Magazinrundschau - Archiv

Merkur

224 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 23

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - Merkur

"Iran. War da was?", fragt die Literaturprofessorin Nacim Ghanbari ironisch. Während sich die Medien kaum noch für die iranischen Frauenproteste interessieren, schaffen einzelne Journalistinnen und Aktivistinnen weltweit neue Plattformen und Netzwerke, um die Revolution zu unterstützen. Teil dieser Initiativen ist die Ringvorlesung "Frau, Leben, Freiheit - emanzipatorische Potenziale" an der Universität Köln, so Ghanbari. Mit seinem Vortrag über die Unterdrückung der religiösen Minderheit der Bahai machte ihr insbesondere Armin Eshragi das Ausmaß der Repressionen gegen politische Gegner im Iran noch einmal eindrucksvoll klar: "Die Bahai wurden auch schon unter der Pahlavi-Dynastie diskriminiert - so durften sie etwa keine öffentlichen Ämter bekleiden -, und doch ist es erst eine Fatwa Ali Khameneis, die diese als 'rituell unrein' (nadjes) bestimmt. Damit gehen Formen des Ausschlusses einher, die selbst Iranerinnen und Iranern, wie dem ungläubigen Raunen im Publikum zu entnehmen war, vielfach nicht bekannt sind. Von der Geburt bis über den Tod hinaus sind Bahai in Iran Rechtlosigkeit und Diffamierung ausgesetzt: Es gibt keine rechtliche Grundlage für Eheschließungen von Bahai. Personalausweise und Reisepässe werden nur unter erschwerten Bedingungen ausgestellt. Bahai dürfen nicht studieren. Es gibt zahlreiche Arbeits- und Berufsverbote. Das Regime reagiert selbst auf die Bestattung ihrer Toten mit Gewalt. In den Augen der Islamischen Republik stören die Bahai als 'religiöse Andere' die Einheit aller Muslime, die Umma. … Es steht zu befürchten, dass die Islamische Republik die im Umgang mit den Bahai erprobten Repressionsmaßnahmen auf die iranische Bevölkerung insgesamt ausweitet. So zeigt sich, dass das Regime als Reaktion auf die Weigerung der Iranerinnen, in der Öffentlichkeit den Hijab zu tragen, in der Tat auf Maßnahmen sozialer Isolierung setzt, wenn etwa Bankkonten protestierender Frauen gesperrt und ihre Reisepässe eingezogen oder Studentinnen exmatrikuliert werden. Die nackte Gewalt auf der Straße, die Jina Mahsa Amini zu spüren bekam, soll durch Maßnahmen ergänzt, teilweise ersetzt werden, die Schritt für Schritt in den sozialen Tod führen."

Magazinrundschau vom 08.08.2023 - Merkur

Seit den Neunzigern ist "die Demokratie" immer stärker in Gefahr - zumindest nach Ansicht derjenigen, die ihre Vorstellungen von Demokratie durch die Vorstellungen politischer Gegner in Zweifel gezogen oder wie im Falle von Verfassungsänderungen unter Beschuss sehen, beobachtet der Politologe Philip Manow. Zu fragen wäre seiner Meinung nach allerdings: Welche Auffassung von Demokratie liegt welchen Kampagnen zum Schutz derselben zugrunde? Seit geraumer Zeit zeichne sich ein Demokratieverständnis der Einhegung ab, so Manow, mit dem "ein Milieu seine Macht zu arrondieren versucht - ein Milieu, dessen weiterhin vorherrschende Kontrolle über die Deutung des Geschehens mit seiner abnehmenden Kontrolle über dessen Dynamik einhergeht. Seine Kategorien herrschen noch, aber sie tragen immer weniger zur Beherrschung der Lage bei. .... Zu erkunden wäre, was sich längerfristig (und nicht nur im üblichen demokratischen Wechsel zwischen einer Regierung und einer Opposition) verschoben hat. Recht besehen müsste es also darum gehen, eine Politische Ökonomie der liberalen Demokratie zu entwickeln, die sich in gewisser Weise als notwendiges Komplement zu einer Politischen Ökonomie des Populismus versteht. Das würde auf die richtige und wichtige Anregung reagieren, sich doch nicht nur andauernd mit den neuen, echten oder eingebildeten, Verlierern zu beschäftigen, sondern auch einmal mit den Gewinnern, also den neuen, überaus sendungsbewussten Mittelklassen, mit deren politischem Projekt, aus dem heraus die neuen Zeitdiagnosen von den Selbstgefährdungen der elektoralen Demokratie überhaupt erst verstanden werden können. Es scheint aussichtsreicher und ergiebiger, sich mit den Prozessen gegenwärtiger politischer Normensetzung, Normierung, Normalitätsdefinition, mit den Normalitätsdefinierern zu befassen, mit den politischen Prämien auf den Besitz der Kategorisierungsmacht - aussichtsreicher jedenfalls als mit denen, die durch sie als Abweichler konstituiert werden. Denn die obsessive Beschäftigung mit Letzteren, die die Sozialwissenschaften seit nun fast zwanzig Jahren praktizieren, hat ja doch immer nur die vorherrschenden Abgrenzungen nachvollzogen und damit zertifiziert."

