an sich verzeitlichte Denkweise, im Grunde eine Antiquiertheit. Die Konstruktion des 'Ostens' kommt einer Zeitreise in die jüngere Zeitgeschichte, in die Jugendzeit der eigenen Eltern gleich...Der innerdeutsche Orientalismus ist eine Verweigerungshaltung, den betrachteten Raum wie auch den Raum, aus dem heraus betrachtet wird, mit der gesamtdeutschen Gegenwart zu synchronisieren; er ist eine spezifische Art, die Brille des Kalten Kriegs aufzusetzen und aufzubehalten..." Gatzka plädiert dafür, vermehrt Geschichten "wider 'den Osten'" zu erzählen. Dazu müsste man "Forschungen stärker popularisieren, die Lebensformen, Ordnungsvorstellungen und Kommunikationen über den Eisernen Vorhang hinweg untersuchen und nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR in globale Zusammenhänge einbetten."
Archiv: Merkur

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.10.2023

Der Schriftsteller György Odze beklagt latenten Antisemitismus in Ungarn im Rahmen der Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten: "Ich bin also ein säkularer Jude, freilich auch voreingenommen. Ich praktiziere keine Religion, die Feiertage habe ich ungefähr im Kopf und betrachte mich im Wesentlichen als Ungar. Meine Großeltern hätten gewollt, dass ich 'zur Sicherheit ein jüdisches Mädchen heirate', aber zu Hause, in unserem Haus, war Diskriminierung oder Ausgrenzung von welchen Seiten auch immer nie ein Thema. Doch in Zeiten von 'Konflikten', wenn ich das Gefühl habe, dass es ein Gefühl der Antipathie gegenüber Juden gibt, und öfter 'einerseits - andererseits' höre und 'lasst uns die andere Seite des Problems auch betrachten', ganz zu schweigen von dem abfälligen 'sie sind auch keine Engel', in solchen Zeiten also denke ich, dass es einen versteckten Gedanken gibt, dass es nicht sein darf, dass die Juden mal wieder von der Sache profitieren. Nun, sie profitieren davon nicht."

HVG (Ungarn), 26.10.2023

Der Publizist Imre Para-Kovács blickt auf die Absurditäten der politischen Kommunikation in Ungarn seitens der Regierung: "Polen ist, wenn auch nur um Haaresbreite, auf den Weg der Normalität zurückgekehrt, aber die Slowakei wird sicherlich ein verlässlicher Partner sein, wenn es darum geht, russische Interessen innerhalb der Europäischen Union zu wahren, während der neue Feind, mit aller notwendigen Rhetorik die NGOs sind, die eine Bedrohung für unsere Souveränität darstellen, auf die, wenn man die Kommunikationsstrategie kennt, bald die störende und fremdenfreundliche westliche Kultur und ihre Vertreter, die kritischen Popmusiker und Balletttänzer folgen werden. Liberalismus ist Verrat, Aufklärung ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, Demokratie ist zerstörerische Anarchie. Wie absurd, lächerlich und beängstigend das alles ist, wird schon aus wenigen Kilometern Entfernung deutlich. Man braucht nur die Grenze zu überqueren und das psychotische politische Klima in Ungarn entspannt sich, die Muster werden sichtbar, wenn die erstickende Dummheit nachlässt, die Logik wieder zu funktionieren beginnt und die Nacktheit des Königs nicht mehr zur Debatte steht."
Archiv: HVG

Hakai (Kanada), 24.10.2023

In Texas werden, unterstützt von vielen Förder-Millionen, Projekte getestet, bei denen CO2 an entsprechenden Industriequellen abgefangen, mittels chemischer Prozesse verflüssigt und schließlich tief unter dem Meeresboden eingelagert werden soll. Was bei oberflächlicher Betrachtung nach einer guten Klimaschutzmaßnahme klingt, lässt bei Wissenschaftlern und Umweltschützern die Alarmglocken klingeln, berichtet Amal Ahmed: "Lecks sind eine große Sorge. Eine Studie lässt Zweifel an der Langlebigkeit dieser Technologie entstehen: Italienische Forscher schätzen darin, dass 25 zusätzliche Gigatonnen C02 bis zum Jahr 2100 in die Atmosphäre gelangen, wenn die Einlagerungen auch nur 0,1 Prozent pro Jahr lecken - nach wissenschaftlichen Beobachtungen ein wahrscheinliches Szenario. Wissenschaftler, Umweltschützer und Gemeinden an Ort und Stelle sorgen sich weiterhin, dass die Leitungen mit dem unter Hochdruck stehenden Karbondioxid beim Transport in die Einlagerungshöhlen explodieren könnten - eine Gefahr für die Siedlungen in der Nähe: Als vor drei Jahren eine CO2-Leitung in Satartia, Mississippi, aufgebrochen war, mussten Dutzende Menschen ins Krankenhaus gebracht und Hunderte evakuiert werden. Erschwerend kam hinzu, dass die Rettungswägen der Sanitärer durch die hohe Konzentration von Karbondioxid in der Luft nicht richtig funktionierten. ... Unausweichlich werden die bislang angekündigten Fragen aufwerfen, ob sie die Öl- und Gasindustrie nicht auf Jahre stützen würden anstatt den Versuch zu beschleunigen, aus fossilen Treibstoffen auszusteigen. Angesichts anhaltender Zweifel an der Effizienz dieser Technologie und des Potential von Lecks, fragen sich Kritiker, ob die staatlichen Anreize nicht eher schaden als nützen. 'Was wir hier beobachten, ist ein enormer, von der Industrie lancierter Vorstoß, CO2-Einfangtechnologien als Rettungsanker zu bewerben', sagt Nikki Reisch, Direktorin des Klima- und Energieprogramm des Zentrums für Internationales Umweltrechts. '"Für sie ist das eine 'Du kommst aus dem Gefängnis frei'-Karte. Die Auffassung, dass wir mit fossilen Treibstoffen einfach so weiter machen könnten wie bisher, wird damit gefestigt.'"
Archiv: Hakai