Außerdem wirft die Mathematikerin Paola Lopez einen ernüchternden Blick unter die Motorhaube von ChatGPT: Die KI kann zwar einiges, aber im Grunde nicht viel - und um dies zu leisten, braucht es nicht nur gigantisch viel Energie, sondern auch ein ganzes Heer unterbezahlter Leute in Shitjobs, die ChatGPT davon abbringen sollen, beleidigende oder gar traumatisierende Texte zu liefern.

Magazinrundschau vom 04.07.2023 - Merkur

Ein bisschen umständlich, aber nicht uninteressant führt der Soziologe Uwe Schimank die Konflikte in der Ampelregierung nicht auf das viel unterstellte Parteiengezänk zurück, sondern auf die grundsätzlichen Probleme gesellschaftlicher Integration, die von den drei Parteien - ökologisch, sozial, systemisch - geradezu idealtypisch verkörpert werden und die sich auf zwei verschiedene Aushandlungsprozesse zurückführen lassen. Der erste Typus liege vor, schreibt Schimank, wenn das Ökologische das Soziale zu stark strapaziert: "Wenn Fleisch für fleischgewohnte Menschen immer teurer und kaum noch mehrfach pro Woche erschwinglich wird und naturzerstörende Bettenburgen des Massentourismus nicht mehr gebaut werden dürfen, kann das spätestens in der Summierung leicht zu einer Delegitimierung ökologischer Integrationsmaßnahmen bei breiteren Bevölkerungsgruppen führen. Wie kann man sie dann noch 'mitnehmen', also verhindern, dass sie an der Wahlurne, und nicht nur dort, Denkzettel verteilen? Das gilt insbesondere dann, wenn unübersehbar wird, dass begütertere Gruppen sich all das weiterhin leisten können. Solche neuerlich aufreißenden Ungleichheiten führen schnell zu Verbitterung, Neid und letzten Endes Wut. Nicht nur in Deutschland dürfte ein zentraler Stein des Anstoßes sehr bald die Einschränkung des Autoverkehrs durch Fahrverbote und rasant steigende Energiepreise sein. Der zweite Typus von Trade-off besteht darin, dass ökologische Erfordernisse in systemintegrativer Hinsicht immer wieder mit Funktionserfordernissen der wirtschaftlichen Leistungsproduktion kollidieren. Kann sich Deutschland beispielsweise einen Niedergang der Autoindustrie infolge eines zu späten Umstiegs auf nichtfossile Antriebsenergie und eines baldigen politischen Verbots von Verbrennungsmotoren leisten?"
Anzeige

Magazinrundschau vom 09.05.2023 - Merkur

Die sogenannte Hufeisentheorie, derzufolge jemand so weit links steht, dass er schon wieder rechts ist, hilft nicht weiter, meint Thorsten Holzhauser, um Sarah Wagenknechts Agieren zu erklären. Vielmehr rekurriere Wagenknecht auf einen linkskonservativen Populismus, der seine minoritäre Systemkritik aus dem größeren Reservoir nationalistischer Positionen verstärken möchte. Das Rezept hat sie von Gregor Gysi und André Brie, die schon Anfang der neunziger Jahre in der PDS eine moderne Linke mit den Verlierern der Einheit koppeln wollten. Es gelang nur halb: "Danach blieb offen, wovon sich die linke, emanzipatorische Definition des Volkes von einer rechten, konservativen bis nationalistischen unterscheiden sollte. Die von der PDS-Spitze geteilte Behauptung, die Welle rechter Gewalt in Teilen Ostdeutschlands sei allein eine Folge der 'Anschlusspolitik' und den 'Herrschenden im Westen' anzulasten, fiel den vielen Aktiven vor Ort in den Rücken, die sich gegen rechte Gewaltstrukturen und für ein liberaleres politisches Klima einsetzten. Stattdessen entlastete sie die ostdeutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich weiter als verantwortungsloses Opfer sehen konnte. Es zeigte sich bald: Die PDS konnte sich noch so sehr zu progressiven Werten bekennen - ihr strategischer Populismus blieb trotzdem in einigen Politikbereichen anschlussfähig nach Rechtsaußen, weil sich der Protest ähnlicher Formen und Schlagwörter bediente. Das galt nicht zuletzt in der Frage von Krieg und Frieden, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in neuen Dimensionen auf die Agenda trat. Offiziell lehnte die Partei Gysis und Wagenknechts den Golfkonflikt 1991 und den Kosovokrieg 1999 als westliche Aggressionen ab und berief sich auf Multilateralismus und Völkerrecht. Eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politikern bediente sich aber offen rechter Codes, sprach von 'Bombenterror' und 'Bombenmördern' und stellte die NATO-Operationen in einen Zusammenhang mit der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Während der grüne Außenminister Joschka Fischer den NATO-Angriff auf Jugoslawien mit dem antifaschistischen 'Nie wieder Auschwitz' begründete, da nur so die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beendet werden könnten, reiste Gregor Gysi nach Belgrad, um mit dem nationalistischen Staatschef Slobodan Milošević Friedensgespräche aufzunehmen. "

Magazinrundschau vom 07.03.2023 - Merkur

Kann man Giorgia Meloni als Rechtsextremistin klassifizieren, wenn sie, zumal als italienische Ministerpräsidentin, nicht grundsätzlich in aggressiver Opposition zum demokratischen Staat steht? Die Historikerin Claudia Gatzka plädiert dafür, statt mit dem Vokabular von Extremismus, Radikalismus oder Populismus auf den ideologischen Kern der europäischen Rechten zu rekurrieren, um ihren Aufstieg zu begreifen: Den Nationalismus. "Nationalismus trat häufig als Befreiungsnationalismus auf, der sich gegen ein Imperium oder gegen ein Besatzungsregime richtete und sämtliche politischen Strömungen erfassen konnte - zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen das Napoleonische Empire, aber auch in den 1940er Jahren gegen das kriegerisch expandierende 'Dritte Reich'. Dieser Nationalismus drängt auf nationale Einheit und nationale Autonomie. Nationalisierung meint hier die Schaffung oder Wiederherstellung und die Integration des eigenen Nationalstaats. Der programmatische Nationalismus hingegen, mit dem sich die Zeitgeschichte primär zu befassen hat, drängt auf eine Nationalisierung auf Basis des Nationalstaates beziehungsweise auf eine Abwehr von Denationalisierungsprozessen etwa in Phasen der Globalisierung. Er gründet auf der Vorstellung einer bedrohten Einheit und Autonomie der Nation, wie sie um 1900 im Kontext der ersten kapitalistischen Globalisierung entstand, die durch massenhafte Migrationsbewegungen und hohe grenzüberschreitende Arbeitsmobilität gekennzeichnet war. Nationalisten, die sich nun politisch zu organisieren begannen, nachdem sie vorher im liberalen und konservativen Lager integriert gewesen waren, schrieben sich die Rettung und die Stärkung der Nation auf die Fahnen, samt ihrer Sprache. Deshalb sagten sie im Deutschen eher 'Volk' statt 'Nation' und nannten sich bis 1945 'völkisch' statt 'nationalistisch', auch um der schlechten Presse zu entgehen. In dieser Tradition standen die Faschisten und die Nazis nach 1918, und in dieser Tradition stehen Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel heute, ganz gleich ob sie ihren Nationalismus internalisiert oder zu Machtzwecken angeeignet haben."

Außerdem hält Georg Vobruba einige Grundsätze zum Verschwöärungsdenken fest.

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - Merkur

Ekkehard Knörer rekapituliert mit vielen Verweisen auf die üppige Literatur, was bisher in der großen Twitter-Saga geschah - und wie Elon Musk den Exodus zur Open-Source-Alternative Mastodon befördert hat: "Man hat noch einen Koffer bei Twitter, es gibt, sogleich heftig umstritten, einigen Crosspost-Verkehr zwischen Mastodon und der birdsite. Andere begannen dennoch rasch, ihre soziale Welt von Twitter auf Mastodon zu rekonstruieren, rasch programmierte Wiederfinde-Software war behilflich dabei. So problematisch die Metapher von Flucht, Exil, Neuanfang ist: Dass viele sie verwendeten, zeigt symptomatisch, wie sehr manche ihr soziales Netzwerk als eine Form von Heimat begreifen. Die neue Heimat, bisher in einer vergleichsweise sehr windstillen Nische, zeigte sich von den Neuen, ihren Sitten, ihren Ansprüchen, dem oft etwas rüden Twitter-Spirit keineswegs nur begeistert. So sorgte die Eröffnung einer Instanz eigens für Journalisten durch den renommierten US-Journalisten Adam Davidson (journa.host) sogleich für Debatten, der Server wurde von ein paar Instanzen als Unruhestifter schnell deföderiert. Für manche der bisherigen Benutzerinnen und Benutzer waren die Veränderungen durch die Neuen ein Kulturschock, für die alten Hasen die Wiederkehr des 'Eternal September', des Moments also, in dem die Internet-Provider 1993 die Schleusen zum bis dahin vor allem von Nerds genutzten Usenet öffneten."

Außerdem verteidigt Martin Hartmann die feministische Philophie gegen Kritik, die ihr wahlweise zu viel Praxisnähe oder abstrakte Abgehobenheit vorwirft: "Die feministische Philosophie gehört zu den spannendsten und innovativsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie."
Stichwörter: Musk, Elon

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - Merkur

Felix Ackermann reist an die polnisch-litauische Grenze, zur berühmten Lücke von Suwałki, jenem Korridor, der die russische Enklave Kaliningrad mit Belarus verbindet. Gegen die vielen Gedächtnislücken, die mit dieser Region verbunden sind, helfen die KünstlerInnen vor Ort auf die Sprünge: "In Sejny hatten (der Theatermacher) Krzysztof Czyżewski und seine Frau Małgorzata schon in den 1990er Jahren die Weiße Synagoge zu einem wichtigen regionalen Kulturzentrum für Litauer, Polen und Nachfahren der Überlebenden der Shoah gemacht. Im Pogranicze-Verlag erschien die polnische Übersetzung von Grigori Kanowitschs Roman über die Stadt Jonava, in deren Ortsteil Rukla heute die Bundeswehr in Litauen stationiert ist. Timothy Snyder, der mit seinem Buch 'Bloodlands' 2010 der blutgetränkten Zone der Vernichtung zwischen Sowjetunion und Deutschem Reich einen Namen gegeben hatte, kam in den vergangenen Jahren stets im August mit der Historikerin Marci Shore und ihren amerikanischen Studierenden aus Yale nach Krasnogruda, um gemeinsam mit Studierenden aus der Ukraine Texte zu diskutieren. Dieses Mal sind viele der Teilnehmer an der Front, um mit der Waffe für den Fortbestand der Ukraine zu kämpfen. Czyżewski hält die Lücke von Suwałki als Metapher für eine militärische Bedrohung der Region für unpassend: 'Die sowjetischen Panzer, die in Kaliningrad und in Belarus stationiert sind, bieten keinen Anlass zur Sorge. Selbst Finnland und Schweden verfügen über weitaus effizientere Waffensysteme, deren Reichweite bis hierher geht. Und sie sind bald Teil der NATO', erklärt er in Krasnogruda. So sei es entscheidend für einen Sieg gegen Putin, sich auf die eigenen Werte zu besinnen und für diese konsequent einzustehen. Er fügt hinzu: 'Viele Menschen im Westen Europas können sich dank des langen Friedens nach 1945 nicht mehr vorstellen, dass das absolute Böse wirklich existiert.' Deshalb unterstützte er im Sommer 2022 auch die öffentliche Spendenaktion zum Kauf einer türkischen Kampfdrohne vom Typ Bayraktar, zu der der polnische Publizist Sławomir Sierakowski aufgerufen hatte. Gemeinsam mit der kulturellen Elite Polens und über zweihunderttausend Spendern gelang es ihnen, innerhalb von vier Wochen über 4,5 Millionen Euro zu sammeln."

Außerdem: Till Breyer diskutiert verschiedene Formen des Asylrechts als individuelles Recht und in der historischen Version des territorialen Recht etwas beim Kirchenasyl.

Magazinrundschau vom 06.12.2022 - Merkur

Der Begriff der Werte stehen wieder hoch im Kurs, in der Kunst und in der Politik. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers erhebt dagegen Einspruch. Werte - Frieden, Freiheit, Sicherheit, Geschlechtergerechtigkeit, Solidarität - verbinden seiner Ansicht nach hohen moralischen Anspruch mit maximaler Folgenlosigkeit und Vagheit: "Außerhalb der formalisierten Welt des Verfassungsrechts, namentlich in der Politik, erscheinen Werte als adressatenlose Kategorien. Mit der Anrufung eines Rechts wird immer auch der Adressat einer Pflicht fixiert. Mit der Anrufung eines Wertes ist weder etwas dazu gesagt, wer ihn verwirklichen soll, noch dazu, was geschieht, wenn man ihn ignoriert. Die Rede über Werte wird unscharf, wenn es an Konsequenzen geht. Kann man gegen einen Wert 'verstoßen'? Und muss man für ihn eintreten oder ihn gar durchsetzen? Zu dieser Unschärfe gehört auch der nahtlose Übergang vom Sein zum Sollen: 'Sind unsere demokratischen Werte in Gefahr?' wird in der Diskussionsrunde einer bürgerlichen Wochenzeitung gefragt. Gegenfragen: Warum sollten demokratische Werte in Gefahr sein, nur weil die Demokratie in Gefahr ist? Oder gibt es gar keinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischen Werten? Und wenn nicht, warum formuliert man es dann so?" Besonders vage wird es Möllers zufolge in der neuen "wertegebundenen Außenpolitik": Zum Ersten sind die zu verteidigenden Werte eben deswegen Werte, weil sie die 'Unseren' sind. Sie entstehen durch nackten Verweis auf die eigene politische Gemeinschaft. Zum Zweiten folgt diese Umstellung aus einem Primat der Sicherheit, keiner moralischen, sondern einer genuin politischen Kategorie. Die Umsteuerung der deutschen Außenpolitik ist nicht der Einsicht in den normativen Mangel geschuldet, sich mit Diktaturen einzulassen, sondern der praktischen Erkenntnis, dass dies politisch gefährlich sein kann. Völlig konsequent bestreitet die Bundesaußenministerin daher die Unterscheidbarkeit von Werten und Interessen, die sich beide, so ausdrücklich formuliert, als Koalition von Amnesty International und BDI gemeinsam verwirklichen lassen."

Magazinrundschau vom 08.11.2022 - Merkur

Die Besserwisserei der Querdenker, die sich mit ihrer permanenten Kritik an wissenschaftlicher Basis zu kritischen Geistern stilisieren, erinnert Historiker Benedikt Sepp in gewisser Weise an die Pose der Kritik, die auch schon bei den Achtundsechzigern zu einer permanenten  Radikalisierung geführt hatte: "Die prinzipielle Haltlosigkeit der antiautoritären Kritik - Haltlosigkeit im Sinne des Fehlens eines inhaltlichen Fixpunkts - und die zunehmende Abschottung von der Umwelt führten jedoch nicht nur zu einer inhaltlichen Radikalisierung, sondern tendenziell auch zu einem Verständnis von Politik, das sich stark mit dem Selbstverständnis der eigenen Person verwob: Wo geglückte Kompromisse mit der politischen Umwelt als Gefährdung der eigenen Radikalität gesehen werden konnten, bemaß sich der Erfolg von Aktionen, Demonstrationen und Diskussionen nicht mehr unbedingt an ihrer Wirkung auf möglichst viele Außenstehende, sondern am Verfestigen der fundamentaloppositionellen Haltung bei den schon Überzeugten. Auseinandersetzungen mit der Polizei etwa sollten auch dazu dienen, die 'autoritäre Struktur des bürgerlichen Charakters in uns tendenziell zu zerstören [und] Momente der Ich-Stärke, der Überzeugung zu schaffen', so Rudi Dutschke. Als eigentliche Grundlage radikaler Opposition wurden damit die eigene widerständige Existenz und Identität verstanden - und diese mussten damit immer wieder durch immer extremere oppositionelle Akte bestätigt werden."

Außerdem: Nils Güttler rümpft die Nase über Historiker wie Yuval Harari oder David Christian, die trotz eisener Nichtbeachtung durch Wissenschaft und gehobene Buchkritik ihre Big-History-Bücher in Weltbestseller verwandelten, meist über Ted-Talks.

Magazinrundschau vom 11.10.2022 - Merkur

Cristina Nord bilanziert die Film- und Videoarbeiten auf der Documenta fifteen und muss zugeben, dass sie nicht besondern glücklich wird mit all den eindimensionalen Agitprop- und Folklorefilmen. Ästhetischen Mehrwert erlebt sie selten, am Ende steigt bei ihr der unbehagliche Gedanken auf, dass die Kunstschau unter Okwui Enwezor vor zwanzig Jahren schon weiter war als jetzt unter Ruangrupa. Dass ihr Beharren auf Komplexität westlicher Arroganz entspringt, glaubt sie eigenlich nicht. Der Beweis: "Im hintersten Raum der documenta-Halle verebben meine Zweifel für die Länge eines Spielfilms. Das Kollektiv Wakaliga Uganda zeigt hier neben vielen Filmplakaten und Requisiten einen ihrer No-Budget-Filme, Football Kommando. Mit einem deutschen Fußballstar, seiner ugandischen Frau und ihrem Sohn, der verschwindet, was eine action- und trickreiche Ermittlung nach sich zieht. Hier wird das eigentlich teure Medium Film zu einem fröhlichen DIY-Spektakel, fast für umsonst, pointen- und einfallsreich, wagemutig in den Appropriationen (Kung Fu ist in den meisten Actionszenen das Mittel der Wahl) und Mehrdeutigkeiten (der deutsche Fußballer heißt Ruminiger). Hier gibt es kein Othering, keine Selbstexotisierung und schon gar keinen Miserabilismus. Versprochen wird nicht viel, außer vielleicht ein Beschäftigungsprogramm für die Bewohnerinnen und Bewohner des Wakaliga-Slums in Kampala, die sich von den Kollektiv-Mitgliedern zu Kostüm- oder Maskenbildnern ausbilden lassen können. Und vielleicht, dass Quatsch seine ganz eigenen Utopien generiert, indem er die Notwendigkeit von Sinnproduktion übermütig infrage stellt."